Romane und Erzählungen |
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‚Ich lebe schon lange heute‘
Texte 1973 bis 2013
Erscheint Oktober 2013
Zytglogge
ISBN 978-3-7296-0870-2
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Einmal im Jahr hast du Todestag, es ängstigt dich nicht und du zündest keine Kerze an das Datum deines Weltuntergangs bleibt dir unbekannt.
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Kritiken:
"Der Bund"
vom 7. November 2013
"Berner Zeitung"
vom 31. 10. 2013
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11. Falsche Bewegung
Ingrid drehte das Radio etwas lauter um den Abba-Neustart voll mitzubekommen. Zwei, drei Takte, schon begann sie mit dem Fuss zu wippen, When You Really Loved Someone, ja, das waren noch Zeiten.
Als Piet mit dem Ellbogen die Tür aufklinkte, fiel Licht in die Diele, Ingrid schnellte herum im ersten Moment glaubte sie, ihr Verflossener stehe in Uniform im Gegenlicht, grazil und hochaufgeschossen wie einst. Dann kickte Piet die Tür zu: „Hoi, Mamms.“ Sie klickte das Radio aus, „Hoi, und Gruss von Heinz, das Bruderherz hat Training.“ Als Piet das Beret vom Kopf zog, fiel sein Haar in drei breiten Strähnen in die Stirn: Gespuckt sein Vater, Ingrid hätte nur fragen müssen „Hast du den Umweg zur anderen schon gemacht?“, und alles wäre gewesen wie früher. Sie stand auf, um Piet zu umarmen, sie wagte zwei, drei Schritte zur Probe. Er liess den Militärsack zu Boden plumpsen, löste die Koppel und fragte: „Bist du an der Reihe mit Waschen, oder soll ich unten auf der Liste nachsehen?“
Das mochte Ingrid nicht: Wenn Piet sie angriff. Nicht offen. Natürlich nicht, sein Vater war überhaupt erst vor dem Richter mit Vorwürfen herausgerückt, aber wann sie an der Reihe war mit Waschen und wann nicht, das wusste Ingrid sicher: Heute nicht. „Die Müller wäre an der Reihe, aber weil du nur kurzen Urlaub hast …“, sie brach ab, weil Piet sie nicht zuliebe anblickte, seine zwei Augen hatten sich getrennt: Mit dem rechten sah er ihr kleines Bier auf dem Tisch, mit dem linken die Wand, wo drei dick gespachtelte Sonnenuntergänge von Koni hingen. „Ich weiss, ich weiss“, sagte Ingrid heftig, „aber auch ich habe ein Recht auf Liebe, ich bin kaum vierzig. Dass einer Mist malt, ist weiss Gott nicht das Schlimmste, oder?“ Piet steckte das Sturmgewehr in den Schirmständer, nahm den Militärsack wieder hoch und fragte, ob er bei der Müller läuten solle, um ... „Alles paletti“, sagte Ingrid schnell, „sie lässt uns rein bis um sechs.“ Piet war schon durch die Tür. „Hast du Zwanziger für den Automaten?“, rief ihm Ingrid hinterher. Keine Antwort aber dauernd Recht haben wie sein Vater. „So macht doch, was ihr wollt.“ Sie wollte zurück zum Tisch, aber die Parkettwürfel verzitterten zu kleinen Wirbeln, Ingrid presste beide Handballen gegen die Augen: Da kann ich Piet alles zuliebe tun, er wird sich nur an meine Fehler erinnern. Gespuckt der Alte. Oder sehe ich zu schwarz und er zieht nicht aus?
Koni hatte jetzt einen eigenen Serviettenring, das war das Einzige, was sich geändert hatte. Piet griff sich ein Stück Brot und brockte es in die Suppe, er wusste: Koni passte das nicht. Das Bruderherz wusste es auch, Heinz äugte kurz zu Piet und steckte die i Pod Stöpsel ins Ohr auch eine Lösung. Alle löffelten stumm. Erstaunlich war: Koni rülpste nicht zwischendurch, er lehnte sich zurück und spielte Klavier auf dem Tischtuch. Aha, die Brocken störten den Herrn.
„Piet, gehst du zu Blanche über Nacht?“, fragte Ingrid devot. Er löffelte weiter. „Oder kommt sie endlich einmal zu uns?“ Einen Moment hielt Piet den Atem an: Was war da am Laufen? Drehte sie jetzt endgültig durch? Abwarten und schweigen. Er löffelte ruhig weiter. „Hast du mich gehört?“, fragte Ingrid laut. Als Piet aufschaute sah er, wie sein Bruderherz aufschreckte und den einen Stöpsel herausnahm: „Wegen der Wohnung?“, fragte Heinz. Ingrid fuhr hochgestimmt fort: „Würde mich freuen, Piet, echt, diese Blanche musst du dir nämlich warmhalten, ich habe via search die Adresse der Eltern gefunden: Beste Gegend ich gönne es dir.“
„Danke“, brummte Piet. Und wusste genau: Da wird etwas ganz anderes gespielt. Koni räusperte sich. "Wenn Blanche kommt, werde ich natürlich verduften: Stammfamilie genügt fürs Gröbste.“ Er begann zu lachen, der Bauch hob und senkte sich. <Notsack > hatten Heinz und er Koni getauft. Und eigentlich war ers ja für Ingrid wie hatte sie gesagt: „ …weiss Gott nicht das Schlimmste“. Und wie sie dasass, diese Mamms, total ahnungslos. Piet spürte, wie er rot wurde. Wenn sie wüsste, wie er sich vor Blanche schämte.
Das Bruderherz kickte ihn gegen das Schienbein. Als Piet aufschaute, tunkte Heinz auch einen Brotbrocken in die Suppe. „Du mauserst dich“, sagte Piet, „aber hey, was ist hier eigentlich los? “ Koni hatte den Teller noch halbvoll und spielte weiter Klavier.
„Ja, Heinz macht sich“, hakte Ingrid ein, „er gibt mir einen Hunderter ab vom ersten Lehrlingslohn, fast ein Drittel, auch wenns meine Kosten nicht deckt.“
Da räusperte sich Koni und rückte vom Tisch ab: „Ihr könnt stolz sein. Neun Jahre sitzt eure Mutter an dieser Scheisskasse in der Migros, und für wen?“ „Bscht“, sagte Ingrid, „das wissen sie ja. Piet, es geht nur darum, dass ich nicht in diesem Loch hier zugrunde gehen will. Es ist doch ein Loch, Piet, gibs zu dir hats heute schon abgelöscht, als du aus dem Bus gestiegen bist, diese Schaltbretter voll Klingeln und drunter die Batterie Briefkästen vom ganzen Hühnerpferch.“
Koni legte ihr die Hand auf den Arm: „Schatz, Hühner liegen in keinem Pferch, aber Karnikel. Hast du das gemeint? Oder meinst du Batteriehaltung?“
„Ich will einfach raus hier!“, schrie Ingrid, „ich habe nicht zwanzig Jahre geschuftet, um hier zu verschimmeln!“ Alles eingeübt, dachte Piet, und prompt schien Ingrid zu erraten, was er gedacht hatte sie fuhr vollkommen sachlich fort: „Wenn du schon einmal da bist, könnten wir auch gleich offen reden. Ich komme jetzt auf zwei acht netto. Dazu kommen die hundert von Heinz, macht zweineun, und du hast die neue Stelle für nachher auf sicher.“ An diesem Punkt hielt Mamms einen Moment inne und blickte ihn an: „Du hast den Vertrag doch bekommen?“ Piet weiss, dass er nicht nicken darf, die winzige Kopfbewegung könnte heissen, was er nicht will und ewig bereuen würde. Aber er sieht Ingrids atemlos gespanntes Gesicht. Und nickt.
Typisch sein Vater, dachte Ingrid, nicken, ja. Aber offen Antwort gegeben hat er nicht einmal vor dem Richter, das hat er seinem Anwalt überlassen. Als ich es ihm draussen im Gang vorwarf, hat er gefragt: „Wozu hätte es denn noch gut sein sollen, Kleine?“; er hat mich an sich gerissen, mich auf den Mund geküsst und stehen lassen.
Koni fasste seinen Serviettenring, er liess ihn übers Tischtuch zu Piets Teller rollen: „Ich hätte die Schlüssel von der Verwaltung“, sagte er freundlich, „du könntest dir die Wohnung ohne Weiteres ansehen, sie liegt wesentlich besser. Achtfamilienhaus, vier Zimmer mit Mansarde, deine Mutter würde dir das grössere Schlafzimmer überlassen, aber bitte, ich will mich nicht einmischen.“
Heinz nahm beide Stöpsel aus den Ohren: „Im Ostring, Parterre, zugegeben: der Fünfer fährt vorbei, aber erstens hats einen Vorgarten und zweitens kann man sich gewöhnen. Blanche brauchst du ja nicht gleich zu sagen, dass Mamms den Hauswartposten übernehmen will.“ Piet sah Ingrid, sah Heinz, beide Gesichter leuchteten wie Vollmonde. Einwolken, dachte Piet, einfach sagen „schade, ziehe ich im Herbst mit Blanche zusammen.“ Ingrid sammelte die Suppenteller ein und stand auf: „Es ist ein sogenannt Besseres Quartier, Piet, bitte, es ist die Chance, auf die wir immer gewartet haben: Wenn du im Ostring wohnst, bist du jemand, hier bist du Dreck, auch mit dreisechs netto bleibst du Dreck.“
Piet zwängte seine Fingerspitzen in die Jeanstaschen: „Zweineun hast du gesagt. Wie kommst du auf dreisechs?“
Typisch, dachte Ingrid, mach es mir um Himmelswillen nicht leicht, das wäre ich ja nicht gewohnt. Sie schluckte. „Als Hauswartin bekomme Ich hundertfünfzig Mietzinsreduktion. Du legst fünfhundert dazu, Essen inklusive, dann kommst du gut weg, und wir schaffens.“ Sie ging langsam Richtung Küche, das Bruderherz kickte Piet ans Schienbein: „Hey, Mann, ein Garten mit richtigen Sträuchern, stell dir vor, hier sehen wir nichts ausser Autobahn.“ Piet staunte ins Leere: Hatten Heinz Sträucher gefehlt? Dann nahm er den <Notsack> ins Visier:
„Wo genau stehen diese famosen Sträucher? Direkt vor den Fenstern?“ Koni grinste: „Jedenfalls siehst du sie früher als die Lastwagen, die vorbeizischen.“ Sein Bauch hopste wieder auf und nieder am Tischrand. Da kam Ingrid zurück mit Suppenfleisch, Lauchkartoffeln und Rüben: „ Zum Feiern. Gib mir meinetwegen nur vierhundertfünfzig. Dafür fändest du nicht mal eine möblierte Mansarde.“ Einen Moment lang blieb ihr Stimme in der Schwebe, dann sackte sie ab, wie ein fluguntüchtiger Vogel: „Bitte, Piet.“
„Und Koni?“, fragte Piet, „was bezahlt eigentlich Koni?“
„Kommt nicht in die Tüte“, sagte Ingrid rasch, „ich will frei bleiben, zusammengelebt habe ich mit eurem Vater.“ Sie senkte den Kopf und blickte gleich wieder auf: „Angst kann ich keine mehr brauchen, Piet, schau dir die Wohnung an. Und jetzt gib mir deinen Teller.“ Sie schöpfte sorgfältig, Piet wollte schon danken, da gab sie Lauchkartoffeln als Nachschlag sein Leibgericht. Kaum hatte er den Teller zurückgezogen, rief sie: „Halt, du brauchst ein zweites Stück Fleisch, die Rekrutenschule laugt aus.“ Er streckte den Teller wieder hin und verstand, dass er nur noch in Schadensbegrenzung machen konnte: „Passt in die Mansarde wenigstens ein Doppelbett?“
(2013)

Titel Kritiken

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Schwarzer Schnee
Erzählungen & Das Album der Signora
2009
Zytglogge
978-3-7296-0782-8
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Ich bin zwar ungläubig, aber auf den Unglauben ist ebenso wenig Verlass wie auf den Glauben. Als mich ein paar Stunden später die Katze anfiel vor der Gupfhütte, glaubte ich bereits ans Jüngste Gericht.
Lesebeispiele:

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Kritiken:
Angelika Boesch
Daniel Rothenbühler
Roland Erne
Charles Cornu
Elsbeth Pulver
Samuel Moser
Ingeborg Gleichauf
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Luftballon
Schon im Flur rief Luc: “Nonno, juhuu.“ Niemand antwortete. Die Signora deutete bscht, Nonno schlafe, gleich dürfe Luc ihn aufwecken. Aber sie hielt den Kleinen am Ärmel zurück und flüsterte: „Jacke und Schuhe ausziehen, damit du aufs Bett klettern kannst.“ Luc setzte sich auf die blauen Fliesen, um die Klettverschlüsse schneller aufzureissen. Dann stürmte er durchs Wohnzimmer: „Nonno, eine Überraschung kommt.“ Unter der Schlafzimmertür lüftete er das Geheimnis: „Ich.“
Der Signore hustete, Luc lachte. Plötzlich fiel etwas zu Boden und sofort hörte die Signora den Kleinen rufen: „Ich fisch ihn, ich fisch ihn.“ Sie überlegte, ob der Stock von der Wand gerutscht sei. Luc erschien in der Tür und schwang ihn über seinem Kopf, „Nonno lässt ausrichten, es brauche Ovo für die Männerschaft.“
Als die Signora zwei Tassen Milch wärmte, rückten die beiden an. Luc hielt den Kopf gesenkt, um keinen Schritt von Nonno zu verpassen. Im königsblauen Bademantel schien der Signore den Stock kaum zu gebrauchen, die freie Hand hatte er auf Lucs Schulter gelegt: „Deine Fussballer treten an zur gemeinsamer Stärkung vor dem Match.“ Die Signora wollte die Milch schon eingiessen, halt, erst brauchte Luc den Ball. „Nonna, du musst keine Angst haben, wir tschutten mit dem Luftballon vom letzten Mal.“ Hokuspokus, aufgemacht den Spielzeugschrank. Luc zog ein schrumpliges Weichei hervor. Lucs Mund zitterte und Nonno sagte schnell: „Wenigstens fliegt der Ballon nicht in den Himmel. Die Luft ist raus.“
„Du hast ja Luft genug“, sagte Luc, er schlug mit der flachen Hand auf den Ballon, eine Handspanne weit hüpfte das Ei zur Seite und Luc holte es mit den Füssen heran. „Wenn du fliegst, Nonno, winke ich. Abgemacht?“
Witwe bei Tag und bei Nacht
Die Signora hätte den chassidischen Spruch nie lesen dürfen. Sie strengte sich derart an, ihn zu vergessen, dass er ihr nicht mehr aus dem Kopf wollte, er fiel ihr mitten in der Nacht ein, wenn sie ihre linke Schulter umbetten musste, und wenn sie bei Tagesanbruch aufstand, schwamm er zum Willkomm im Morgenkaffee. <Hätte er zu wem zu reden gehabt, er lebte noch.> War ich niemand, fragte die Signora. Niemand antwortete.

Angelika Boesch | Daniel Rothenbühler | Roland Erne | Charles Cornu
Elsbeth Pulver (Reformatio) | Samuel Moser (NZZ) | Ingeborg Gleichauf (Badische Zeitung)
Die Berner Schriftstellerin Maja Beutler meldet sich (endlich) wieder zu Wort: Eben ist ein Band mit Erzählungen erschienen ein Buch, in dem „alle Tonlagen des Menschseins“ anklingen, wie der Literaturwissenschaftler Daniel Rothenbühler im Vorwort schreibt.
Maja Beutlers Texte reden von Tod und Trauer, von Freude und Sinnlichkeit, von Absurdem und Realem. Sie ist und bleibt eine scharfe Beobachterin, sie schildert präzis, messerscharf, ironisch. Ihre Sprache ist pointiert und klangvoll. Maja Beutler ist (endlich) wieder da. Sie hat ein wundervolles Buch geschrieben.
Angelika Boesch
12.03.2009
„Nur auf Hunger bleibt Verlass“
Daniel Rothenbühler
“Weibliche Ästhetik reiche selten über Widerstand hinaus“, zitiert die Theaterregisseurin Pinnemann in Maja Beutlers Erzählung „Ein Sommerlochtstraum“ den Ausspruch der Filmregisseurin Margarethe von Trotta. Der Text relativiert diesen Ausspruch als Zitat und signalisiert, dass er keineswegs dem Selbstverständnis der Autorin entspricht. Deren Schaffen steht für eine weibliche Ästhetik (auch wenn sie diesen Anspruch nicht selbst erhebt), die die Statik der Positionen und Fronten in die Dynamik des Positionswechsels und der Frontenverschiebung verwandelt. Widerstand wird in den Texten Maja Beutlers immer wieder zu produktivem Widerstreit.
Das prägt auch diesen neuen Erzählband und auf fast modellhafte Weise „Ein Sommerlochstraum“. Die Regisseurin Pinnemann sieht sich gezwungen, mit dem Bühnenbildner Wörlitz zu streiten, um eine Inszenierung „der Beutler“ zu ermöglichen. Da Wörlitz bei freien Regisseuren nur auf Pflicht macht, „bei Regisseurinnen einen Daumenbreit drunter“, muss die Pinnemann mehrere Register ziehen: Geduld, Humor, Einfallsreichtum, aber auch Entschiedenheit, Hartnäckigkeit und Gedankenschärfe. So vermag sie Wörlitz nicht nur für ihre Inszenierungspläne zu begeistern, sie entwickelt anhand seiner Äusserungen auch kostbare Ideen und entlockt ihm hilfreiche Tipps. Er sieht sich ernst genommen und macht schliesslich voll mit, sie setzt sich durch und gewinnt hinzu ein Muster für einen Genderstreit, in dem beide Seiten gewinnen.
Der Titel der Erzählung spielt auf Shakespeares „Sommernachtstraum“ an, in dem auf mehreren Ebenen Streit zwischen den Geschlechtern herrscht, aber dank der mehrschichtigen Verwicklung auch Versöhnung hergestellt wird. Als heiter-bissige Travestie der Shakespeare-Komödie erweisen sich sowohl die Inszenierungsidee der Pinnemann wie Beutlers Erzählung selbst. Die Shakespeare-Komödie basiert auf der grundlegenden Einsicht, dass unser Handeln und Reden immer von einem Schattenspiel innerer Bilder getragen wird. Davon geht auch Beutlers Erzählweise aus. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass nur eine Darstellung mit mehreren „Spielflächen“ unsere verschiedenen Lebensdimensionen zu Vorschein bringt.
Im Dialog geübt
Das ist seit ihren literarischen Anfängen ein Grundanliegen Maja Beutlers. Sie hat in ihren Texten immer eine dialogische Erzählweise und eine Pluralität der Perspektiven entfaltet. Im Dialog geübt hatte sie sich schon ab 1984 in den Radiobeiträgen „Zum neuen Tag“. Im ersten Erzählband „Flissingen fehlt auf der Karte“ machte sie dann gleich von den erzählerischen Möglichkeiten des Perspektivenwechsels Gebrauch. Mit diesem Erzähldebüt und den weiteren Publikationen in den 1970er und 1980er Jahren hat sie wesentlich zu dem beigetragen, was heutige Literaturgeschichten als „Aufbruch der Frauen“ in der deutschsprachigen Literatur der Schweiz bezeichnen. Wenn das Schreiben der Frauen aber hauptsächlich durch die Stichwörter „Subjektivität“, „Ich-Bücher“ und „Frauenprotokolle“ charakterisiert wird, hilft der Blick auf Beutlers Werk, dieser Verengung der Vorstellungen über das weibliche Schreiben entgegen zu treten. Gewiss, Beutlers erster Roman „Fuss fassen“ von 1980 hat auch Protokollcharakter und enthält Ich-Erkundung und Selbstvergewisserung. Er ist aber zugleich sehr viel mehr. Das zeigt sich zum Beispiel in seinem zentralen Kapitel „Vatersprache“. Während „Vatersprache“ in der feministisch orientierten Literaturtheorie der 1970er Jahre nicht zu Unrecht der Tradition des monologischen Sprechens zuordnet wurde, erweist sie sich in Beutlers Text als von Grund auf dialogisch, ja polylogisch. Eine krebskranke Frau greift den Dialog mit ihrem verstorbenen Vater wieder auf, versucht in einem seiner damals an sie gerichteten Sätze „Fuss zu fassen“ und entwickelt daraus einen Dialog auf mehreren Ebenen, einen Polylog eben: mit dem verstorbenen Vater, mit sich selbst, mit ihrem Sohn und mit ihrem Mann. Der Text zeigt, dass „Fuss fassen“ nicht im blossen Rückgang auf sich selbst möglich ist, sondern nur in der Wechselrede, in der Vervielfachung der Perspektiven und in einem Selbstverständnis, das die eigene Subjektivität als „Molekulargitter“ mit unzähligen „Kristallisationsmöglichkeiten“ begreift. Diese Pluralität der Sicht- und Redeweisen hervorrufen und erfahrbar machen kann nur ein Schreiben, das seine Darstellungsweisen vervielfacht.
Das mag mit ein Grund sein, warum Maja Beutler zu den wenigen Frauen ihrer Generation in der Schweiz zählt, die mehrere Theaterstücke schrieben und erfolgreich zur Inszenierung brachten. Sie hat dabei besonders 1994 mit ihrem letzten Stück, „Lady Macbeth wäscht sich die Hände nicht mehr“ auch die schmerzvolle Erfahrung gemacht, dass das Theater bis in die 1990er Jahre eine für Autorinnen schwer zugängliche Männerbastion geblieben ist. „Ein Sommerlochstraum“ ist auf diesem Hintergrund auch als der gelungene Versuch zu sehen, bittere Erfahrungen in einen bissigen Schwank zu verwandeln. Diese Fähigkeit, Verletzungen, Krankheit, Tod und Trauer mit Ironie und Heiterkeit zu verarbeiten, ist in Beutlers literarischem Schaffen ab „Fuss fassen“ immer deutlicher hervorgetreten und gelangt nun in der vorliegenden Erzählsammlung zur vollen Reife.
Distanz und Intimität
Die Reifung hat ihre Zeit gebraucht. Aufgrund von längeren krankheitsbedingten Erschwernissen hat Maja Beutler ab 1996 während zwölf Jahren nur noch vereinzelte Erzählungen veröffentlichen können. Der nun vorliegende Erzählband beweist, dass sie in dieser Zeit, wann immer möglich, am Schreiben geblieben ist, auch wenn sie die Texte nicht bis zu Veröffentlichung bringen konnte. Und er beweist auch, dass sie nichts von ihrer Gestaltungskraft verloren hat. Es gelingt ihr in diesem Buch, die spannungsreiche Vielfalt der Texte mit einer strengen Geschlossenheit der Komposition zu verbinden. Elf Einträge ins „Album der Signora“ bilden das Rückgrat des Textkorpus. Seine Fülle erhält er durch wiederum elf längere Erzählungen.
Die Signora erinnert von fern an männliche Beobachter- und Denkerfiguren wie Monsieur Teste bei Paul Valéry oder Herrn Keuner bei Bertolt Brecht. Wie die beiden verkörpert die Signora eine wachsame und kritisch reflektierende Zeugenschaft gegenüber allem, was sie erlebt. Konkreter aber als die beiden lässt sie die Geschehnisse an sich herankommen und wird durch sie eher belehrt, als dass sie sie aus höherer Warte und mit grösserem Vorwissen kommentiert. Ein Album (von lateinisch „albus“ = weiss) ist ja ursprünglich ein Buch mit weissen Seiten, in dem Besucher ihre Begegnung mit dem Gastgeber bezeugen. So hält auch die Signora einfach fest, was ihr begegnet, manchmal mit einem pointenhaften Schluss, wie in einer Anekdote, manchmal mit einer vielsagenden Anspielung, wie in einer Parabel. Als „Signora“, also eigentlich Herrin, bewahrt sie uns Lesenden gegenüber Distanz, wirkt aber zugleich auch als Gastgeberin, gibt uns Einlass in ihr Album und Einblick in ihr Innerstes eine reizvolle Mischung von Distanz und Intimität. Wer „Fuss fassen“ gelesen hat, wird sich zudem an die „Signora“ erinnern, als welche Pedroni dort die krebskranke Schreiberin anspricht. Durch diese Reminiszenz verbindet sich die Figur der Signora auch mit Vorstellungen von Lebensklugheit und Todesnähe.
Der ganze Band „Schwarzer Schnee“ greift so noch einmal die Themen auf, die Maja Beutlers Werk seit ihren Anfängen bewegt haben: Lebenslust und Lebensekel; Ehe und Familie als Glück und als Beengung; Krankheit, Alter, Tod als sinnlose Zumutungen; Befreiungsversuche und das Bewusstsein, dass sie scheitern müssen; die Hoffnung auf die Sprache und der Verdacht, dass sie am Unheil teilhat. Das alles ist nicht neu. Aber in den neuen Texten wird es auf kunstvolle Weise radikalisiert und zur Groteske verdichtet. Den Auftakt dazu bildet „Sightseeing“ mit der mageren Marlies, die in einer schlaflosen Nacht in einem Pariser Hotel in einer Wohnung gegenüber einen „Frauenkoloss mit langen Haartroddeln“ erblickt und von diesem Zerrspiegel üppiger Weiblichkeit in Bann gezogen wird. Sie ertappt sich nicht nur als „Spannerin“, die im fülligen Leibesglück der andern zunächst die Erwartung des noch verborgenen Mannes vermutet, sie merkt auch, dass sie selbst „nach der anderen hungert, dass sie sich diesen gewaltigen Frauenbrocken einverleiben möchte, der ihr so vollkommen fremd ist, dass er sie sättigen würde. Kannibalinnen-Alltag stände auf dem Metalltäfelchen am Schaukasten zu lesen“. Der Anblick der „massigen Körperkonturen“ der Frau im Nachbarhaus weckt in der mageren Marlies einen Lebenshunger, der sich unmittelbar physisch äussert als kannibalischer Appetit auf „eine feiste Wade à la Parisienne“.
Alle Tonlagen des Menschseins
Im Phantasma des kannibalischen Hungers vereinigt sich nach Sigmund Freud die Gier nach anderen mit dem (unbewussten) Eingeständnis, dass diese Gier sie vernichtet. Diese Ambivalenz durchzieht fast alle Erzählungen in „Schwarzer Schnee“. Damit greift Maja Beutler ein Motiv wieder auf, das schon in „Fuss fassen“ angeklungen hat. Die krebskranke Schreiberin sagt dort von sich, „ich bin hungrig nach warmem, frischem Leben“, fährt aber zunächst fort, „ich möchte mich aufreissen, ich möchte mich umpflügen, nur um es endlich einmal zu spüren.“ Die Gier, die anderen gefährlich werden könnte, wird noch zurückgebogen auf die Gierige selbst. In „Sightseeing“ wird dieses Dilemma aufgelöst in die, im wörtlichen Sinne, bissige Ironie eines dionysischen Kannibalismus.
Aggressivität und Zerstörungslust erscheinen im ganzen Erzählband sowohl als Gefahr wie als Chance. In „Die Ausgestopften“ leidet eine Ehefrau unter den tödlichen Automatismen ihres Ehelebens und des „Kulturkuchens“ und phantasiert: „Ach, dass jedes Wort ein Zahn wäre, ein Reisszahn ins lebendige Fleisch“. Im „Sommerlochstraum“ stellt sich die Pinnemann umgekehrt den tödlichen Ausgang eines Schattenspiels „Ehe von innen“ vor: „Gockel und Huhn hängen kopfüber am Fleischerhaken mit zusammengebundenen Laufzehen und picken aufeinander ein, bis dass der Tod sie scheidet“. Keine der in diesem Erzählband dargestellten Ehen ist frei von Verletzungen, die die Partner einander durch ihr blosses Zusammensein zufügen. Und zugleich ist keine dieser Verletzungen schmerzhafter als der Verlust des anderen. „Ein Jammer ist mein Mann nicht schon Witwer“, sagt die todgeweihte Ich-Erzählerin in „Schwarzer Schnee“, „offenbar möbelt es jede Ehe auf.“ Das klingt wie viele der pointierten Formulierungen dieser Texte nach witzigem Sarkasmus, verweist aber auf ein Leiden der Menschen aneinander, das durch Verluste nicht beendet, sondern verdoppelt wird.
Gerade durch prononcierte Distanziertheit werden Maja Beutlers Darstellungen von Todesnähe, Tod und Trauer ergreifend. „Kleine Auferstehung“, der letzte Eintrag ins „Album der Signora“ fasst zum Schluss des Erzählbandes diese Poetik der Distanziertheit zusammen: „Böser Blick? Die Signora hatte das Kind doch ohne jeden Widerwillen betrachtet. Allerdings auch ohne Erbarmen. Hiess das nicht eher, ‚den Tatsachen ins Auge sehen’“? Dieser nüchterne Blick weckt bei den Lesenden in dem Mass Gefühle, wie die Texte darauf verzichten, sie zu benennen. Tröstlich bleibt dabei nur der Fortbestand des Hungers: „Nur auf Hunger bleibt Verlass. Ein Glück, dass wir Viecher sind“, stellt der trauernde Ehemann in „Die Lachmöwe“ fest. In „Schwarzer Schnee“, der Titelerzählung, bleibt der Sterbenden in ihrer Abrechnung mit dem „allmächtigen Versager“, dessen „Schöpfungsflop“ die gläubigen „Ranschmeissfliegen“ auf den Leim gehen, nur eins: „Den ganzen lieben Morgen wollte ich mir einverleiben, keinen Windhauch, kein Blatt würde ich auslassen.“ In „Kleine Auferstehung“ schliesslich lässt der kleine „Bauchwulst“ eines Neugeborenen uns hoffen, dass aus der Todesasche des schwarzen Schnees wieder Leben entsteht.
So bringen uns Maja Beutlers Texte neben dem Trauern- und Hadernkönnen auch unzerstörbare Lebenslust bei. Sie lassen alle Tonlagen des Menschseins anklingen und verzichten konsequent nur auf jene der Rührseligkeit. Umso freier gehen sie mit dem Wechsel von Heiterkeit und Ernst, Ironie und Sachlichkeit, Sarkasmus und Empathie um. Die Autorin beherrscht diese Registerwechsel mit dem Spürsinn, der grosse Literatur auszeichnet.
Texte voll Lebenshunger
Mit dem Erzählband «Schwarzer Schnee» kehrt Maja Beutler
(63) nach langem Schweigen auf die Literaturbühne zurück.
Von Roland Erne
Ihre letzten Buchveröffentlichungen liegen über zehn Jahre zurück. Prononcierte Nachdenklichkeit ist Maja Beutler freilich nicht abhanden gekommen. Davon zeugte ihre mit Querverweisen auf den (Polit-)Alltag der Gegenwart gespickte Predigt zur Passion Christi an den 25. Solothurner Literaturtagen 2003 Stoff zum Weiterdenken. Von ähnlich andachtsvoller Qualität waren bereits ihre gesammelten Radiobeiträge für die Rubrik «Zum neuen Tag». Trotz einer in ihrem Romanerstling «Fuss fassen» (1980) verarbeiteten Krebserkrankung hat Maja Beutler weiter geschrieben. Mit dem Erzählband «Schwarzer Schnee» legt sie nun elf Geschichten und ihnen zugeordnete Einträge ins «Album der Signora» vor, die von einer gereiften Gestaltungskraft fernab jeder übereilten Wendung geprägt sind.
DIE IN «NACHKRIEG» zu Wort kommende Inge kennt «diese Lebensrage», enthüllt sich im Gespräch der Ich-Erzählerin mit der früher als Au-pair nach London gereisten Pfarrerstochter, die Übersetzerin statt Ärztin geworden ist. Damit ist pointiert benannt, was in diesen Texten oftmals auch zwischen Todesnähe und Trauer als Leitmotiv aufscheint: unbändiger Lebenshunger bis hin zu verzehrender Lebensgier. Ein Wochenende ohne Kinder führt die hagere Marlies in ein Pariser Hotel. Frühmorgens weckt sie Radau von der Gasse, der ihren Blick auf eine gegenüberliegende Wohnung lenkt. Aus der Perspektive der «Spannerin» verfolgt Beutlers Protagonistin in der grotesk zugespitzten Momentaufnahme «Sightseeing » gebannt das Aufstehen einer leibhaftigen Walküre und ist sich alsbald gewiss, «dass sie nach der anderen hungert, dass sie sich diesen gewaltigen Frauenbrocken einverleiben möchte». Derweil eine Frau in «Die Ausgestopften » die Ahnung eines automatenartigen Daseins im Korsett des Ehe- und Berufslebens beschleicht, gesteht eine Wesensverwandte der langjährigen (Telefon-) Freundin in «Der Dienstagskrimi» ihre Lebenskrise. Ungemildert erscheint die eher mit Ironie erfasste denn verbittert ausgebreitete Anfälligkeit eines eingeübten Beziehungsverhaltens auch in der kunstvoll arrangierten Titelerzählung «Schwarzer Schnee».
KEINESWEGS GESCHÖNT und ohne
aufdringliche Larmoyanz mehrfach präsent
sind in Beutlers nüchternen Texten
zudem lebensbedrohende Krankheiten
und langsames Sterben. Ebenso für Erzählstoff
sorgt ihre Affinität für das
Theater. «Ein Sommerlochstraum» beleuchtet
mit realsatirischer Note das
Ringen zwischen der Regisseurin Editha
Pinnemann und dem Ausstatter Heinz
Wörlitz um ein Inszenierungskonzept.
Ernst und Heiterkeit liegen im Werk
der 1936 geborenen Berner Autorin ohnehin
nicht weit auseinander; im jüngsten
Buch verdichtet zu hellsichtigen Album-
Reflexionen der Signora und zu
schlackenlosen Erzählungen, die der
Wirklichkeit auf den Grund gehen. Die
zwei Stunden zu früh im Sitzungszimmer
angelangte Ich-Erzählerin aus «Die
Ausgestopften» findet kaum zufällig den
Weg ins Naturhistorische Museum,
«vielleicht, weil ich wirklich Totes vor
Augen haben musste, um zu leben».
Maja Beutler Schwarzer Schnee. Erzählungen & Das Album der Signora. Zytglogge- Verlag, Oberhofen 2009. 232 S., Fr. 39..
Von Charles Cornu
Aktualisiert am 06.03.2009
In den letzten Jahren ist Maja Beutler vor allem als Dramatikerin, weniger als Erzählerin in Erscheinung getreten. Jetzt ruft sie sich mit dem Buch «Schwarzer Schnee» in Erinnerung. Maja Beutler kennt kein Erbarmen, wenn sie in die Tristesse mancher Paare hineinleuchtet. Buch und Vernissage Maja Beutler: Schwarzer Schnee. Erzählungen & Das Album der Signora. Zytglogge Verlag, Oberhofen 2009. 232 S., Fr. 39.? .
Die Vernissage findet statt am Mittwoch, 11. März, 20 Uhr, in der Buchhandlung Thalia im Loeb.
Was hatte die Zeit aus mir gemacht? Das fragt sich eine der Frauen, die den Ton vorgeben in Maja Beutlers neuem Werk, und es ist eine Frage, die sich eigentlich eine jede von ihnen, alles Menschen fortgeschrittenen Alters, stellen könnte, stellen muss. Sie leben ? oder sie treiben ein «Gelebe», wie es einmal heisst ? in geordneten Verhältnissen und gutbürgerlichen Beziehungen, in Ehen also zumeist, die augenscheinlich funktionieren, aus Gewohnheit und Zweckmässigkeit und mitunter nicht ohne angenehme Zuneigung. Aber: Ein Rest Hunger ? Hunger nach Lebendigsein und nach Überschwang ? bleibt ungestillt und macht sich störend bemerkbar immer wieder. Bereits die erste der Erzählungen demonstriert das exemplarisch. In «Sightseeing» hat sich eine Haus- und Ehefrau hiesiger Art und Herkunft freigestrampelt für eine kurze Weile und hält sich in einem Pariser Hotel auf. Eines frühen Morgens erblickt sie im gegenüberliegenden Haus eine Frau, die sich ungeniert bei offenem Fenster auszieht, sich massiert, sich schminkt. Das Besondere an dieser Frau, jedenfalls aus der Sicht der Beobachterin: Sie ist üppig, fleischig, ist Fleisch gewordenes Leben. In der mageren Voyeurin erwachen beim Hinschauen geradezu kannibalische Gelüste. Sie möchte ihre Zähne schlagen in diese lebenspralle Fleischlichkeit. Gescheit, angriffig und witzig Ähnlich die Grundstimmung in den meisten anderen Erzählungen. Maja Beutler kennt kein Erbarmen, wenn sie in die Tristesse mancher Paare und verschlissener Zweisamkeiten hineinleuchtet, allerdings auch kein Selbstmitleid, wenn sie, in «Schwarzer Schnee», eigenes Kranksein andeutet. Das Verführerische und zugleich Quälende an diesen Erzählungen ist, dass sie so sprachgenau, in den Formulierungen oftmals sarkastisch-witzig und schmerzhaft treffend sind. Ein Beispiel: «,Weisst du, wer das ist? , fragte die Schwägerin und stiess dann ein zuckriges ,Oh? aus, das Tremolo zog Fäden durch den Raum und versackte im Leeren: Ein Oh ohne Orgasmus.» Immer wieder fühlt man sich beim Lesen von der Autorin gleichsam an der Hand genommen zu einem scheinbar harmlosen Gang durch eine banale Existenz oder auch durch eine finale Lebensphase, und auf einmal ist zu spüren, dass man haarscharf einem Abgrund entlang geleitet wird. In einer der Erzählungen, «Ein Sommerlochstraum», immerhin behauptet sich eine Frau selbstbewusst in einer Männerwelt. Eine Regisseurin (Maja Beutlers Theatererfahrung ist spürbar) setzt sich durch gegen die Mannsleute der Bühne. Hier sind Aufbau und Sprache lebhaft, wie immer auch gescheit, dazu angriffig und witzig. Für einmal herrscht keine Enttäuschung, die sich sonst wie grauer Staub auf die Personen und ihren Alltag legt. Und in «Kleiner Gast», einer kurzen Geschichte, die in eine Kinder-Krebsstation führt, legt die Autorin die Herbheit ihrer Formulierungskunst ab und beweist, wie einfühlsam und klarsichtig sie so einem schwierigen Stoff nahezukommen vermag. Literarisch überzeugend Die elf Erzählungen sind verbunden durch elf Einträge ins sogenannte «Album der Signora». Es handelt sich dabei um kurze, manchmal fast anekdotische, aber deswegen keineswegs bloss zufällige Texte. Im Nachwort zum Buch verweist der Germanist und Romanist Daniel Rothenbühler auf Maja Beutlers Roman «Fuss fassen» aus dem Jahr 1980. Da wird die kranke Schreiberin gelegentlich als Signora angesprochen. Die Verbindung zu diesem früheren Werk ist nicht bloss äusserlich: Unterschwellig herrschen Thematik und Stimmung von damals im neuen, durch Jahre herangereiften Buch weiter. Dieses Ausgesetztsein einer Krankheit, der Enttäuschung, der Beschädigung einerseits, der Wille zur Selbstbehauptung, das Offensein für Verheissung und Fülle des Lebens andererseits geben auch diesen gesammelten Erzählungen das besondere Gewicht und die eigene Wirkung. Sie prägen über die persönlichen Anklänge hinaus den überzeugenden künstlerisch-literarischen Auftritt der 73-jährigen Berner Autorin. Buch und Vernissage Maja Beutler: Schwarzer Schnee. Erzählungen & Das Album der Signora. Zytglogge Verlag, Oberhofen 2009. 232 S., Fr. 39.? . (Der Bund)
Elsbeth Pulver
Sterben und auferstehen
Maja Beutler, Schwarzer Schnee. Erzählungen
& Das Album der Signora. Zytglogge
Verlag, Oberhofen am Thunersee, 2009,
229 S.
Auffallend lang, rätselhaft in seiner Doppelform, so mag der Titel des neuen Buches von Maja Beutler auf den erste Blick wirken. Als wäre er eine Spiegelung jener mehr als ein Jahrzehnt dauernden Zeitspanne, die zwischen den letzten Büchern der Autorin und diesem in mancher Hinsicht überraschenden, neuartigen Werk liegt. Vor allem die dem Haupttitel beigefügte Ergänzung (es ist etwas anderes als ein Untertitel), dies seltsame «Das Album der Signora», mag aufmerksame Leser je nachdem überraschen, befremden, anziehen. Daniel Rothenbühler, der das Buch mit einem subtilen und präzisen Nachwort abschliesst, weist mit Grund auf zwei gegensätzliche Textsorten hin, aus denen das Buch komponiert ist: auf der einen Seite längere Erzählungen, die unter dem eigenen Titel auftreten, und daneben, in regelmässigem Wechsel mit den längeren vermischt, die ungewöhnlich knappen, z. T. aus wenigen Zeilen bestehenden Prosastücke des «Albums der Signora». Dass sich in diesem Gegensatz auch eine sogar numerisch nachweisbare Zusammengehörigkeit ausmachen lässt, fällt auf: Elf Erzählungen bilden sozusagen das Grundmuster des Ganzen; daneben konstituieren elf kurze oder kürzeste Texte das «Album der Signora». Elf, das ist keine runde, im Dezimalsystem verwurzelte Zahl, auch nicht eine, die das Dutzend voll macht. Etwas Ungerades läuft da mit, das in kein Schema passt, gerade deshalb zu diesem sorgfältig gebauten Buch passt.
Die grossen Erzählungen vor allem «Schwarzer Schnee» und «Die Lachmöve » rufen die ersten Texte von Maja Beutler in Erinnerung, mit denen sie damals, in den siebziger Jahren, die Literatur von Frauen wesentlich mitgeprägt hat. Ungeachtet der langen Pause schreibt sie auch jetzt an ihren Lebensthemen fort, die wohl allesamt Überlebensthemen sind: Krankheit und Tod, Leiden und Einsamkeit, und immer wieder eine nie erfüllte Sehnsucht nach Lebensintensität, einer fast körperlichen Aneignung der Welt. Aber der Ton ist jetzt finsterer geworden, der Humor härter; er neigt zu einer Groteske, die nichts Freundliches an sich hat.
Nicht dass «Fuss fassen», der Erstlingsroman von 1980, als Trostbuch hätte gelesen werden können aber er war, anders als das neue Buch, erfüllt von einer unbesiegbar wirkenden Lebensenergie. In «Schwarzer Schnee» dagegen, diesem letzten, zum Teil halluzinatorischen Gang einer Schwerkranken, unternommen mit schwindenden Kräften aufwärts in eine satirisch-folkloristisch gezeichne143 Kritik und Kommentare te Voralpen-Welt in diesem nicht zufällig als Titelerzählung gewählten Text ist von Anfang an die Ahnung des Endgültigen und Ausweglosen eingezeichnet, gegen das sich die Ichfigur weder mit klagenden, noch sehnsuchtsvollen, noch aufbegehrenden, noch aggressiven Worten wehren kann. Ungleich weniger scharf zugespitzt, aber gerade deshalb bewegend und fern von aller Sentimentalität, ist «Kleiner Gast», eine so präzise wie behutsame Annäherung an ein wohl rettungslos verlorenes Kind, dem weder die Schwester noch der Arzt helfen kann und auch der Vater nicht, der das Kind zum wievielten Mal? in die Klinik zur Therapie bringt.
Die Sprache und die Namenwahl dieses berührenden Textes erinnern an die früheren Bücher, stellen so, unauffällig, die Kontinuität des Werkes her. Pedrazzini so heisst der Vater in «Kleiner Gast» evoziert eine wichtige Figur in «Fuss fassen» und im ersten Drama «Das Marmelspiel»; aber nicht zufällig wählte die Autorin dort keine Verkleinerungsform! Pedroni, das war ein Schneidermeister, den die Hauptfigur von «Fuss fassen» im Wartezimmer der Klinik traf, und der, selber wohl bereits ein Verlorener, sie anredete, weil er fühlte, dass die noch junge Frau am Ende ihrer Kraft war. Aber nicht Mitleid oder Trost liess er sie fühlen, damals, er rief ihre Tapferkeit an, die sie, älter geworden, jetzt wieder braucht und auch wieder mobilisieren kann. Er, Pedroni war es, der sie als «Signora» anredete, und damit trotz der Distanz, die im Wort liegt, eine Art Verwandtschaft begründete. Das «Album der Signora» enthält unausgesprochen auch eine späte Hommage an diesen längst verstorbenen, auf eine besondere Art hilfreichen Menschen, eine Erinnerung an dessen Noblesse.
Nicht zu übersehen, dass der Anflug von Heiterkeit und Humor, der im «Album der Signora» aufblitzt, den übrigens wenig zahlreichen Auftritten der Enkelkinder zu verdanken ist, in denen die zur Nonna gewordene Signora die Schärfe der Satire vermeidet und auch jenen «bösen Blick», den eine Freundin in einem allerletzten, zuerst angstvollen, dann erlösenden Text der Ichfigur vorwirft («Kleine Auferstehung», siehe nächste Seite). Aber auch in scheinbar unbeschwerten Sätzen ist Trauer, sind schmerzhafte Einsichten versteckt. Nein, es sei niemand da, sagt der kleine Enkel am Telefon dem Anrufer, nur die Grossmutter die durch diesen Kindermund erlebt, wie man zu Lebzeiten zu einem Niemand werden kann, wie man ohne bösen Willen der anderen unversehens aus der Welt fällt. Gerade in diesen kürzesten Prosastücken zeichnet sich eine für die Autorin neuartige, überaus reizvolle Form ab, der man auch künftig begegnen möchte.
Neue Zürcher Zeitung
In voller Bewegungslosigkeit
Raffiniertes Perspektivenspiel neue Erzählungen von Maja Beutler
Samuel Moser
Manchmal tönen Maja Beutlers neue Texte etwas grell: Da «kullert», «schrittelt», «maunzt» und «lugt» es, macht «kruntsch und mampf» und sagt: «Da haben wir den Quark.» Das Buch komme nach fünfzehn Jahren ohne Publikation einer «Wiedergeburt» gleich, liess sie sich vernehmen. Nehmen wir das Backfischhafte also als Freudengejubel. Wiedergeburt ist nicht Neugeburt. Tatsächlich spürt man sogleich die Erzählintelligenz der Erfahrenen: souveräner Duktus, raffiniertes Perspektivenspiel, mitreissende Tempowechsel, filigrane Intarsien. Und immer der minuziöse, gnadenlose Blick dieser Autorin.
Wiedergeburt meint noch mehr. Das Wort hat einen langen Schatten. Er ist der eigentliche Stoff der Erzählungen: dass Altes nicht verschwinden und Neues nicht entstehen kann. Marlies in der ersten Erzählung des Bandes ist nicht die Einzige, die zwischen Aufbruch und Lähmung schier zerrissen wird. Was bleibt, sind Ersatzhandlungen: «ummöblieren». Dabei ergeben sich neue Perspektiven auf das doch immer Gleiche. Nur die Betrachterin riskiert dabei ihre Identität. Ummöblieren ist ein «Verrücken».
Hadern mit Gott
Manchmal geht es bis zum Verrücktwerden ob der Unverrückbarkeit der Dinge. Das alte Lied, das alte Leid: Schmerz, Zerfall, Hilflosigkeit. In der «Kleinen Auferstehung» am Ende Buches träumt die «Signora», deren «Albumeinträge» zwischen die Erzählungen gestreut sind, von ihrem eigenen Tod. Aber da ist keine Leiche, sondern ein Neugeborenes. Und wie in einem Spiegel, von dem sich der Wasserdunst verzieht, entdeckt die Signora in ihm ihren eigenen alt gewordenen Körper. «Das also bleibt», stellt sie fest. Dass sie es «mit Belustigung» tut, macht das Finale des Buches noch unheimlicher.
Die Signora-Texte sind kürzer, weniger narrativ und offener als die Erzählungen. Der «Kleinen Auferstehung» geht die Titelerzählung «Schwarzer Schnee» voraus. «Warum lassen Sie den letzten Tag auferstehen?», fragt die Protagonistin darin Gott. Aber kann man fragen, wo keiner antwortet? Gott schweigt und lacht. Die Erzählerin hält ihm den Spiegel seiner misslungenen Schöpfung vor: «eine Schande». Im Spiegel einer dreckigen Fensterscheibe erkennt sie ihr eigenes versehrtes Gesicht mit dem zerfallenden Kiefer: «Schlachtvieh» Gottes. Sie will dieses Bild ihrer selbst nicht. Zu spät: «Ich selbst verwechselte uns nie, aber in der Scheibe sah ich, dass die andere meine Stelle endgültig ausfüllte. Es demütigte mich.»
Gedemütigt werden kann nur, wem es an Demut fehlt. Das ist die Stärke dieser Erzählerin, die an ihrem «letzten Tag» ihrem Mann und ihrer Krankheit auf einer Bergtour mit einer an Sisyphus gemahnenden Klarsicht davonzukraxeln versucht. Doch beides holt sie ein, wenn sie endlich am Ziel ist, im «Tülli», einem ausgedienten Armeebunker, wo einst zwei Frauen in wilder Freiheit gelebt und sich geliebt haben sollen. Jetzt wird er zum Käsemuseum «ummöbliert». Ein apokalyptisches Lachen ergreift die Frau. Ein Lachen bis aufs Blut, das die Sonne zerspringen und das Unmögliche für einmal möglich werden lässt. Und wie: «Sachte, sachte fiel schwarzer Schnee auf mich und deckte mich zu.»
Wenn diese in den letzten fünfzehn Jahren entstandenen Erzählungen die Summe von Maja Beutlers Schaffen darstellen, so ist «Sightseeing», die erste des Bandes, die Summe der Summe. Was in andern Erzählungen manchmal etwas zu breit und deutlich daherkommt, entfaltet sich hier ohne grossen Aufwand. Die Beziehungslosigkeit von Menschen und Dingen tritt wie von selbst in ein dichtes Netz von Beziehungen. Auch diese Geschichte spiegelt sich in einem Spiegel. Marlies erinnert sich: Ihre Freundin Gerda hatte in jungen Jahren einmal im Reisebüro der Swissair ein Plakat mit dem Spiegelsaal von Versailles ergattert. Nun ist Marlies für ein kinderfreies Wochenende nach Paris gekommen, eine Nacht und einen Tag früher als ihr Mann. Ein «Tag der Freiheit» steht ihr bevor.
Marlies erwacht viel zu früh, fast noch mitten in der Nacht. Sie tritt ans Fenster. Unten auf der Gasse ein Fischhändler im Streit mit einem Taxifahrer. Im Immeuble gegenüber schon Licht. Eine Frau taucht im Fenster auf, bereitet sich zur Morgentoilette. Nein, es ist keine Frau: Es ist eine Walküre, ein Koloss. Und doch spiegelt dieser «verschwenderische» Körper die Vollkommenheit eines Glücks. Marlies stellt sich selber vor den Spiegel: Aus einer zerschlagenen Stelle an seinem unteren Rand steigen schwarze Schlieren auf, legen sich als Schattennetz auf Marlies' Kinn. «Sind wir über das Verfalldatum hinaus?», fragt sie Gerda, die weit weg ist.
Leere Versprechen
Aber das Weib am andern Fenster saugt Marlies aus ihrem hinaus, weckt ihren «Kannibalismus», ihren Hunger nach Leben. Eine Zeitlang scheinen die zwei Seiten über der Strassenschlucht ihre Opposition zu verlieren. Die Spiegel blicken sich in die Augen und spiegeln sich in einem Glücksmoment von Zusammengehörigkeit weg. Über den Dächern von Paris «klappt» der Himmel auf. Der Koloss von der Rue Hyacinthe erscheint in der rosenfarbenen Aura des Morgens wie Venus in der Muschel. Marlies hat sich eine Zigarette angezündet. «Les fumeurs ont rendez-vous avec la mort», hatte sie an der Réception gelesen. Ist das die Freiheit, die ihr bleibt: trotzdem zu rauchen? Wo sie ist, ist kein Leben. Wo das Leben ist, ist sie nicht. Marlies hängt dazwischen: «in voller Bewegungslosigkeit» wie die ausgestopften Jungbären im Naturhistorischen Museum (in der Erzählung «Die Ausgestopften»). Plötzlich zuckt sie ängstlich zusammen. Hat die Venus sie entdeckt? Eben nicht! Das Licht ist aus, das Immeuble ein Gesicht mit «toten Augen». Ein leeres Versprechen.
Maja Beutler: Schwarzer Schnee. Erzählungen & Das Album der Signora. Mit einem Nachwort von Daniel Rothenbühler. Zytglogge-Verlag, Bern 2009. 229 S., Fr. 39..
Badische Zeitung
Eine feiste Wade à la Parisienne
Der Blick nach draußen: Vom Widerstand gegen die Ich-Tönerei in Prosatexten der Schweizer Theaterautorin Maja Beutler
Einem Ausspruch Margarete von
Trottas zufolge reicht weibliche
Ästhetik selten über Widerstand
hinaus. Angenommen das stimmt, was
dann aber, wenn dieser Widerstand sich
gerade gegen die Selbstbeschau des Ich
richtet und im Gegensatz dazu im Schreiben
als einer Form künstlerischen Tuns
eine „Welt ins Rollen“ bringt, wie es Else
Lasker-Schüler vom Theaterstück verlangte?
Und was,wenn es sich dabei nicht
um ein Stück, sondern um Prosa handelt,
die ihre Widerständigkeit gegen die Bedeutungssucht
des Ichs beweist, indem
sie immer wieder ruft: „Vorhang auf!“
Ich lese die Geschichte einer Frau, die
auf Kurzurlaub von der Familie in einem
Pariser Hotel gelandet ist, auf die gegenüberliegende
Häuserfront schaut und
plötzlich in ein selbstvergessenes, aber
höchst waches Staunen gerät: „Madame
balanciert aus dem Zimmer, das Nachthemd
hat sich ins Gesäß verkeilt und die
Backen tanzen über dem Parkett wie Irrwische.“
Es könnte ganz anders zugehen,
denn die Beobachterin, Marlies, ist mit
sich allein. Sie könnte bilanzieren, eintauchen
in ihre Ich-Welt, auf ausgiebige
Selbstvergewisserungstour gehen. Aber
die Autorin schenkt ihr den Blick nach
draußen, lässt sie nicht in die Falle einer
endlosen Selbstbefragerei geraten, entwirft
bizarre Szenarien, an denen ihreAugen
sich nicht sattsehen können. Marlies
stellt sich vor, wie es wäre, die Dicke von
gegenüber sich einzuverleiben, sich dieser
Fremdheit zu bemächtigen, in eine
„feisteWade à la Parisienne“ zu beißen.
Maja Beutler, Schweizer Schriftstellerin,
Jahrgang 1936, kann die Theaterautorin
in ihrer Prosa nicht verleugnen, und
das ist gut so. In ihren Erzählungen werden
die Protagonistinnen immer wieder
aus sich heraus geschleudert, finden sich
in einerArt ZuschauerraumdesWelttheaters
oder mitten auf der Bühne, und was
sich neben ihnen, vor ihnen abspielt, ist
mal Komödie,mal Trauerspiel. Beutler ist
eine Meisterin im Spiel auf allen Registern,
da wechseln Humor und Traurigkeit,
Sarkasmus, analytische Klarheit. Je
stärker ihre Figuren sind, desto unerbittlicher
ist ihr Blick und desto ferner sind sie
jeder Art von Befindlichkeitsgefasel.
Ingeborg Gleichauf

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Die Stunde, da wir fliegen lernen
Roman
1994
Nagel&Kimche
3-312- 00198-6
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Das erste Mal oh, wie mich diese Wendung immer entzückt hat, wie ich nur sie beherrsche und keinem überlassen will. Noch das erste Mal sterben, und mir soll’s ein Vergnügen sein.
Lesebeispiel:

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Der Vorleber
Fürs Anfangen bin ich der Meister, der vom Himmel gefallen ist. Vorleber müßte ich werden. Das wäre die passende Marktnische für mich. Alles, was einer zum ersten Mal tut, nähme ich ihm ab: würde an seiner Statt die engen Geburtskanäle der Mutter weiten, für ihn den ersten Atemzug tun und die Brust ansaugen, bis die Milch einschießt, mich in der Wiege zum ersten Mal aufsetzen würde ich, mir die ersten Schühchen anziehen lassen, für den andern den ersten Schritt wagen, und warum nicht ein erstes Wort krähen: «Mimmi», das Gebrabbel danach überließe ich ihm, da säße ich schon im Kindergarten, verschränkte die Arme vor der Brust und könnte zum ersten Mal korrekt auf dem Stühlchen sitzen, ich malte mein erstes Strichmännchen, zur Not vielleicht noch ein erstes Haus mit einer Sonne drüber, dann legte ich den Buntstift in die Hand des anderen und griffe zum Kugelschreiber, um den ersten Buchstaben zu schreiben mit der Zunge zwischen den Zähnen, und schwupps, könnte der andere sich drauf beißen, ich rechnete schon zwei und zwei zusammen, zöge die Summe zur Hälfte ab, multiplizierte mit sich selbst, und wenn die Gesetzmäßigkeit mir allmählich aufdämmerte, gäbe ich den Stuhl frei und wechselte zum Klavier, striche zur Probe mit dem Handrücken über die Tastatur, paff, schlüge ich schon mit beiden Fäusten drauf rum und versuchte es mit den Ellbogen, dann ginge ich zur ersten Stunde, mit sauberen Fingernägeln und aufgeregt vor Eifer, ich könnte die Finger nicht richtig auf die Tasten bekommen, und wirklich, ich müßte mir zum ersten Mal den Tennisball in der hohlen Hand vorstellen, aha, so also, ich übte zum ersten Mal ein Liedchen, und noch ehe der erste Schnee gefallen wäre, rackerte sich mein Nachleber Tag für Tag sein Stündchen lang am Klavier ab, während ich längst Englisch zu lernen begonnen hätte, I am, you are, he is, ganz voller Entzücken radebrechte ich mein erstes Sätzchen; und bevor ich die Korrektur dreimal ins Reinheft geschrieben hätte, übernähme der andere die Strafe, und ich müßte inzwischen überlegen, ob ich die Hellblonde aus der B-Klasse anmachen oder sie einfach Schwertfeger überlassen sollte, ach, diese unsägliche Scheu, wenn ich ihren Namen zum ersten Mal hinter ihr her flüsterte und die Frage hervorwürgte, ob sie nicht meine Pizza streicheln möchte; nur dies eine Mal erregte es mich, daß sie mich mißverstehen und puterrot anlaufen würde, und zum ersten Mal wäre ich Herr der Lage, weil ich sie aufklären könnte, und im Moment, da sie den Hund wirklich streichelte, preßte ich sie zum ersten Mal gegen den Lattenzaun gleich neben der Garage, und verwirrt spürte ich die Erregung einschießen, ach, daß ich ein einziges Mal zurückkönnte und wieder zum ersten Mal zu küssen vermöchte, während ich die Kleine dem andern im übrigen vollkommen gönne, nicht einmal weiß, hatte das Mädchen blaue Augen oder braune, das hat sich der andere gemerkt, ich verfaßte inzwischen schon den ersten Brief an sie: «Du bist das Salz meines Lebens», den Satz, den ich mir gewünscht hatte, einer Frau zu schreiben, ehe die Empfängerin festgestanden hatte, ach, er las sich einfach zauberhaft, der andere konnte sich die Fortsetzung aus den Fingern saugen, da hatte ich schon zum ersten Mal eine Affäre mit einer reifen Frau, mein Gott, dreizehn Jahre Altersunterschied, wie vollkommen ruhig ich Leni in Stauffers Stall zog und ihr zum ersten Mal sagte, es sei unwichtig, was sie mir schenke oder nicht schenke, wenn es ihr nur besser ginge, und ich kochte ihr den ersten Kräutertee, und als ich ihr die Tasse reichte, bebte ich zum ersten Mal vor Glück, derart selbstlos lieben zu können, ich übergab die verheiratete Frau nur keinem andern, weil ich zum ersten Mal von der Eifersucht gebeutelt wurde, wie es ein zweites Mal gar nicht vorstellbar ist, ich leckte das erste Mal eine Türklinke, weil sie in ihrer Hand gelegen hatte und stellte ununterbrochen die Nummer ihres Mannes ein, nur um zum ersten Mal im Leben einen Affen aus mir zu machen, ich zertrümmerte zum ersten Mal eine Fensterscheibe, weil ich einen Moment lang geglaubt hatte, Lenis Augen blickten mich dahinter an, ich sah zum ersten Mal ein, daß es so nicht weitergehen konnte, und gab zum ersten Mal ihrem Drängen nach, uns ein Weilchen nicht zu sehen, und in diesen furchtbaren Tagen der Vernünftigkeit meldete sich eine ganz neue Sehnsucht; es war das erste Mal, daß ich innerhalb von ein paar Stunden alterte, als gehörte mir nun die Zeit nicht mehr, wir müßten uns auf etwas ganz anderes, ganz Neues einstellen, um noch einmal zusammenkommen zu können, und so schrieb ich ihr zum ersten Mal, daß ich ein Kind wolle, ein Kind von ihr, sie könne sich auf mich verlassen, ich würde ein guter Vater werden, ach, es war das erste Mal, daß ich nichts begriffen hatte und so ganz und gar zu spät kam mit einem Gefühl, sie hatte die Sache mutterseelenallein entschieden, sie war schon zurück von diesem schrecklichen Eingriff, und zum ersten Mal schrie ich vor Angst über das Mißverhältnis, und als sie die Tür hinter sich zuzog, war ich zum ersten Mal erleichtert, daß eine Frau mich verließ, und doch jagte ich ihr hinterher. Es war das erste Mal, daß ich sie vollkommen verstand und mir selbst vollkommen lächerlich wurde, und ich umklammerte sie und flüsterte zum ersten Mal, daß ich ohne sie nicht leben könne, und zum ersten Mal streichelte die Frau das einfältige, verstörte Kind, zu dem sie mich gemacht hatte, sie ging zum Auto und winkte zum ersten Mal, als dächte sie an etwas anderes, und ich verstand, daß meine Eifersucht auf ihren Mann zu kurz gegriffen hatte, er erschien mir nun lächerlich, während schon die endgültige, die desperate Eifersucht nach mir griff. Und so fuhr ich ihr zum ersten Mal hinterher und schlief im Wagen vor ihrem Haus, und als sie heraustrat, rief ich ihren Namen, und sie wandte sich nicht um, und als ich telefonierte, hörte ich zum ersten Mal nur ihren Atem im Hörer und verstand, daß sie nun jedesmal auflegen würde, wenn sie meinen Atem hörte, also würde ich es bleiben lassen. Ja, ich hatte begriffen, und doch war es das erste Mal, daß der Nachleber auch jetzt noch nichts zu erben fand, nicht einmal ihren Namen hätte er mir nachschreiben dürfen, als ich mich Abend für Abend über die weißen Briefbogen beugte, anderthalb Wochen lang, und immer war es der erste Abend, immer hoffte ich, schlagartig ein anderer zu werden, wenn ich ihr nur ein Wort zu schreiben vermöchte, als fiele mir etwas Neues zu mir selbst ein, ich schrieb ihren Namen, zwei, drei Seiten, ohne abzusetzen schrieb ich ihren schönen, kleinen Namen, und ich weinte zum ersten Mal, weil Papier dennoch Papier bleibt, ich zerriß es vor Schmerz, und ich lernte zum ersten Mal die Sehnsucht nach dem leeren Schlaf kennen, was zählen Träume, wenn ein Ende sein muß in allem?
Zum ersten Mal zeichnete sich die Beschränkung der eigenen Person ab, ich hing mir derart zum Hals heraus, daß es zum ersten Mal ein Glück war, mich toll und voll laufen zu lassen, alles war besser als ich, und doch spürte ich ganz allmählich das leise Wiedererwachen der Lebenslust, ja, ich lebte zum ersten Mal vollkommen gelangweilt vor mich hin, aber ohne daß es mich störte, es dämmerte mir, daß es nicht unaufhörlich anzufangen gälte, es begann sich etwas daran zu erschöpfen, obgleich ich zum ersten Mal bei Benno auftauchte, um Ernst zu machen mit der Malerei und mir die Kunst durchaus erkämpfen wollte, und so tauchte ich den Pinsel wieder mit demselben Enthusiasmus in die Farbe wie seinerzeit im Kindergarten, es lag nur die Erfahrung dazwischen, daß der Enthusiasmus eine Zeitfrage war, oder war er eine Beschränkung, denn zum ersten Mal hätte ich arbeiten müssen, als wäre es das letzte Mal, die letzte Begeisterung hätte ich aus mir herausholen sollen, und ich hatte nur die erste, alles andere hatte ich dem famosen andern überlassen; und so kam mir zum ersten Mal die Idee, auszubrechen; die Landschaft sollte eine neue Landschaft werden, der Himmel ein neuer Himmel, die Menschen lauter neue Menschen, und wäre ich auch immer noch derselbe, so sähe ich doch alles zum ersten Mal, beträte jedes Haus zum ersten Mal, und jede Stadt entdeckte ich neu, wie ich jeden Strand zum ersten Mal beträte und mir jedes Sandkorn noch interessant wäre, ein derartiger Neuling wäre ich im Reisen. Und zum ersten Mal im Leben setzte ich in die Tat um, was ich mir vorgenommen hatte: Ich landete zum ersten Mal tatsächlich dort, wo ich erzählt hatte, daß ich landen würde, und ich taumelte tatsächlich von einem Abenteuer ins andere und hatte den Eindruck, keines sei wie das vorige, und doch machte sich ein erstes Zittern in mir bemerkbar, wie Schmetterlingsflügel, die meine Hirnwindungen streiften, dieselben Flügel vielleicht, die ich aufgespießt hatte; ich beugte mich mit einer Lupe drüber, und die vollkommen symmetrisch geäderten, gepunkteten und gestrichelten Flächen, nun ja, es waren noch exakt dieselben, denen ich zwei Tage lang nachgejagt war und sie tatsächlich selber mit dem Netz eingeholt hatte ohne wirkliches Interesse, wieso auf einmal sollte es mir Lust bereiten, eine Stunde lang im kniehohen Gras zu hocken und einem Insekt aufzulauern, wozu schlug ich mich mit Durst und Mückenschwärmen herum, wenn mich nicht zum ersten Mal die Idee bei Laune gehalten hätte, daß ich zu Hause davon erzählen würde, eine Expedition in die Pampas ließe ich am runden Tisch im Circolo aufsteigen, die Nächte im Zelt, und wenn ich den kleinen Schmetterlingskasten hervorzauberte und samt Lupe zirkulieren ließe, dann, o ja, dann würde ich mich zum ersten Mal für das Schillern der Farben begeistern, dann sähe ich, was ich gar nie gesehen hatte und spürte das Zittern der Flügel, dieses Zittern, das mein Hirn gestreift hatte, als ich die Pilzsäfte in mir aufsteigen fühlte, und vielleicht würde ich zum ersten Mal auch davon erzählen, ach, was nütze es zu reden, würde ich sagen, es müße das andere Gesetz zu leben anfangen, und erst dieses Gesetz zeige die Kultur, würde ich sagen und hatte es tatsächlich selber geglaubt, als ich zum ersten Mal mit den Indios zusammen die Pilze gegessen hatte und mich ihnen anschloß und zum ersten Mal ganz aus mir heraustrat und zum ersten Mal ganz auf das Fremde vertraute, und so fiel ich aus allen Bezügen heraus, und auf den Fersen hockend unter den Fremden halluzinierte ich meinen ersten Roman. Von einer Señora fabulierte ich, die sich nicht genug tat an der Eheliebe und also zu schreiben begann, einen Roman, ganz aus ihrem Innern heraus fabulierte sie, «El hombre y su mujer», und die unbeweglichen Indiogesichter vor mir wurden zum Mann, der diese Frau nicht verstand, er war ihr fremd, wie nur ein Ehemann fremd zu sein vermag, und doch schrieb sie jeden Tag einen Liebesbrief für ihn, «Mi Duque de felicidad, ohne dich mag ich nicht mehr leben», und der Ehemann las den Brief und verstand, daß er einem anderen galt, und so begann er diesen anderen zu suchen. Obgleich er wußte, daß es nur ein Roman war, den seine Frau sich erschrieb, konnte er auf der Straße an keinem Jüngling mehr vorbeigehen, den er nicht verdächtigt hätte, er sprach die Romanfigur an, fragte sie aus, bezahlte ihr einen Tequilla und Tortillas, so war sie abgelenkt von seiner Frau, und am Abend stürzte er nach Hause, um nachzulesen, was alles dieser famose Nichtleber wieder ausgelöst hatte in seiner Frau, welche Wendungen er ihr zu entlocken vermochte, und je undurchsichtiger sie schrieb, desto sicherer war der Ehemann, sie eines Tages überführen zu können, und um so verbissener prüfte er sie, schickte ihr die wundersamsten Blumensträuße mit nichts als dem Namen auf dem Kärtchen, «Duque de felicidad», und jedesmal dankte die Frau im nächsten Brief so liebestrunken, daß immer klarer hervortrat, wie sie dem eigenen Traum verfiel, und so bestellte der Mann sie mit einem letzten Strauß in den Wald, und als sie hinkam, zerschoß er einem jungen Mann, den er aufgegriffen hatte, das Gesicht vor ihren Augen.
Und ich, ich lehnte mich zum ersten Mal glücklich und erschöpft an die Lehmwand zurück, und ein Indio mir gegenüber warf die rechte Hand hoch, eine unendlich schnelle Bewegung, ich hörte nicht einmal ein Schaben, als sie sich erhoben wie ein Mann, dann spürte ich den ersten Schlag ins Gesicht und verstand blitzartig, daß ich zum Duque de felicidad gemacht werden würde, einer riß mir den Kopf an den Haaren zurück und spuckte mir zwischen die Augen: Muerte a la mujer, sagte er sanft.
Es war das erste Mal, daß ich eine Geschichte auszufressen hatte, mutterseelenallein. Am Ende hockte ich blutiggeschlagen und leergeraubt auf einem unglaublich stinkenden, mit Fliegenpapier vollgehängten Polizeiposten und war zum ersten Mal froh um die Adresse einer alten Schweizerin und dankbar, daß es in Mexiko Korruption gab und ich flugs freikam. Ich mußte mir nur zum ersten Mal in ein Auto helfen lassen von einer alten Frau, und zum ersten Mal wohnte ich ums Gnadenbrot bei ihr und einer anderen alten Frau, und es wurde mir zum ersten Mal klar, daß ich mich auch darin getäuscht hatte: alt war nicht alt, und eine Frau, die allein lebte, keine Frau, die keinen Mann gefunden hatte, es war das erste Mal, daß ich mir verlacht vorkam, ohne daß die beiden Frauen auch nur das Gesicht verzogen hätten, aber sie hatten eine Sehnsucht in mir aufgerührt, die ich nicht verstand, ach, daß ich mich hätte häuten können, denn durch eine offene Tür sah ich, wie die eine alte Frau ihre Hand auf die Schulter der anderen legte und diese andere ihren Kopf zur Hand auf ihrer Schulter neigte, und obgleich nichts weiter geschah, wollte ich abreisen, fort, weg, zum ersten Mal hatte ich nichts mehr zu suchen, nirgends; und hoffte zum ersten Mal, es zu Hause zu finden, einfach so, wenn ich erst dort wäre, und tatsächlich war ich erlöst, als ich zum ersten Mal wieder Schweizer Boden unter den Füßen hatte, und ich hätte meine Rückkehr keinem andern gegönnt, denn nun konnte ich zum ersten Mal alle Geschichten wirklich erzählen, zum ersten Mal alle Bilder wirklich zeigen, mir zum ersten Mal ein Täschchen, dann ein besticktes Wämschen und ein paar Pilze abschwatzen lassen, und zum ersten Mal erzielte ich dabei einen finanziellen Gewinn, und es begann sich schon abzuzeichnen, daß ich einen Beruf daraus machen könnte, jeder andere hätte es getan, also mußte ich zwangsläufig aufgeben, und ich hätte zwangsläufig wieder abreisen müssen, um zu mir selber zu kommen, aber jeder andere reiste auch, und daher entschied ich mich zum ersten Mal für beides zugleich und nahm eine Gewohnheit von drüben auf. Ich schlenderte in Blinzern durch die Straßen, als wäre ich ein Fremder, ging einer Frau hinterher und stellte mir vor, wie ich sie gleich anreden, sie ausführen, sie zum ersten Mal küssen und dann flachlegen würde, und wenn sie sich zufällig umdrehte, blickte ich meiner Ehefrau ins Gesicht, und es war zum ersten Mal eine Erlösung, daß es bloß ein Spiel war, ich um die Ecke biegen und in der nächsten Straße schon der nächsten Frau nachsteigen konnte, natürlich nur in Gedanken, denn ich wollte zum ersten Mal nichts mehr wirklich erleben, und deshalb rief ich immer früher den Nachleber herbei, daß er der Besten auf der Straße nachgehe, und zuletzt brauchte ich auch nicht mehr nach ihm zu rufen; ich dachte zum ersten Mal ans Jonglieren; während der andere noch meinen alten Frauenträumen nachhing, warf ich den ersten Ball, spürte sein kaum wahrnehmbares Gewicht in meiner Hand, und es fiel mir ein, daß ich dieses Gefühl schon einmal gehabt hatte, natürlich, die erste Klavierstunde: stell dir einen Tennisball vor, auch wenn du sein Gewicht nicht spürst, Luc, der Ball ist in der Handwölbung; und so hörte ich zu jonglieren auf, bevor ich damit begonnen hatte, und ich hörte in Vaters Werkstatt auf, bevor ich daran Spaß finden konnte, denn ich hatte zum ersten Mal das Prinzip durchschaut: jeder Beruf würde mir über kurz oder lang zum Hals heraushängen; wenn sich der Überdruß nicht gleich einstellte, hieß es nur, daß mir das Schlimmste noch bevorstand.
So habe ich Don Carlos zum ersten Mal gekränkt, ich war fassungslos, als er zu weinen begann, wir standen in unseren ölverschmierten Overalls nebeneinander, eben hatte er den Motor noch mit dem Schraubenzieher anspringen lassen, «ich habe einfach nicht das Zeug dazu», sagte ich nur, er ließ den Schraubenzieher sinken, und ich sah zum ersten Mal, daß Vater alt geworden war, ich bemerkte seine geschwollenen Hände, und als seine Schultern zu zucken begannen, fiel mir zum ersten Mal auf, wie unendlich schwerfällig sich meine Geschichte voranwälzte, sie war über und über mit Leim bestrichen und beklebt mit Details, ich versuchte, sie zu wenden, sie zu drehen, sie wollte sich den Wanst vollschlagen mit Naschzeug, statt wieder zu tanzen; zum ersten Mal schoß die Reue in mir hoch, ich wollte Don Carlos umarmen, dieses hilflose Kind, das ich mir einmal gewünscht und von meiner ersten großen Liebe nicht bekommen hatte: war es mein Vater? Als er meine Arme spürte, weinte er laut auf und schlug mich zum ersten Mal im Leben. Ich blieb trostlos zurück, und es fiel mir auch kein Trost ein für Vater.
Ich ging zum ersten Mal im Städtchen herum und suchte ein Gesicht, irgendein Gesicht, zum ersten Mal war ich vollkommen leer und suchte eine Hand. Susanne rammte im Supermarkt mit ihrem Einkaufswagen die Pyramide aus Kaffeedosen, und zum ersten Mal lachten wir gleichzeitig über dasselbe, wir bückten uns gleichzeitig und begannen die Dosen zu stapeln, und zum ersten Mal wollte ich ihr zuliebe Schabernack treiben und warf eine Dose kurzerhand in die Fischtruhe, und zum ersten Mal schaute mich Susanne einen Moment ungläubig an, die nächste Dose verschwand im Brotgestell, und Susanne nahm Ziel und warf ihren Kaffee hinter die Abwaschmittel, und zum ersten Mal sprach sie aus, was ich gedacht hatte: Man könnte Kaffee auch trinken, hast du Zeit?
Und zum ersten Mal bekam die Liebe wieder einen neuen Geschmack: kaffeegemütlich; vielleicht verglich ich sie deswegen nie mit meiner großen Liebe, Susanne war ein Zuhause, und zum ersten Mal vergaß ich, daß es ein Leben auf Abruf blieb: auch wenn es kein erstes Mal gibt und kein zweites, gezählt wird trotzdem. Susanne ist eine andere Frau geworden, und ich bin nicht mehr derselbe, ich hatte nur zum ersten Mal all die Nächte neben einer Frau gelegen und nicht bemerkt, daß ich ihr langsam über den Kopf wuchs, und so hat sie mich in den famosen anderen verwandelt, ohne daß ich es ahnte. Ich erkannte mich nicht mehr, wenn sie über mich sprach, ich wurde mir zuwider, wie der andere mir immer zuwider gewesen ist, und jetzt, da ich zum ersten Mal nicht weiß, wie ich wieder Tritt fassen könnte, jetzt beginne ich zum ersten Mal, Madame la Maman zu verstehen, die keinen neuen Hund im Haus haben wollte: er würde sterben, wie der erste Hund gestorben war, wie jeder Hund sterben wird, «je serai de plus en plus pauvre», und so muß ich mich zum ersten Mal zur Hoffnung zwingen, und obgleich ich mich erinnere, daß ich meine wirklich große Liebe durchaus vergessen konnte, diese erste, mir mittlerweile ganz zwiespältig, wenn nicht sogar lächerlich erscheinende Leidenschaft, so weiß ich doch zum ersten Mal, daß auch das nicht stimmt und ich möglicherweise später, wenn ich schon gar nicht mehr fähig sein werde, eine Beziehung einzugehen, daß ich dann mein liebes Leni-Gesicht wieder vor Augen haben werde und es nicht mehr zu küssen wage, weil ja längst alles vorbei ist und lächerlich geworden, am meisten ich selber, der ich nicht aufhören kann, an Totes zu denken, und so denke ich, daß ich der geborene Anfänger bin.
Das erste Mal - oh, wie mich diese Wendung immer entzückt hat, wie ich nur sie beherrsche und sie keinem anderen überlassen kann. Noch das erste Mal sterben, und mir soll's ein Vergnügen sein.

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Das Bildnis der Doña Quichotte
Erzählungen
1989
Nagel&Kimche
3-312- 00144-7
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Autos hupten, Schritte kamen näher, der Briefträger tratschte mit dem Hauswart, eine Polyphonie der Alltäglichkeit rundum, satt und platt die Welt. Und wenn sie einmal hungrig würde? Fräße sie ein Bild? Anna nistete sich diebisch vergnügt ein in der Gewißheit: Ich werde es trotzdem malen.
Lesebeispiel:

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Guter Mond, du gehst so stille
Im Labor sitzt das junge Paar Hand in Hand und verfolgt am Bildschirm, wie die Zelle sich teilt, grandios, die Spaltung erfolgreich, ein Embryo zuckt, er fächert schon aus, und wässrig fluktuiert die Nabelschnur; es krümmt sich der Fötus; sieh das Ereignis, zwei Fäustchen, zwei Beinchen und drüber geneigt, oh mein Gott, dieser Schafskopf; aber schon höhlen sich die Augen, es stülpt sich die Nase, es wölbt sich die Stirn, und schau, wie es nuckelt am eigenen Knie, oh Wunder der Wunder, plus Wickelkurs, Schoppenkurs, Atemgymnastik; wir sind soweit, sagt die Hebamme, Muttermund knapp talerweit offen; am Monitor flimmern die Zickzackkurven, Herztöne normal, sagt der Arzt, Geburt voll im Gang, nur dieses Becken, hergottnochmal, atmen Sie tiefer, pressen Sie stärker, das Kind am Bildschirm ist eingekeilt, pressen, pressen; und noch ein Stoß und schon der Schrei:
unser Kind, unser liebes, liebes Kind.
Zehn Finger, zehn Zehen, sechs Pfund dreihundert; fünfzig Zentimeter, völlig normal, sagt der Arzt;
hast du gehört: normal unser Kind, unser liebes, liebes Kind normal, alles überstanden; und weiter im Text, es saugt und rülpst und schläft und äugt und lächelt und greint und plappert und krabbelt und steht und geht; plumps, eia poppeia, nicht so schnell, liebes Kind, nicht so schnell; aber schon sagt es das erste Mämm, schon herzt es den ersten Teddybär, schon trägt es die ersten Schuhe, schon hat es den ersten Zahn, du tapferer, tapferer Bub, er räumt Schubladen leer und wird trocken und frißt Sand und klettert - halt, halt, das Fenster... Oh, mein Gott, unser Kind, unser liebes, liebes Kind ist aus dem Fenster gestürzt, Montag, 10. März: sein Skelett leuchtet am Bildschirm, <und vergib uns unsere Schuld>, Amen; das Leben zum weiten Mal geschenkt, sagt der Arzt, alles normal, nur brav durchimpfen; und weiter im Text, der Bub fährt schon Dreirad und haut schon Mädchen und klaut schon Marmeln und spielt schon Doktor, höchste Zeit für den Kindergarten, schon kann er stillsitzen, schon kann er Verschen aufsagen, schon wird er Finkenchef, schon schlitzt er den Teddybär, schon spielt er Räuber; faß ans linke Ohr mit der rechten Hand; echt schulreif, sagt der Arzt, alles normal, und weiter im Text, der Bub lernt rechnen, der Bub lernt lesen, der Bub lernt schreiben, er spielt den Josef im Krippenspiel und klimpert Klavier, <Der fröhliche Landmann>, er übt zu wenig, er sudelt ins Reinheft, er schwänzt die Singstunde, er raucht Nielen, und im Zeugnis -
Oh, mein Gott, Versetzung gefährdet; vorverschobene Pubertät, sagt der Arzt, alles normal, nur viel Sport, wenig Fleisch, und weiter im Text, der Bub fliegt vom Gymnasium, er ist mit Pickel übersät, er gründet eine Zeitung, er trägt Sonnenbrille, er klaut eine Gitarre, herrgottnochmal, wir können auch andere Saiten aufziehen; er spielt Baßgeige, er spielt Schlagzeug, herrgottnochmal, schalt den Verstärker aus, und diese Haare, und diese Pranken und diese Antworten und dieses Rumhocken, aber eins können wir dir garantieren: Die Lehre wird durchgehalten; er kurvt mit dem Moped, er klimpert auf dem Computer, er eröffnet einen Laden; er gafft in den Flimmerkasten, da läuft der uralte Slapstick schon auf vollen Touren: Der dumme August latscht in viel zu großen Schuhen und wuchtet sein Gummihämmerchen aus den viel zu weiten Hosen; hellauf lacht Columbina, als er ihr eins überwutzen will; ihr Mieder platzt auf, und der rosa Schnuller fahrt aus, wupps, saugt der liebe Bub sich schon fest am lieben Mädchen, eia poppeia, nicht so schnell, du Schafskopf, nicht so schnell; aber schon herzt er sein Täubchcn, schon gurrt es ihm zu, schon schlitzt er es auf, oh mein Gott, wir gratulieren; im Labor sitzt das junge Paar Hand in Hand und verfolgt am Bildschirm, wie die Zelle sich teilt, grandios, die Spaltung erfolgreich, ein Embryo zuckt, er fächert schon aus und

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Die Wortfalle
Roman
1983+1990
Nagel&Kimche
3-312- 00152-8
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Alle Sätze sind Zäune, und man müsste eigentlich das andere sagen, das, was dahinter liegt, dort wächst das Gute, wie Gras. Aber kann man Grasbüschel ausreissen und in eine Vase stellen?
Lesebeispiel:

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Ja, die Polizeiwache kam ihm tatsächlich wieder als Oase vor. Oder gab es Zeitenklaven? Die Uhren draußen waren längst vorgestellt nur hier wurde gestern gespielt. Allein dieser Ofen: eine schwarze, gußeiserne Säule, vorn hatte sie einen schweren Klappdeckel mit einem verschnörkelten Griff und dem eingegossenen Schriftzug: <Gebr. Kamm>.
Hatte niemand Pikett? Stimmen waren doch zu hören: Flückiger und Scheurer? Gandolfi räusperte sich. Nichts rührte sich. Die Polizeistube war mit gelber Ölfarbe gestrichen, sogar die Decke glänzte als hätte man den Sonnenuntergang rundum breitwalzen wollen: Look at the bright side of life. Gandolfi drehte die Mütze in der Hand. Er sah einzelne Farbstriemen an der linken Wand; er stellte sich vor, wie Scheurer und seine drei Korporale alles selbst aufgemöbelt hatten, in der Freizeit womöglich, Beamte hin, Beamte her. Gandolfi trat an die Abschrankung, legte die Mütze drauf, da sah er die Klingel, natürlich, das hatte er vergessen: Unter der Holzkugel mit dem schneeweißen Knopf klebte sogar ein Zettel in Schreibmaschinenschrift: <Bitte drücken>. Scheurer kam sofort durch die Schwingtür: «Ah, da ist ja der Herr Doktor.» «Fischer, wieder?» fragte Gandolfi, «vermißt?» Scheurer steckte beide Daumen in den Gurt, blieb unschlüssig stehen, dann trat er näher, sein Bauch stieß gegen die Schranke.
Gandolfi lächelte: «Und meine Diätpläne scheinen auch nicht zu nützen.» Scheurer zuckte die Achseln: «Vielleicht müßten wir eher aufs Wachstum los; ein Meter neunzig, und mein Gewicht wäre ideal.» Aber Lachen lag offenbar nicht drin oder warum wirkte Scheurer so … verlegen wirkte er doch. «Hat Fischer einen Suizid versucht?» Scheurer schüttelte den Kopf: «Nichts Berufliches leider.» Im selben Augenblick trat Lorenz durch die Schwingtür: «Nur ich», grinste er. Gandolfi versuchte sofort, die Tür an der Schranke zu finden. Scheurer war schneller und zog sie auf: «Ihrem Fräulein habe ich natürlich nichts gesagt.» Gandolfi blieb gleich wieder stehen, steckte die Hände in die Hosentaschen: «Warum grinst du eigentlich?» Lorenz schnitt eine Grimasse, oder lachte er sogar? «Und?» fragte Gandolfi. Nur Scheurer antwortete: «Ein kleiner Unfall, wenn man so will.» Lorenz grinste wieder. Unerträglich kam es Gandolfi vor: Weinen, nein, gewiß nicht aber warum grinsen? «Mit dem Moped also?» fragte Gandolfi und kontrollierte automatisch, wie das Kind dastand: Nichts verletzt? Arm links, Arm rechts, und die Beine, die Füße? Er atmete auf: Nichts Gravierendes jedenfalls. «Also wieder einmal bei Rotlicht drüber? Hundertmal habe ich dir schon gesagt; Du sollst nicht auf das Fußgängerlicht schauen und losrasen, bevor die Autos grün . . .» Scheurer legte ihm die Hand auf den Arm: «Nicht ganz, Herr Doktor.» Gandolfi schnellte herum: «Sondern?» Scheurer wich keinen Fußbreit zurück. «Kleiner Mundraub, sagte man früher, und das wird's auch sein.» Dann setzte Scheurer einen hörbaren Punkt; er hustete. Gandolfi kam sich übertölpelt vor. Mundraub. Und wie hatte es bei Fredy angefangen? «Hör endlich auf zu grinsen», brüllte er. Lorenz schaute zu Boden, fuhr mit der Schuhspitze dem Spalt zwischen zwei Bodenlatten entlang. Und diese Mähne. Da trat Scheurer noch näher und bedeutete Gandolfi mit einer Handbewegung «immer mit der Ruhe». «Sie verstehen sicher mehr von der Sache, Herr Doktor. Aber wenn Sie mich fragen: <harmlos>.» Schnell schaute Lorenz auf: «Hundert Rubel mußt du blechen und wir können die Flügel wieder anschnallen.» Gandolfi winkte mit dem Zeigefinger: <jetzt komm einmal her, Bürschchen>, Lorenz blies die Backen auf, aber er kam, langsam, mit den Gummikappen seiner Turnschuhe zog er Striemen über den Boden, bei jedem Schritt, Scheurer sagte scharf: «Keine Fisimatenten, gell.» Gandolfi hatte es eben selbst verweisen wollen; jetzt ärgerte er sich über Scheurer: «Wir erledigen das schon allein, danke.» Er zog seine Autoschlüssel aus dem Mantel und hielt sie Lorenz direkt vor die Nase: «Und zwar draußen, unter vier Augen.» Aber Lorenz zog einen Kaugummi aus den Jeans, versuchte es wenigstens, er mußte das Knie hochziehen, dabei grinste er wieder. <Hund muß mal pinkeln>, peinlich, wie eng diese Hosen waren und . . . <vermohrt>, ja, das wäre der richtige Ausdruck: Flecken rundum, Scheurer würde sich seinen Vers drauf machen. Gandolfi blickte rasch zu ihm hin: Breitspurig stand er da, <frommes Denkmal frommer Art>. «So sind halt die Jungen», sagte er.
Lorenz wickelte den Kaugummi aus, schob ihn in den Mund, umständlich, dann hob er langsam die Hand, bis sie genau auf gleicher Höhe war wie Gandolfis Autoschlüssel, knüllte das Silberpapierchen zusammen und ließ plötzlich die Finger aufspringen. Plumps. «Heb das Papier auf», Gandolfi liess den Arm sinken, die Autoschlüssel klirrten leise. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß: «Hast du verstanden? Aufheben.»
Lorenz setzte den linken Turnschuh aufs Silberpapierchen: «Und so? Ist dir wohler?» <Auge in Auge.> Gandolfi schwieg. Lorenz drehte den Kopf zu Scheurer: «Lassen wir's doch der Putzfrau, okay? Oder hat nur mein Vater eine?» Scheurer lachte gemütlich, es kam Gandolfi vor, als wäre diese Reaktion von Anfang an geplant gewesen: <der ideale Ausweg>. «Wir reden unter vier Augen», sagte Gandolfi wieder, nur meinte er diesmal Scheurer und sich. Er hob die Hand mit den Autoschlüsseln zum zweitenmal, «und du wartest im Wagen auf mich.» Der Bub hob seinerseits die Hand, als wollte er gleich zuschlagen, ließ sie niedersausen und schnappte die Schlüssel: «okay». Er federte zur Tür, jeder Schritt eine Spitzenleistung. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich um: «Sorry, Wachtmeister», und mit einem einzigen Satz hechtete er zurück, hob das Papierchen auf, «als Orden für Sie», er salutierte grinsend, und Scheurer legte flüchtig zwei Finger an die Schläfe: «Marsch jetzt», sagte er, und erst als Lorenz die Tür zumachte, rief er: «Und mach's gut.»
Paktieren? Und wie Scheurer sich jetzt Zeit ließ, die Daumen wieder in den Gurt steckte. Gandolfi schaute zum Fenster, lächerlich, diese Vorhänge: Volants, und hochgerafft zu beiden Seiten in Messingringen - betulich, wie Scheurer selbst: <Seht doch, wie gemütlich ich bin, und sonnig bis ins Zitronengelb>. «Hoffentlich geht er wirklich zum Wagen», sagte Scheurer, «der ist doch ...» Er trat ans Fenster, hob mit der Hand den einen Vorhang etwas hoch, ging in die Knie, «tatsächlich», sagte er, «aber fix und fertig ist er.» Er kam hinter die Schranke zurück, legte die rechte Hand drauf: «Hat Pech gehabt, wenn Sie mich fragen.» <Aber ich frag dich nicht.> Gandolfi stand da und wartete.
«Darauf muß man gefaßt sein», sagte Scheurer. <So? Muß man?>
«Die Frau an der Kasse im <Kolibri>, die hat ihren schlechten Tag gehabt und ...»
«Und mein Sohn?» fragte Gandolfi.
Scheurer griff in die Brusttasche und zog sein Rapportbuch heraus, er netzte den Finger an der Zunge, um die Seiten besser umblättern zu können: «Da soll ich's vorlesen? <Gandolfi, Lorenz, Schüler, hat im Beisein mehrerer Zeugen, sich Mundraub . . .>», Scheurer schaute auf: «Das <sich> müßte nach vorn, oder?» Gandolfi nickte, Scheurer kramte nach seinem Bleistift in der Brusttasche, legte das Buch auf die Schranke und korrigierte sorgfältig, «also: <hat sich im Beisein mehrerer Zeugen Mundraub zuschulden kommen lassen, indem er einen Hamburger à Fr. 3.50 und einen Mohrenkopf à Fr. 1.20 verspeiste, bevor er die Kasse passiert hatte, an dieser vielmehr nur ein Glas Weißenburger Citro à Fr. 1.50 präsentierte und dieses auch vorschriftsgemäß berappte. Die Kassiererin, Frick, Johanna, Maria, schöpfte berechtigten Verdacht, nachdem sie eine diesbezügliche Diskussion abgehört. . .>»
Scheurer schaute wieder auf, «ein Grenzfall, dieses <abgehört> aber schwierig, es kürzer zu sagen.» Gandolfi nickte ungeduldig. «Also: . . . <abgehört hatte und erstattete umgehend Anzeige.>»
Scheurer klappte das Rapportbuch zu und steckte es in die Brusttasche zurück; den Bleistift ließ er liegen. «Sie hat das Recht auf hundert Franken, weil's angeschlagen steht, im Lokal. Von uns kämen dann später noch vierzig dazu, via Richteramt.»
Wie bei Fredy. Gandolfi wollte die Brieftasche oben aus der Jacke ziehen, aber Scheurer sagte schnell: «Nein, nein, Herr Doktor, da bin ich Ihnen gutgestanden. Sie können das Geld überweisen.» Er zog einen Zettel aus der Uniformtasche und legte ihn auf Gandolfis Mütze. «Die Postschecknummer vom <Kolibri> habe ich notiert, und vom Richteramt kommt's in etwa einem Monat.» Lorenz genau wie Fredy.
Endlich setzte Gandolfis Gefühl ein, nein, die Assoziationen liefen kreuz und quer dieser lächerliche Rapport, und zugleich erfaßte ihn eine Art Rührung angesichts von Scheurers Takt; geradezu aufsässig, dieser Takt, oder aufsässig die Peinlichkeit, daß Lorenz jetzt auf Takt angewiesen war wie Fredy vertuschen? «Nein, Scheurer», sagte Gandolfi, «den Zettel brauche ich nicht. Das entspräche nicht meiner Art.» Er stützte beide Hände auf die Schranke: «lch habe in meiner Verwandtschaft erlebt, was das bringt: Etwas vertuschen zu wollen. Ich werde jetzt mit Lorenz ins . . . wie heißt dieses Lokal? Kurz und gut wir werden das Geld persönlich bringen.» Scheurer schaute ihn mit Knopfaugen an. <Denk was du willst.> Gandolfi lächelte: «Sie, als Kriminalist, meinen sicher: An den Ort des Verbrechens zurückkehren.» Scheurer lachte gutmütig, die Knöpfe glänzten, die Gurtschnalle auch. «Und zudem», Gandolfi ließ die Schranke los und knöpfte den Mantel zu: «zudem gibt es das sogenannte Strafbedürfnis es nicht zu stillen, ist unter Umständen grausam.» Tante Katja hatte alles falsch gemacht, mit Fredy. Da lachte Scheurer heraus, ganz unbefangen.
«Der Bub wollte doch seinem Schatz imponieren», lachte er, «haben wir's anders gehabt, mit siebzehn?» «Ja, Herr Scheurer, wir wollen nichts aufplustern. Vielleicht verstehen Sie besser, wenn ich sage: Ich stehe unbedingt zu meinem Kind, auch in dem Moment, wo es mich bloßstellt. Und es ist entscheidend, daß es nachvollziehen kann, daß ich mich in nichts distanziere von ihm, nicht einmal bei dieser. . . Rechnungsbegleichung.» Scheurer zuckte wieder die Achseln: «Hat etwas Einleuchtendes, wenn Sie alles so sagen, nur. . .» er schnallte den Gurt auf, warf ihn über die Abschrankung, «als meine Heidi heiraten mußte . . . erinnern Sie sich, vor drei Jahren? Herrschaft, kommt doch das Kind und sagt: <ich muß>, und ein Schleck war das nicht, die Lehre nicht einmal fertig und nichts. Und da haben Sie mir geraten: «Kein Drama draus machen, heiraten, und nachher das Maul halten, dann werden's die andern auch bald zumachen.>»
So sollte er es formuliert haben? Gandolfi lächelte: «Einmal Sie, einmal ich, wollen Sie sagen, ja, wir sind quitt.» Er streckte Scheurer die Hand hin. Der Wachtmeister schien einen Augenblick verblüfft, als hätte man ihm einen schönen Gedankenteppich unter den Füßen weggezogen. Aber gleich schlug er ein und schüttelte Gandolfi die Hand. Als er endlich losließ, Gandolfi die Mütze schon reichte und den Zettel mit der Postschecknummer zerknüllte, fügte er bei: «Und nichts für ungut, gell.» Gandolfi nickte und ging zur Tür, <nur nicht zurückschauen>, da sagte Scheurer: «Ein Satz von Ihnen ist mir besonders geblieben. Meiner Frau habe ich ihn genau rapportiert: <Vorher und nachher war's ja das gleiche Kind>, haben Sie gesagt, <man hat es nur nicht ganz gekannt>.» (Aus Kapitel 12)

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Fuss fassen
Roman
1980
Zytglogge
3-7296- 0111-3
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Signora, passen Sie auf mit dem Denken, morgen, die Zukunft … wir müssen den Verstand in die Ecke stellen wie ein geladenes Gewehr.
Lesebeispiel:

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Gerhard Beckmanns persönliche Bibliographie
Lesebeispiel:

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Ich lebe schon lange heute, Signora
Aber jetzt ist die Gegenwart explodiert, Pedroni, und wer hätte etwas Besseres zu hoffen gewusst? Sie selbst würden mir recht geben: Der Soldat war eingekesselt zuletzt. Aufgegeben hat er nicht, nein, allem zum Trotz nicht, Pedroni, aufgegeben haben Sie nicht, das kann sich nur das Kanonenfutter leisten. Sie sind aufgerieben worden, ich sehe es erst jetzt: schlohweisse Haare, und vor drei Wochen noch … aber ich will nicht mehr hinschauen, es geht mich nichts an, was Sie auch nichts angeht. Alles ist Staffage hier drin, das Gesicht mit den geschlossenen Augen, die Kerzen, das Spitzenhemd, die gefalteten Hände, nein, das geht uns beide nichts mehr an. Aber da ist ein Missverständnis, Pedroni: ganz voller Freude bin ich hergekommen, mit einem Hochzeitsstrauss, und ich weiss, das hatten Sie verstanden, nur gerade Sie, und ich hätte gesagt: «Jetzt ist alles gut geworden, Pedroni, Sie müssen nicht mehr sterben, und ich, ich lebe weiter», und ganz gesammelt wie immer, ja, ganz gesammelt hätten Sie mir zugehört und gesagt . . . . Aber es ist anders, alles ganz anders. Ich stehe allein da und wirke lächerlich, und die Blumen wirken lächerlich, ja, ganz voller Einfalt bin ich hergekommen, voll einfältiger Freude, <ich werde ihn sehen>, habe ich geglaubt, gegen jede Vernunft.
Sie wissen, Signora, welche Einfalt? Wir sind mit ihr . . . sagen wir: ganz zu Hause in uns selbst, und auf einmal kann uns die Natur wieder tragen wie Pflanzen, ja, das ist der Ausgleich gegen die Krankheit. Wir können uns gar nicht mehr zu Grunde denken, Signora. Wir schlafen immer vorher ein, ja, dass wir todmüde sind, macht auch vieles leichter.
Nein, Pedroni, ich bin nicht müde, überhaupt nicht mehr, ich will leben, nein, mehr will ich, gegen alle Vernunft: <ich lebe und du sollst auch leben>, so ist die Einfalt, denn was wüsste ich besseres zu hoffen mit meinem Verstand?
<L'aria dolce>, sagen wir in Italien, Signora, jetzt ist sie da, die Wärme, etwas Zartes überall, ich habe es zu Signor Kasser gesagt gestern: «Wunderbar, die Welt, Anfang Mai, und Ihr Park, Signor Kasser, nie ist er schöner gewesen, all der weisse Flieder, nur die Braut fehlt.»
Nein, Pedroni, durchsichtig ist die Welt geworden Anfang Mai, ganz durchsichtig, wie Dottersäcke von jungen Fischen, ein Netz von haarfeinem Geäder über dem pulsenden Vorrat, alles kann reissen, und dann. . . wir haben es beide gewusst, Pedroni.
Ich wollte nur einen Augenblick Atem schöpfen, Signora, aber plötzlich hat Kasser gesagt: «Ich brauche wieder einen Anzug, Pedroni, unbedingt, die Maschine und den Zuschneidetisch haben Sie ja behalten. Kommen Sie morgen noch einmal vorbei, mit den Stoffmustern, das braucht nicht viel Kraft, Sie wissen es vom letzten Mal: Eine Viertelstunde das Ganze; dann machen wir es wie gewohnt, Sie nähen, wenn immer Sie können oder mögen, und ich, ich warte auf alle Fälle, Sie kennen mich ja, Pedroni.» «Ja, Signor Kasser, ich kenne Sie», habe ich gesagt, «und deshalb will ich ganz ehrlich sein, und wir wollen es beide sachlich nehmen: Ich komme nicht mehr vorbei mit den Stoffmustern, denn es ist endgültig, diesmal, Signor Kasser, jetzt bin ich am Boden. Nein, schauen Sie mich nicht so an, ich bin ganz. . .sagen wir: nüchtern. Ich weiss, Ihre Schuld ist es nicht. Aber meine ist es auch nicht, Signor Kasser. Wer weiss, vielleicht ist es die Schuld von Gott dem Allmächtigen. Aber mir ist es lieber zu sagen: «Es ist die Schuld von niemandem.»
10 000 Strahleneinheiten, mitten durch, das ganze Netz platzt, und jetzt, jetzt, Pedroni, alles nur leere Haut, so ist die Welt jetzt, ganz leer, innen. Aber wir beide, Pedroni?
Man muss die Tür zumachen können, Signora, und die Welt Welt sein lassen. Denn was bleibt uns anderes übrig, Signora? Wenn wir hinaustreten, weicht sie nur weiter zurück, die Welt, als ob wir sie auffressen wollten. Oder zu wem dürfen Sie reden von der Angst, Signora? Sobald Sie anfangen davon, machen Sie selber Angst, den Nächsten am meisten. Wissen Sie, was ich glaube, Signora? Schweigen ist eine Art. . . sagen wir einmal: es ist unser Liebeszeichen. Wir müssen schweigen lernen, wie die kleinen Kinder reden lernen. So ist es eingerichtet. Manchmal denke ich, die Krankheit hat alles verändert bei mir, überhaupt alles. Jetzt stehe ich leise auf in der Nacht, wenn der Husten schlimm wird, und ich gehe hinunter in die Küche, nehme ein paar Tropfen Novalgin gegen das Ärgste und sitze dann auf dem Schemel und halte mir die Hand vor den Mund. Manchmal muss ich selber lachen: So also sieht die Liebe aus, die reife, Signora: In die Küche schleichen, damit der andere ein bisschen schlafen kann und alles vergessen.
Reden Sie, Pedroni, reden Sie. ich bin nicht die Welt, ich bin das andere und muss ein Stück dazu gewinnen, das heisst doch reden. Pedroni, Sie wissen Bescheid, gerade Sie, nur Sie. Ja, ich schliesse die Faust ganz fest, jedes Wort will ich halten, ich will, aber ich trage nur Luft herum: <Eitel, alles ganz eitel>, ...
Nein, Signora, es hat nichts zu tun damit, dass einer sagen kann: <Ich glaube an Gott>, das ist doch . . . sagen wir: Theorie, Signora, und ich bin nicht Priester geworden, wie meine Familie wollte, weil . . . Spekulation, Theorie, Signora, das alles ist nicht meine Sache. Ich bin... ja: Ganz praktisch bin ich eben. Ich glaube an den Menschen, und darum habe ich Vertrauen, Signora, und Sie, Sie haben keins. Stellen Sie sich doch einmal vor den Spiegel und schauen Sie hinein. Dann können Sie ihn sehen, den Menschen.
Und was halten die Ärzte fest, zwischen ihren Fingern? Was operieren sie? Diesen Menschen?
Aber jetzt, hier, vor meinen Augen, Pedroni, ist alles spiegelverkehrt, ihr Körper ist da und will mich narren, die Haare, die geschlossenen Augen, wie soll ich sehen, so, dass niemand da ist?
Was wissen wir denn, Signora? Nicht einmal was ich anstelle in meiner Brust, was ich mir selber zubereite mit diesen Zellen, die ich zu schnell produziere und aufeinandertürme, nicht einmal das weiss ich. Aber wenigstens kann ich es erdulden, und dafür nützt kein Wissen. Sie müssen aufpassen, Signora, mit dem Denken. Auf einmal drehen Sie im Kreis, und überall sehen Sie Tod. Aber ich möchte nicht reden davon, Signora, und mich befassen damit. Der Tod ist nicht unsere Angelegenheit, Signora. Wir dürfen ihm nichts geben von uns.
Alles ist doch gegeben, Pedroni. Nur ich, ich denke jetzt an Ihr Leben, an nichts anderes denke ich, und ich will leben für zwei, ich will Ihr totes Gesicht vom Gesicht reissen, ich will Ihr wirkliches sehen, ich will den Finger drauf legen und sagen <dieses bleibt, denn ich lebe>. Aber alles eitel, ganz eitel, Pedroni.
Nur in mir muss ich suchen. Ich muss die Augen zumachen, <nichts hören, nichts reden, nichts sehen>, und dann kommen Sie mir langsam entgegen, wie jeden Morgen im Spitalgang, ich weiss, Pedroni, Sie haben einen hellen Kamelhaarmantel, ich weiss, Sie haben den Mantel unten im Keller genäht, ich weiss, Sie sind kaum grau gewesen, ich weiss, erst dreiundfünfzig, ich weiss, ich weiss, aber ich
müsste mich mit letzter Kraft anstrengen, kommen Sie, kommen Sie doch, ich weiss, wie Sie lächelnd den Hut ziehen und dann wieder eine Spur schräg aufsetzen, als wären Sie gar nie dreissig geworden, ich weiss. Aber ich will etwas anderes und muss es anders anfangen. Ganz einfach, ganz praktisch. Schritt für Schritt: Ein Mann kommt durch den Gang geschritten, als wäre er gar nicht krank, er glaubt an den Menschen und spielt hinzu, was nicht von selbst geht, seine Freiheit, er schlendert, er setzt jeden Schritt, als gäbe es keine Anstrengung auf der Welt, als wäre noch immer feste Erde unter seinen Füssen, aufpassen mit denken, aufpassen mit denken, alles ist erst verloren, wenn die Freude verloren wäre.
Das ist doch Unsinn: Auf dem Balkon herumliegen, in Decken verpackt. Das sind alles Bilder, die sich meine Frau ausmalt: Krank, aber glücklich, Pantoffeln statt Schuhe. Ich will es anders, Signora, so, wie ich will, will ich es, und deshalb gehe ich in den dreckigen Wirtshausgarten hinüber und bestelle ein Bier. Zugegeben, es ist nichts Besonderes, wackelige Metalltischchen und Stühle, fürs Jüngste Gericht wäre es zu unbequem. Aber so will ich an die frische Luft, genau so, Signora. Ich bestelle mir ein Bier, die Serviertochter bringt ein kariertes Tischtuch und klemmt es fest, und dann sitze ich da und schaue zu, wie die Leute vorbeigehen und wie sie lachen und sich grüssen, und so gefällt es mir erst richtig, Signora, mitten in der unbekümmerten Welt, ja, danach habe ich Heimweh, Signora, denn so bin ich selber auch gewesen.
<Du sollst dir kein Bildnis . . .>, ja, Pedroni, aber was bliebe jetzt anderes zu machen? Bilder bleiben, alles Missverständnisse, haarfeine, ein ganzes Nerz von Missverständnissen in meinem Kopf. Aber was hält das Netz zusammen? Den leeren Dottersack oder den Fisch?
Tausend Dummheiten, Nichtigkeiten, Kleinigkeiten, Signora, die es nicht einmal wert sind, erwähnt zu werden, wie Wasser rinnt mir alles zwischen den Fingern durch, ein Tag nach dem andern. Da, hier, schauen Sie: Da habe ich einen Brief hingelegt, damit Francesca ihn gleich mitnimmt. Er muss den heutigen Stempel tragen, Signora, sonst ist uns die Wohnung automatisch gekündigt. Und? Signora? Wo ist jetzt der Brief? Meine Frau hat ihn wieder hinaufgelegt in mein Schlafzimmer, einfach so, weil sie irgend etwas anderes denkt, immerzu. Keiner überlegt, was es braucht, eine Treppe hinunterzusteigen, mit meinem Husten. Aber das ist es auch gar nicht, was ich meine, Signora. Das Leben, das Leben verrinnt. Und wofür? Aber es heisst nur: <Jetzt ist er eben nervös.> Nein, ich bin nicht nervös, ich habe keine Zeit mehr für Krimskrams. Sie reut mich, die Zeit, jede Sekunde, jede, jede.
Nein: Das Wesentliche, Pedroni, den Funken zwischen Entweder und Oder möchte ich noch einmal erleben. Aber niemand ist da, nur das Missverständnis, die Hände, der Kopf, kein Funke mehr, alles nur Erde zu Erde, ich habe es gewusst, und doch bin ich gekommen, denn hier ist der einzig sichere Ort. Hier kann ich sehen <er ist nicht da.> Das ist ein Anfang. Denn zu Hause, Pedroni, öffne ich jede Tür und sehe leere Zimmer, ich weiss es zum voraus, aber ich öffne doch. Nein, es ist anders, Pedroni: Ich furchte mich, eine Tür zu öffnen, ich weiss, es liegt keiner da, es sitzt keiner in einem Stuhl, es hustet keiner, es redet keiner. Ich fürchte mich überall, Pedroni, weil Sie nirgends sind, und ich bleibe mitten in jedem Zimmer stehen und bin gefasst, das Missverständis der Missverständnisse werde sich aufdecken, plötzlich . . . <und die Erde wird aufreissen> ... Ich fürchte mich, Pedroni, <in der Welt habt ihr Angst> ... ja Angst, Pedroni, Angst . . . <aber seid getrost> ...
Reden Sie, Pedroni, reden Sie weiter. Heute ist ein schwarzer Tag, wie unser erster ein schwarzer Tag gewesen ist, der 30. Dezember. Ich habe das Ohr an die Wand gelegt, Gefängniszelle oder Folterkammer, toc, toc, toc, vielleicht ist es mein eigener Pulsschlag, toc, toc, toc, oder ist es die Sprache, Pedroni, von einer Zelle zur andern, toc, toc, toc, unsere Sprache, Pedroni?
Ich heisse Giuseppe Pedroni, Sie entschuldigen, Signora, dass ich Sie einfach anrede, heute morgen. Was ist mit Ihren Augen, auf einmal, Signora? Und es ist das erste Mal, dass Sie mir nicht zugenickt haben, seit wir beide bestrahlen. Vielleicht haben Sie . . . sagen wir einmal: einen schwarzen Tag. Ich kenne mich aus, Signora, ich bin schon drei Jahre an der Front, gewissermassen. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Sie gehen jetzt zur Behandlung, und ich, ich warte auf Sie in der Cafeteria beim Eingang. Verstanden?
Verstanden, verstanden, verstanden, toc, toc, toc, ich lege das Ohr an die Wand, toc, jedes Klopfen ein Wort, toc, jedes Wort ein Ausweg, toc.
Signora, ich hole Ihnen einen Kaffee, doch, doch, doch, das kann ich. Hören Sie über den Husten weg, ich und er, wir werden gleich alt werden, so oder so. Trinken Sie einen Schluck, Signora, Strahlenreaktion? Aber das ist es nicht, Signora, nicht wahr? Es ist das andere. Ganz allein ist man eben auf einmal, Signora, ich weiss. Aber drehen Sie den Kopf: Für alle hier ist es dasselbe. Alle müssen die Faust aufmachen, wenn sie jemanden gern haben, alle, Signora. Das kann man lernen, loszulassen meine ich, aber gern haben muss man vorher können. Es ist wie im Krieg, Signora. Man wird nicht ein anderer, aber es zeigt sich mehr, wer man ist. Es gibt Leute, die sind Soldaten, und es gibt andere, die sind Kanonenfutter. Heute sind Sie drauf und dran sich aufzugeben, ich sehe es in Ihren Augen. Aber es passt nicht zu Ihnen, Signora. Es liegt nicht in Ihrer Natur. Sie können ja nicht aus ihr herausfallen, und Sie werden immer Ihr erster Arzt bleiben, lange bevor die andern Ärzte antreten. Ja, Signora, weinen tut gut. Schämen Sie sich nicht. Und die andern . . . wissen Sie, Signora, alle hier haben bittere Hoffnungen, einer wie der andere. Warum schütteln Sie den Kopf?
Wollen Sie nicht mehr hoffen, auf einmal? Jetzt kommen Sie mir . . . sagen wir einmal; sehr jung vor. Ich meine, es gibt eine Zeit, da müssen die Hoffnungen rosig sein, Versprechen schöne, ja, man baut die Zukunft auf damit, eine Hoffnung kommt auf die andere, immer höher und höher.
Aber jetzt ist eben die andere Zeit, Signora. Hoffen ist jetzt eine Arbeit, ich weiss Bescheid, ich bin schon drei Jahre krank, ich muss mich in die Hand nehmen und sagen, morgen ist noch nicht da, aber heute, das ist deine Angelegenheit, heute willst du ein Mensch sein, heute bleibst du aufrecht, so gut es eben geht, auch wenn nichts von selber geht, es ist kein Grund, wie eine Gottbeleidigung herumzukriechen. Ja, Signora, passen Sie auf mit dem Denken, morgen, die Zukunft . . . wir müssen den Verstand in die Ecke stellen, wie ein geladenes Gewehr. Es ist besser, man zwingt sich, richtig zu essen, richtig zu schlafen, als . . . Sie haben doch Kinder, Signora? Eben, das meine ich: Denken wir an die Kinder. Meine Francesca ist jetzt zwanzigeinhalb, und morgen will sie auf den Silvesterball, ja, Signora, wie ein kleines Kind freut sie sich und probiert Kleider an und ... das meine ich, Signora: Die Kinder müssen lachen dürfen, vor uns, sich amüsieren, erzählen . . . ja, wir sind beide ganz aufgehoben, Signora, wir müssen an zu Hause denken.
Zu Hause, Pedroni, ich bin zu Hause gewesen bei Ihnen, darum bin ich hergelaufen, ich wollte wieder zu Hause sein, ich wollte sehen, wie Sie ganz in sich selbst zu Hause sind.
10 000 Srrahleneinheiten mitten durch, und auf einmal ist alles nur noch ein Missverständnis, und was keines wäre, das weiss ich noch nicht. Aber ich will verständig werden, nur der Verstand ist mir im Wege, er lässt mich nicht denken, wie ich mir vorstelle, dass ich denken müsste, ich bin nur vernünftig, erst vernünftig, und doch kann ich mir etwas anderes vorstellen, Pedroni, aber ich werde immer wieder zurückgeworfen, alles nur Stückwerk, nur Bilder, und ich brauche das andere, die Leibhaftigkeit will ich und halte nur Luft in meiner leeren Faust. In mir selbst will ich Sie aufbauen, in meinem Kopf, jede Zelle ein Wort, so denke ich, immer höher und höher, ja, ich denke immer deutlicher, ich höre Sie klarer, ich mache den Mund auf und will schreien . . .
«Gott der Allmächtige», habe ich geschrien und bin vom Stuhl aufgesprungen, «Professore Lanz, was wollen Sie mir eigentlich sagen?» Der Blitz aus heiterem Himmel, vor drei Jahren, Signora, gewiss habe ich gehustet, aber kaum vierzehn Tage lang, nach einer Grippe. Professore Lanz hat mich kommen lassen und mir die Bilder gezeigt, eine Kapazität, der Professore, Tag und Nacht in der Klinik, ein Mann von grossem Format, Signora, letzten Monat ist er einmal um zwei Uhr nachts zu mir gekommen und bis am Morgen sitzen geblieben an meinem Bett. «Herr Pedroni, halten Sie jetzt durch», hat er zu mir gesagt. Ja, ein guter Mann, der Professore Lanz. Was kann et dafür? Er hat mir alles erklärt, vor drei Jahren, haarklein, aber ich glaube, ich habe gar nicht zugehört, oder gar nichts verstanden, zuerst, ich habe genickt und mich einverstanden erklärt mit der Operation, sofort, aber ich habe nichts verstanden. Ich habe einfach gesagt: «Wenn es nötig ist, ich habe Frau und Kind, Professore, ich habe Pflichten, da gibt es nichts zu überlegen.» Aber ich habe nichts verstanden. Und da sagte Professore Lanz: «Lösen Sie vorher Ihr Geschäft auf, Herr Pedroni.» Ich habe gelacht. Ganz richtig, jetzt erinnere ich mich wieder: Ich habe gelacht, und dann bin ich aufgesprungen: «Ich habe acht Angestellte, und meine Frau arbeitet mit. . , Professore Lanz, wollen Sie sagen, ich kann nicht arbeiten nach der Operation? Wie lange nicht? Ein halbes Jahr? Oder ein ganzes?» Da hat der Professore sein Lineal genommen und gespielt damit.
«Francesca ist erst achtzehn, Professore», habe ich gesagt, «sie hat doch ein Recht auf ihre Jugend, und meine Frau . . . und die Angestellten . . . Ich muss genau Bescheid wissen, Professore, von Mann zu Mann: Sagen Sie mir, wie lange ich nicht arbeiten kann im schlimmsten Fall, oder nehmen wir den besten: wie lange nicht im besten Fall? Versuchen Sie nicht, mir jetzt etwas zu ersparen.»
Professore Lanz hat mich angeschaut und gesagt: «Sie glauben gar nicht, wie leid es mir tut, Herr Pedroni, aber ich kann nur sagen, Sie müssen Ihre Schneiderei verkaufen. Auch im besten Fall.»
Hoffen, hoffen, hoffen, operieren und hoffen, drei Monate hoffen, und bestrahlen und hoffen und hoffen und hoffen und wieder operieren und sieben Monate hoffen und hoffen, hoffen, in Gottes Namen hoffen, ja, dann eben hoffen.
Was meinen Sie, Signora? Das Leben ist doch nicht mein Feind, nur weil ich es nicht mehr durchschauen kann. Ich sage mir immer: Wenn es einen Gott gibt, Signora, dümmer als ich kann er ja nicht sein, der grosse Gott. Sehen Sie, ganz nüchtern überlege ich. Am Abend vor meiner zweiten Lungenoperation bin ich noch einen Augenblick auf den Balkon hinausgetreten und habe ein bisschen in die Sterne geschaut. Manchmal kommt man sich eben . . . sagen wir: man kommt sich verloren vor, Signora, und da ist es am besten, den Kopf in den Nacken zu legen und die ungeheuren Distanzen zu betrachten. Ich bin ein einfacher Mann, und Genaues weiss ich nicht, aber diese Distanzen - doch, ich kann mir viel Grosses vorstellen, Signora, und warum also sollte ein grosser Gott, weit über mir, nicht sehen, was ich selber auch sehe?
«Francesca ist kaum zwanzig, was kann sie von ihrer Jugend haben, wenn ich ihr nicht noch ein bisschen zurechthelfe, sie ist zu jung, Padre eterno, ich sehe doch, was ich sehe, bei mir zu Hause. Du bist ein grosser Gott.»
Ich rede vom andern Hoffen, Pedroni, von der Endlosschraube: bestrahlen und hoffen und hoffen und operieren und hoffen . . .
Ja, Signora, Sie, Sie hoffen auch, Sie sind doch ein Mensch. Was wollen Sie anderes sein? Jeden Morgen, wenn Sie mir durch den Gang entgegenkommen, denke ich: <Sie ist die leibhaftige Hoffnung.> Ja, Signora, Sie werden durchhalten, ich weiss, ein, zwei Jahre, und die Forschung kommt Ihnen zu Hilfe; Sie sind noch ganz ungebrochen, Signora. Für mich, wissen Sie - nach drei Jahren Front. . . Aber sagen wir einmal: Ich hoffe, Signora.
Nein, Pedroni, sagen Sie es nicht wieder. Hoffen, hoffen, ich fürchte diese Tretmühle. Das Leben fällt auseinander, ein Stein vom andern, und wir hoffen, hoffen, immer tiefer und tiefer hoffen wir, so ist der Mensch, medizinisch getestet in tausend Rattenversuchen, nein, nein, ich nicht, ich fange nicht an zu hoffen, ich werde mich wehren, zu hoffen.
Gegen ein Unrecht muss man sich wehren, Signora. Dem Dottore Schwander habe ich vor der letzten Bronchoskopie die Hand aus meinem Schlund gerissen. «Passen Sie endlich auf, Dottore», habe ich ihm gesagt, «ich empfinde, ich spüre, ich bin ein Mensch, falls Sie es vergessen haben. Und Sie sind ein Pfluscher und entschuldigen sich nicht einmal bei mir. Ja, drauflos pfuschen Sie, ich kenne mich aus, seit drei Jahren macht man mir die Bronchoskopie. Jetzt werde ich Ihnen etwas beibringen, Dottore. Ich bin nur ein Schneider. Für Sie, Dottore, zähle ich nicht einmal. Aber ich, ich habe mein Métier beherrscht, erstklassig, und ich, ich musste aufhören damit, wegen der Krankheit. Sie dürfen noch arbeiten, Dottore, Sie dürfen. Rufen Sie Professore Lanz, damit Sie es endlich lernen.»
Aber es gibt eine Hoffnungsrutschbahn, Pedroni, Sie weichen mir aus, es gibt den Mechanismus, und wir sehen jeden Tag, wie er funktioniert: Der kleine Eggimann sitzt da mit erloschenen Augen und kann nicht mehr reden. Aber er schreibt auf kleine Zettel: «Danke, es geht schon besser.» Nein, nein, ich will nicht, dass es mich erwischt, nein, ich hoffe nicht, ich bin gesund, ich kann es beweisen, nach der Formel <ich beweise es ja>: Wer am kränksten ist, hofft am meisten, also hoffe ich gar nicht, dann hin ich am gesündesten, ich beweise es ja, wer am kränksten ist, hofft am meisten, also . . . Alles ein Dreh, Pedroni, alles eine Tretmühle,
Angst, Signora, ja, wir haben alle Angst, Warum erschrecken Sie? Sie gehört zum Leben, nicht zur Krankheit, Signora, die Welt ist voll Angst, schauen Sie sich doch um. Manchmal liege ich wach und denke: Sie muss ein Berg sein, die Angst, ungeheuer, und ich, ich habe nur ein Steinchen davon und kann es kaum aushalten. Aber es muss irgendeinen Sinn haben, Signora, das Ganze. Es ist nichts einfach umsonst im Leben. Ich weiss nicht, ob ich recht habe, aber eine Welt ohne Angst, Signora . . . vielleicht gäbe es dann gar kein Erbarmen mehr. So sehe ich das. Denn jetzt schaue ich manchmal die andern an und. . . ja, Signora. . . sie gehen mich alle etwas an.
Aber jetzt ist die Gegenwart explodiert, Pedroni, und es hat mir auch gegolten, ich merke es immer deutlicher, denn vorher bin ich ganz zu Hause gewesen, aufgehoben, geborgen, allem zum Trotz, und jetzt stehe ich hier und . . . <wer sind meine Brüder, wer meine Schwestern? >
Es ist doch nur für ein paar Tage diesmal, Signora. Man wird mir das Blut austauschen, und eigentlich bin ich nur wegen der Verdauung hier. Die ewigen Medikamente, ich weiss es genau, ich vertrage die Medikamente nicht, und ich sage meiner Frau immer wieder: Ich müsste nur den alten Kräutertee haben aus Catania, ja, Signora, es gehört alles zusammen, ich spüre es genau: nur diese . . . Einheit fehlt mir hier. Die Gedanken, die Kost, die Luft, es muss alles zusammenpassen, ich weiss es genau, ich müsste den Kräutertee wieder nehmen. Aber wissen Sie, was ich mir vorgenommen habe, Signora? Sobald ich mich ein bisschen erholt habe, fahre ich nach Catania zu den Brüdern, Sie wissen doch: Zwei sind Ärzte, der andere Rechtsanwalt, ja, in zwei, drei Wochen, denke ich. . . Man kann nicht gesund werden ohne diese . . . diese ganz grosse Einheit. Die Luft ist anders, die Gespräche, und erinnern Sie sich an die Herzlichkeit da unten? Ja, Signora, dort in der Wärme, dort kann ich atmen, ja, ich werde atmen können in Catania, sogar wenn der Scirocco bläst. Ich erinnere mich: Der Scirocco, der hat manchmal geblasen, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Signora - der Onkel blieb mitten auf der Strasse stehen, weil es ihm die Soutane aufwehte. Ja, ich bin ganz voller Bilder, auf einmal, und ich lache, hier in meinem Bett, für mich ganz allein, weil ich den Onkel wieder sehe, wie er sich das schwarze Kleid zwischen die Knie klemmt und den Hut mit beiden Händen festhält und sagt: «Siehst du, Peppino, siehst du, wie es bläst? Aber all das ist nichts gegen das Treiben der Hölle, und in die Hölle wird ein Mann von den Frauen getrieben, denk daran, Peppino, keiner kennt die Ehe besser als ich, bei mir beichten sie, und ich falle in die Knie vor dem Herrn, dass er mich verschont hat mit diesem Elend der Welt. Versprichst du, Pfarrer zu werden?» Oh, Signora, alles ein Traum, ein grosses Gemälde in mir selber, ganz Sizilien. Sie werden sehen: Ich fahre nach Catania in zwei, drei Wochen. Ich beweise Ihnen jetzt gerade: Es geht schon wieder aufwärts mit mir. Wissen Sie wie? Ich stehe jetzt auf und begleite Sie im Mantel bis zur grossen Schwingtür, doch, doch, doch, das kann ich, und ich schaue Ihnen sogar noch ein bisschen nach, wie Sie weggehen, Signora.
Ein ganz harmloses, einfaches Sätzchen, nein, ich fange nicht au zu weinen, ich werfe die Zeit durcheinander, nicht einmal die Erinnerungen gehören mir, Abschiedsbombast, ein Credo nach dem andern alles. <ich schaue Ihnen noch ein bisschen nach, wie Sie weggehen, Signora.> Es gibt andere Erinnerungen, Pedroni, ganz andere: Verlegen, so ist es doch gewesen, so, ganz zuletzt.
Ich habe zur Nachtschwester gesagt: «Den Valpolicella will ich auf dem Nachttischchen haben, basta.» Warum immer Blumen? Weisse Lilien womöglich, die vom Felde . . . Ich bin doch kein Heiliger, auf einmal, und bis ich dreissig war und heiratete . . . sagen wir einmal: Als Mann, jedenfalls, habe ich gelebt. Was sollte mich plagen, Signora? Ich weiss genau, was mir jetzt noch fehlt: Irgendeine. . . ja, eine Einheit, anders kann ich es nicht sagen, der richtige Ausdruck fallt mir nie ein. Aber in Catania . . . Sie verstehen doch, was ich meine, Signora? Denken und essen und . . . aber ich habe es vorher schon gesagt. Meine Brüder werden mich anders umsorgen, als es hier ein Arzt überhaupt kann, vielleicht, weil ich selber ein anderer sein werde, dort unten, es gehört alles zusammen. Meine Brüder - sie haben alle studiert, ich weiss nicht, ob ich es schon gesagt habe, Signora - aber wir bilden eine Einheit, trotz allem, gerade jetzt merke ich es: TORNA SUBITO - CASA SEMPRE APERTA haben sie letzte Woche telegraphiert, aber das habe ich wohl schon gesagt . . .
Nein, nein, Pedroni, Sie haben nichts mehr gesagt, nur ganze Wortschwälle sind zwischen uns gekommen, alles gelogen.
Aber vielleicht ist es anders, Pedroni: Sie haben mich losgelassen, die Wörter durchgeschnitten, mittendurch, damit ich fortschwimmen kann, überleben. Ja, so habe ich es zuerst verstanden, Pedroni, aber jetzt gerate ich immer mehr ins andere, ich will Sie zurückhalten, ich habe Angst, ich will nicht allein vorwärts. Und doch habe ich einen Hochzeitsstrauss mitgebracht .
Pflanzen haben kein Gehirn, Signora, keinen Verstand, das habe ich gelesen. Pflanzen haben nur einen allereinzigen. . . sagen wir einmal: Gedanken. Das genügt zum Wachsen, Signora, nur ein Befehl, nur ein allereinziger Impuls.
Freude. so war es doch, Pedroni, so bin ich hergekommen, allem zum Trotz, die Unvernunft ist ausgebrochen wie zurückgehaltenes Feuer, ich habe gehofft, ganz ohne Verstand, ich kann es. Ich kann sagen: «Jetzt müssen Sie nie mehr sterben, und ich, ich lebe weiter.» Ich kann einen Hochzeitsstrauss bringen. Die Verkäuferin hat gefragt: «Ist er für die Braut, oder den Bräutigam?» Und ich habe die Achseln gezuckt: «Eher fürs Leben der beiden.» Nur der Flieder ist weiss, Pedroni. Sie müssen ja nicht mehr sterben. Hellblauer Rittersporn, Malven, einmal dunkelrot, einmal fast rosig, zitronengelbe Rosen und okkerfarbene Zinnien mit schwarzen Augen, den ganzen Sommer wollte ich bringen, und fünf Feuerlilien, Feuer zu Feuer, Pedroni, das Leben brennt, unsere fünf Monate, alle sollen aufleuchten, denn nichts mehr gehört der Krankheit, ich will die Erde spüren, ich will in die Welt.
<L'aria dolce>, etwas Zartes ist überall, Signora.
Ja, hier sind Sie nicht, aber in der Welt draussen werde ich Ihnen näher kommen, die Zeit gehört mir, Pedroni, ich öffne die Tür wieder: Alles ganz voll Gegenwart, jetzt, ich spüre den Kies unter meinen Füssen, Pedroni, ich sehe die Bäume, ich habe Hände, und Füsse, und Augen, ich bin ganz gesund jetzt, ganz gesund.
Das haben vielleicht nur wir, diese radikale Gesundheit, Signora, ganz plötzlich, ganz absolut: ein richtiger Rausch, immer wieder, von Zeit zu Zeit. Dann bin ich ganz frisch und übermütig, ich kann es nicht erklären. Aber ich stehe auf mit einer Lust - das hat man alles nicht gekannt früher. Meine Frau ist immer hilflos: «Jetzt kannst du doch nicht aus dem Haus gehen», ruft sie dann, und immer kommen ihr gleich die Tränen, poverina. Sie kann es einfach nicht fassen: «Gestern hast du doch Spritzen gebraucht und Sauerstoff, und was willst du heute wieder? Autofahren?»
Ich fahre vom Friedhof weg in unser italienisches Restaurant, jetzt ist es ganz leicht zu reden mit Ihnen, Pedroni, nichts mehr zwischen uns, kein Missverständnis, ich lebe weiter und habe keine Angst, Sie haben es mir doch beigebracht, Pedroni: <Es ist nie unser Feind, das Leben>, ja, Pedroni, ja. Ich bestelle die calamaretti fritti, ich bestelle den frascati secco, ich bestelle die macedonia di frutta, mit ganz frischen Früchten, Sie haben es mir beigebracht.
Essen wir nicht irgendetwas, Signora, das können sich nur die Gesunden leisten. Essen wir GUT.
Jetzt sind die roten Kirschen an der Zeit, ich beisse auf die Gegenwart, Pedroni, sie knackt mir zwischen den Zähnen.
Die Zukunft den Gesunden - aber das Heute uns beiden.
Jetzt, jetzt komme ich zu mir ohne Rückhhalt, ich beerdige Sie in einem Rausch von Leben, Pedroni, und Ihre alte Erfahrung feiert in mir Auferstehung. Den ganzen Sommer spüre ich, Pedroni, ich höre die Wolken, zum ersten Mal, ja, es gibt immer mehr Dinge zwischen Himmel und Erde.

Fünfzehn Titel aus zwei Jahrhunderten
Zu seinem Aufsatz über die Schweizer Literatur hat Gerhard Beckmann fünfzehn Titel ausgewählt, die ihm wichtig erscheinen - unter bewußter Ausklammerung der allerjüngsten Produktion: eine subjektive CH-Bibliothek.
Maja Beutler: Fuss fassen Zytglogge, 240 Seiten, Fr. 29.-
Hermann Burger, Schiiten Fischer TB 2086, Fr. 14.80
Friedrich Dürrenmatt: Turmbau Diogenes, 266 Seiten, Fr. 32.-
Max Frisch: Tagebuch 1946-49. Suhrkamp, 2 Bände, 472 Seiten/432 Seiten, Fr. 39.80
Meinrad Inglin: Der Schweizerspiegel Ammann, 1000 Seiten, Fr. 60.-
Gottfried Keller: Martin Salander Birkhäuser, 370 Seiten, Fr. 39.80
Gertrud Leutenegger: Vorabend Suhrkamp, 200 Seiten, Fr. 25.-
C. F. Meyer: Gustav Adolfs Page Reclam, Fr. 3.-
Adolf Muschg: Gottfried Keller Suhrkamp TB 617,412 Seiten, Fr. 12.-
Gerold Späth: Commedia Fischer, 443 Seiten, Fr. 34-
Walter Vogt: Wüthrich/Der Wiesbadener Kongress
Nagel & Kimche, 432 Seiten, Fr. 44.-
Peter Bichsel: Eigentlich wollte Frau Blum den Milchmann kennenlernen Walter, 64 Seiten, Fr. 9.-
Robert Walser: Jakob von Gunten Suhrkamp, 190 Seiten, Fr. 32-
Otto F. Walter: Zeit des Fasans Rowohlt, 616 Seiten, Fr. 42.T.

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Flissingen
fehlt auf der Karte
Geschichten
1976
Zytglogge
3-7296- 0051-6
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Und nun, meine Damen und Herren, Platz gemacht für die absolute Weltsensation: DER MANN MIT DEM NEUEN GEFÜHL
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Die Sache mit Flissingen steht nicht fest
Flissingen fehlt auf der Karte. Wir können annehmen, dass es 60 000 Einwohner hat, eine Hauptstrasse mit Geschäftshäusern zu beiden Seiten, zwei Kirchen, eine katholische und eine lutheranische, die Marienkapelle und ein Heimatmuseum. Nördlich der Stadt, am Fluss, hat man römische Funde gemacht: 5 Münzen, 3 Wasserkaraffen (Amphoren) und 3 Lanzenspitzen. Ein Schwimmbad ist geplant, und letztes Jahr ist in der Grundschule eine fünfte Klasse eröffnet worden.
Aber man könnte anders von Flissingen reden: Der Name leitet sich mit grösster Wahrscheinlichkeit von flootsen ab, später floot-singen. Floss, Fliss. Wie sich der Name ins i gespitzt hat, ist den Germanisten ein Rätsel. Es scheint also, dass Flissingen einen Fluss hat, dass Wälder da sind und sich die Holzindustrie zwangsläufig angesiedelt hat. Es ist auch anzunehmen, dass Flissingen einen «Kirgel» hat. Jede Stadt hat ihren Kirgel, und am Sonntag gehen Eltern in Wanderhosen und gescheckten Sommerröcken mit ihren Kindern auf die Drahtseilbahn. Die Kinder winken an der Zwischenstation der talwärtsfahrenden Kabine zu, und es bellt ein Hund. Die Leute lachen, und von der Kirgelhöhe sieht man auf Flissingen hinunter: Bei klarem Wetter sogar die Marienkapelle, auf alle Fälle aber zwei Kirchtürme und das Holz vor den Sägereien.
Der Fluss umfliesst die Stadt, und die Sonne scheint. Flssingen wäre eine deutsche Stadt, auch wenn es sich nicht auf der Karte finden lässt. Gefährlicher ist, dass irgendeiner einmal aus Flissingen kommen könnte..
Und zu reden anfinge. Zum Beispiel, wie er da Wache gestanden habe, im Gehölz am Kirgel. Oder wie er eigenhändig geholfen habe, sie auf dem Marktplatz zusammenzutreiben und sie dann in die Eisenbahnwagen zu pferchen. Wie er aber sogar dann noch nicht begriffen habe. Nein, nein, sogar dann noch nicht. Oder er könnte eine andere Geschichte in Umlauf setzen:
«Wir hatten ein Haus in Flissingen damals. An den Hang gebaut. Beim Fluss unten. Wir sahen vom Esszimmer aus direkt auf den Fluss, Unsere Nussbaum-Bibliothek war eingebaut. Sie hing nachher wie ein Bretterverschlag an den Wänden.»
Oder er könnte noch einmal davon anfangen: «Für uns Junge hatte es nicht nur negative Seiten, ich sage ausdrücklich nicht nur. Denn sehen Sie, wir hätten doch Zusammenhang dadurch, ja, Zusammenhang hatten wir. Am Samstag nach der Schule sind wir losgezogen auf den Kirgel in unser «Jugendheim», wir haben gesungen zusammen, wir haben ums Feuer gesessen zusammen. Und es ist immer sauber zugegangen, das darf ich sagen: Die Mädels hatten ihr Stockwerk, die Jungens hatten ihr Stockwerk, und da ist nie etwas passiert,nie. Das dürfen wir doch nicht vergessen.» Oder er könnte das Ende erwähnen:
«Wir haben sie kommen sehen über den Fluss. Die Panzer mussten immer zweimal ansetzen, und meine Frau weinte. Auch wenn es für uns ja die Erlösung bedeutete, das, worauf wir sechs Jahre gewartet hatten. Gott, fangen wir nicht wieder an. Wissen Sie, was das heisst: Nullpunkt?»
Es könnte einer reden, und das wäre das Wenigste, denn Flissingen lungert in der Welt herum. Es könnte ausbrechen und uns suchen. Wie, wenn wir in Flssingen gewesen wären? Flootsen heisst obenauf schwimmen. Genügt es, nicht dort gewesen zu sein? Die Sache mit Flissingen steht nicht fest. Es lässt sich auf keiner Karte ausradieren.

Ein literarischer Erstling? Von <Erstling> ist diesem Buch wenig anzumerken. Maja Beutlers Sprache hat Profil, die Satze sind präzis, die Satzfolgen stimmen. Mit wohldosierten Mitteln versteht es die Autorin, Personen oder Vorgänge darzustellen, Environnements griffig zu skizzieren. Sie weiss, wie man Dialoge, aber auch, wie man innere Monologe schreibt. Ihre Geschichten spielen auf mehreren Ebenen zugleich und verweben kunstvoll, doch mühelos Lebenssituationen mit ihren Möglichkeiten, die Gegenwart einer Figur mit ihrer Vergangenheit und Zukunft. Bürgerlicher Alltag gewinnt dadurch Perspektive, die auf Realitäten verweist, wie sie dem Raster des Nur-Realismus entgehen. «Flissingen fehlt auf der Karte», «Es lässt sich auf keiner Karte ausradieren»: diese beiden Sätze, die eine der Geschichten eröffnen und schliessen, stecken das weite Feld der Wirklichkeit ab die Maja Beutler in ihrer Prosa entfaltet, sensibel und diszipliniert, imaginativ und dennoch (oder gerade deswegen?) bedrohlich lebensnahe. Keine gemütliche Lektüre, scheint mir. Aber ein Buch, das zu mehrmaligem Lesen beinahe zwingt.
Kurt Marti

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