Kleine Wörter - grosse Piraten
1999 erhielt der Schriftsteller Matthias Zschokke den Aargauer Literaturpreis. Maja Beutler war Mitglied der Literaturkommission und hielt die Laudatio:
(Zu den Musikern) Herzlichen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war das erste Zschokke-Zitat des Abends - 'Herzlichen Dank ' - Blick zu den Musikern inklusive.
Entschuldige, lieber Matthias Zschokke, dass ich schon von Dir lebe, eh ich überhaupt angefangen habe. Aber ob es uns passt oder nicht: wir befinden uns hier in Szene 1 Deines Theaterstücks 'Die Alphabeten' - einer literarischen Preisverleihung. Leider wird sie böse enden, drunter tust Du's ja nie, es kommt zu wüsten Verwechslungen von Damen- und Herrentoilette, plus spitzen Bemerkungen zur Rede. Zweites Zitat:
"Und sowas soll nun das garantiert Beste der Saison sein? Das war doch nichts, oder?"
Zur Strafe, meine Damen und Herren, müssen Sie die Honoratioren darstellen - verwechseln Sie es bitte nicht mit Zuschauern: die müssten für den Sitzplatz bezahlen. Sie, dagegen, sind inszeniert. Relativ schlicht: Jedermann stellt sich selbst dar. Tun Sie, als hörten Sie zu und schlagen Sie die Beine übereinander. Das Linke bitte über das Rechte, auf mein Zeichen hin wird gewechselt. So können Sie die Sache im Chor erledigen, wie's Matthias Zschokke beim Schreiben vorschwebte - ich stütze mich ganz auf seine Regieanweisungen.
Auch was das Hüsteln anbelangt: Bitte einzeln - Alphabeten sind Individualisten. Am besten, wir beginnen ganz vorne links - Matthias Zschokke ist ein politischer Autor: Von hinten gesehen wäre links rechts, wie vorne hinten - alles eine Frage des Standpunkts. Etwas nicht klar? Im Stück vorgesehen: Die allgemeine Nervosität breite sich bitte sternförmig von der Mitte aus. So, das wäre geregelt. Vom Preisträger selbst - ich möchte es noch einmal betonen, ich habe hier nichts zu sagen, ich spiele nur Dr. Seet, die Kulturhyäne. Trübe, trübe, dass wir samt und sonders festgeschrieben sind wie wir nie scheinen wollen.
In seinen Büchern treibt es Matthias Zschokke kein Haar besser: notiert unsere Verschämtheit als wäre es seine, und beim Lesen geht uns jedermanns Lächerlichkeit auf.
Schon in seinem Erstling 'Max'. Da war der Autor 26 Jahre alt, aber zwischen den Zeilen rumorte schon jedermann - nicht der von Hofmansthal. Hören Sie selbst:
... er stellt sich vor, der (andere) denke von ihm, er sei ein Verrückter, ein Irrationaler, ein Faszinierender, und das tut ihm gut. Er hat dann den verlangten Beweis einmal mehr erbracht. Den Beweis für die totale Freiheit des Individuums, der von jedem Bürger unseres Staates einmal wöchentlich verlangt wird, damit der Staat weiterhin behaupten kann, ' bei uns ist alles erlaubt, wir sind ein freies Land'. Max leidet stark unter diesem Zwang zum Individualismus.
Matthias Zschokke bekam für dieses erste Manuskript den Robert Walser-Preis. Mit einem Paukenschlag also hat der junge Autor die Schweizer Literaturszene betreten.
Und tatsächlich: ein neuer Ton wurde angestimmt, unangestrengt und heiter, gewisse Passagen erinnerten an den verspielten Mozart der Briefe an Nannerl. Und doch drängte sich bei Zschokke eben der andere, der schweizerische Vergleich auf: sein Max walserte.
Schon im zweiten Roman, 'Prinz Hans', schien Zschokke bewusst mit der Parallele zu spielen.
Hören Sie doch, wie Robert Walser - notabene 1907- sein Prosastückli 'Kutsch' eröffnete:
Ach Gott, Kutsch ist so arm, so weltverlassen. Man bedenke, er strebt nach nur Hohem und Erstklassigem. Er ist nicht ein Mensch wie andere Menschen, gerade so, wie die meisten Menschen nicht Menschen sind, wie andere Menschen.
Als Kontrapunkt dazu nun Zschokkes Variationen, eine Stellungnahme von Hans zu sich. Ich lese einen winzigen Ausschnitt:
Ich verkaufe Zeitungen aus einer Laune. Natürlich bin ich bei weitem kein Zeitungsverkäufer. Das dürfen Sie nicht denken. [ ... ] Ich tue das doch nur, um damit Geld zu verdienen. Die andern tun es, weil sie es sind. [ ...]Oder ich sage, die Türken müssen raus. Aber ich weiss, was ich damit meine. [ ... ] Als gestern jener Türke von Polizisten etwas ruppig auf die Strasse gelegt wurde, da habe ich mich innerlich empört und weggeschaut; nicht, wie mein Nachbar über mir, der, davon bin ich überzeugt, weggeschaut und gedacht hätte: <Recht so>. Diese Mitläufer! Ich kenne sie.
Ich frage mich, ob Matthias Zschokke auch Bundesrat Ogi kennt - ich meine sein Erfolgsrezept: 1. Problem erkennen, 2. Lösung suchen. Zschokke hat nämlich eine Lösung für Hans: Es muss ein neuer Ausweis eingeführt werden, der exklusiv anderen zusteht. Damit können Sie sich andern anderen flugs als andere zu erkennen geben und peinliche Missverständnisse unterbleiben.
Ich, ich hätte mir den Ausweis heute gerne besorgt. Denn bitte, glauben Sie wirklich nicht, dass ich hier rede - ich würde das ganz anders anpacken - es spricht Dr. Seet, Jurymitglied des hiesigen Alphabeten-Theaters. Ich könnte Ihnen beweisen, dass ich keinen Doktortitel habe und weder ledig, noch 47 Jahre alt bin, wie's dem Autor beim Schreiben vorschwebte. Strenggenommen bin ich ja nicht einmal ein Mann. Aber das sind leere Tröstungen. Die Zschokke-Rolle klebt mir schon derart am Mund, dass ich nicht einmal garantieren kann, ob im Laufe des Abends nicht Seets väterliche Maxime hervorblubbert. Sie lautet: Das Problem ist leider, dass zwar viele zu siegen verstehen, aber kaum einer zu schreiben.
Ach, wenn ich persönlich das Gegenteil zu denken vermöchte. Ich bin doch nicht Herr Dr. Seet. Aber - gleich dürfen Sie im Chor zum ersten mal Bein wechseln - ich bin auch keine Frau.
Da hätte ich mir ein spontanes Hüsteln vorstellen können. Wenn nicht gar ein Spürchen allgemeiner Nervosität. Es hätte mich glauben lassen, dass ich eine Frau ebenso zwingend darstelle wie den Seet.
Gleich haben Sie Ihre zweite Husten-Chance: mit dem Preisträger selbst. Er ist spiegelverkehrt - kein Mann aus einem Guss.
Ich verbreite keine Gerüchte, ich halte mich streng an sein Werk: Matthias Zschokke hat einen Roman publiziert mit dem Titel 'ErSieEs'. Untertitel: 'Der in der Abendsonne Sitzende'.
Der Protagonist muss sich auf der ersten Seite schon einem Verhör stellen: "Name?"..."Ersieës de Glych" - ein paar Sätze weiter wird klar, dass der junge Mann gar nicht vor Gericht steht, sondern vor einer Arztgehilfin im Labor, sie muss entscheiden, ob er gesund genug ist für medizinische Versuche. Das brächte Ersieës die nötigen Moneten, um nicht zu verhungern, und gleichzeitig wäre er der Menschheit nützlich. Allerdings kann Ersieës sich ebenso gut vorstellen, Experte für Schauspielkunst zu werden, oder Bäuerin mit Gemüsesuppe, wenn nicht doch lieber Erstklässlerin.
Sie hören's: der junge Mann ist auch eine Frau und schwupps, ein Kind. Aber immer 'de Glych' ist er.
Die DDR-Autorin Irmtraud Morgner hat beschrieben, wie sie bei der staatlichen Wohnungsvermittung einen Antrag auf mehr Raum stellte, obgleich sie weder Trauschein noch Schwangerschaftsattest vorzuweisen hatte: 'Ich brauche das zweite Zimmer für den Mann in mir. '
Ersieës hätte also drei zugute - auch das Kind in ihm muss irgendwo rumoren können. Auf einer einzigen Buchseite wechselt Ersieës oft zweimal das Geschlecht, redet mit einemmal als Kind daher, wo er als Mann begonnen hat, und das Kind schaut sich auf der Strasse um als Frau, und beides geschieht mit einer Beiläufigkeit, dass keine Zäsur im Satzgefüge nötig ist, um den Wechsel anzuzeigen.
Der Geschlechtsumschlag ist auch nicht Thema des Buchs - das Pronomen wechselt: er-sie-es, basta. Schliesslich stellt jedermann eine unheilige Dreifaltigkeit dar. 'Klee ist der Mensch, dreiblättrig welket er dahin'. Schade, fehlt ausgerechnet dieser Hinweis in der Bibel. Wechseln Sie einmal Bein, da haben Sie wenigstens nur zwei.
Kleine Anfrage: Wäre Ihnen wohler, Ihr persönlicher Geschlechtsreichtum wäre Ihnen nicht bewusst geworden, via Ersieës? Literatur ist ja nicht einfach Literatur.
Mein Buchhändler hat sich zu Reklamezwecken neue Buchzeichen drucken lassen. Es steht nichts aufgedruckt als das schwarze Wörtchen leben. Allerdings ist es korrigiert, das b mit einem roten Federstrich durchgestrichen und mit s überschrieben. So heisst es lesen. Vive la petite différence.
Ein Mann, der 'ErSieEs' gelesen hat, bleibt gottlob de Glych. Nur wird er sich langsam fragen, ob das Männlichste an ihm nicht doch seine Frau sei, und das Infantilste an beiden das ewige Erwachsen-sein-wollen. Eben: Matthias Zschokke ist ein politischer Autor. Nur die Politik als Politik kümmert ihn nicht - sie besteht aus Sachzwängen. Just in die möchte sein Ersieës nie geraten.
Er möchte ins wirkliche Leben hinein. Nein, er wird nicht eingelassen. Ein moderner Charlot, beinah, der eifrig klopft und rennt und hebelt und fürs Fliessband doch nicht genügt. Er kann nicht fassen, wie andere geölt funktionieren. Denken sie nichts? Jedes Wort heisst so viel.
Schon deshalb legt Ersieës im ganzen Roman nie fest, was weiblich bedeutet und was männlich. Das Grunddilemma ist ohnehin menschlich. Ersieës verdichtet es beinah zu einer chemischen Formel: " Ich setze mich zu jemandem, um mich mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten."
Die Angst zu verknöchern und die gleichzeitige Reserve zu leben - das ist das eigentliche Thema von Zschokkes Werk. Neben Ersieës in der Abendsonne sitzt das kleine Sterben.
Vielleicht steht es just in den Momenten auf, die Ersieës als Aufbruch zu neuen Ufern versteht. So wartet er eines Abends in einer Pianobar auf sein weibliches Ebenbild - es wird Sie nicht erstaunen, dass es auch Ersieës heisst - er wagte ihm bis anhin nur zu schreiben - jetzt also kommt es, eine wunderbar stille zögerliche Frau, er führt sie aufs Tanzparkett und nimmt sie zum ersten mal in die Arme. Hören Sie, was passiert:
Sie lässt sich nicht gern führen, ein sperriges Paar; seine Hand auf ihrem Rücken, manchmal ein Druck mit dem Daumen, dann wieder nur wie ein Hauch zu fühlen, dann ein Zeichen mit dem kleinen Finger - unverständliche Signale, angenehm; er kriegt rote Wangen, freut sich, sie macht zu grosse Schritte rückwärts, kippt gelegentlich vom Absatz, lacht, [ ... ] genaugenommen stehen sie eher an einer Stelle, als dass sie tanzen, beide hölzern, steif, er streicht ihr übers Gesicht, sie streicht ihm den Rücken mit flacher Hand. [ ... ] dann gucken beide vor sich auf den Tresen ...
Raus, die Luft. Die zwei haben sich schon verfehlt, ohne ein böses Wort, ohne körperliche Abneigung - das kleine Sterben war nur stärker.
Auf der nächsten Buchseite führt Matthias Zschokke fast exemplarisch vor, wie nebensächlich Handlung ist. Dem Tanz kommt erst Bedeutung zu, wenn wir als Leserinnen und Leser wissen, was in Ersieës vorgeht.
Wie löst Matthias Zschokke das Problem rein handwerklich? Indem er zur Spiegel-Form von Handlung greift - dem Brief nämlich, der alles sein kann ausser Handlung. Ersieës schreibt seinem väterlichen Freund:
Lieber, mir geht es schlecht. Ich war gestern in einer Pianobar, [ ... ] hab sie dazu eingeladen ] ... ] Was ist geschehen?- Nichts - oder doch, sehr viel: Sie ist verschwunden, nachdem ich einen Tanz mit ihr versucht habe - Du weisst, dass ich gern und gut tanze: So hölzern und schief hinge ich nicht mal in der Eiger-Nordwand, wie ich gestern dort stand - selbst zu atmen habe ich vergessen, wurde beinah ohnmächtig - gefriergetrocknet - lächerlich! [ ... ] ich fühlte mich bloss sterbensmüd, nahm ein Taxi nach Hause und schlief zehn Stunden, und jetzt stumpf// daran kann doch nicht nur 'unsere Zeit' schuld sein! Mit sachlicher Freundlichkeit wohnen wir unserer eigenen Erstarrung bei - 'bis bald' winken wir uns matt lächelnd zu und versinken. Wir träumen doch alle was anderes! Warum bewegt es sich nicht! Nichts als Geflatter!
Natürlich habe ich diese Tanz-Episode mit Hintergedanken ausgewählt. Zum einen, weil sie die Vielschichtigkeit und Formenvielfalt des ganzen Buches zeigt, zum andern aber, um so recht von Herzen zu jammern: Wie sollte ich Ihnen Zschokkes ganzes Werk nahebringen können, wenn das Eigentliche zwischen den Zeilen passiert? Schon dieser kleine Ausschnitt ist nicht wirklich nacherzählbar. Und ihn zusammenzufassen .... Ach ja, Handlung liesse sich zusammenfassen.
Zschokke selber stand vor ganz ähnlichen Problemen mit dieser Passage. Später, meine ich. Er hat sie nämlich dramatisiert und den Dialog gleich zweimal verwendet: Zuerst im Theaterstück 'Die Alphabeten' - da hocken wir jetzt mittendrin - dann im Spielfilm 'Erhöhte Waldbrandgefahr'. Diese neuste Arbeit von Matthias Zschokke wurde vor ein paar Wochen am Filmfestival von Locarno uraufgeführt - ohne den grossen Preis, zwar, aber mit grossem Erfolg.
Und jetzt glauben Sie natürlich, Dr. Seet werde Ihnen den Dialog präsentieren. Ich tanze erst im 2. Akt der 'Alphabeten' in der Pianobar - mit einer blutjungen Dichterin, übrigens. Wir sind aber noch im 1. Akt. Gottlob. Wie ich die steifleinene Erotik hinkriegen könnte und gleichzeitig auch noch die gebrochene Stimmung des Briefes in Körperhaltung umsetzen ... Nein. Wirklich lieber den Filmdialog. Es ist ja wortwörtlich derselbe. Nur kommt in 'Erhöhte Waldbrandgefahr' Dr. Seet leider nicht vor. Zum Davonlaufen, nicht, wo ich doch da wäre. Jetzt werden Sie nie erfahren, was passiert, wenn derselbe Text von einem anderen Liebhaber gesprochen wird: Jedes Wort heisst etwas anderes. Möchten Sie Bein wechseln?
Der Name Matthias Zschokke fällt selten, wenn Kritikerinnen und Kritiker die wichtigsten Schweizerautoren der Gegenwart aufzählen. Seine Bücher und Stücke werden zwar mit schöner Regelmässigkeit besprochen, zuweilen geradezu tirillierend, auch in Deutschland; seine ersten Stücke wurden auf eine Ebene mit Büchners 'Leonce und Lena' gestellt. Aber dass Zschokke nach Marguerite Duras der einzige Schriftsteller ist, der kontinuierlich filmt, und dass er sich durchaus wie Marguerite Duras ein eigenes Genre von Film, von Theater und Roman geschaffen hat - das habe ich noch nie erwähnt gefunden. Geschweige denn, dass am Fernsehen - im 'Literatur Club' etwa, oder im 'Literarischen Quartett' - Zschokkes schmaler Berlin-Band 'Der Dicke Dichter' dem Wälzer von Günther Grass, gegenübergestellt worden wäre, 'Ein weites Feld'. Fürs Nachdenken, was Wende heissen könnte, genügen die Sendeminuten nicht. Vielleicht auch nicht die Köpfe.
Warum aber wird der Name Matthias Zschokke vergessen, wenn die Namen der Erstliga- Schweizer-Autoren proklamiert werden? Weil er in Berlin lebt, vielleicht, oder weil er zu facettenreich ist?
Vermutlich wüsste es Adelheid Duvanel besser. Sie hat sich vor ein paar Monaten das Leben genommen. Eigentlich wäre es richtiger zu sagen: Sie hat die Armut nicht länger ausgehalten, die sie in Kauf nehmen musste, um Zeit zum Schreiben zu haben. Adelheid Duvanel wurde vom Feuilleton betrauert als eine grosse, als eine der wichtigsten Autorinnen. Aber 1994 hat sie in einem Brief über die Rezeption geklagt:
Man spürt, dass das Buch ernst zu nehmen ist, aber man weigert sich. Vielleicht, weil es so leicht wirkt. Wir sind das in der deutschen Literatur nicht gewohnt, da muss man in Stiefeln daherkommen, um ernst genommen zu werden.
Matthias Zschokke ist ein Seiltänzer, federleicht riskiert er sein Leben. Wozu dran denken? Andere Autoren treten ihrer Leserschaft in die Magengrube - das prägt sich ein.
Im Roman 'Piraten' knöpft sich eine höfliche Zschokke-Figur - sie sind immer höflich - einen grossmauligen Autor vor, und für einmal platzt dem Höflichen der Kragen:
"Empfindungsprotz [ ... ] Verzeihen Sie, aber ich verabscheue jede Form von Gefühlsberserkerei - da muss ich reagieren. Schauen Sie: ich setze mich ein für die einfachen Wörter, die einfachen Sätze, weil sie einen genauer hinhören lassen. Homöopathie in der Sprache! Was halten Sie davon?"
Auf Seite 1 des Romans wird Ersieës Testperson für Medikamente - ein kleineres, ein unaufwendigeres Wort als 'menschliche Versuchsratte'. Auf der letzten Buchseite hängt Ersieës am 'Tag der offenen Tür' im pharmazeutischen Labor als Ausstellungsobjekt: Ecce homo - im 20. Jahrhundert ein medizinisches Exponat.
Zschokke bedient das Pathos von Golgatha nicht: keine Rohlinge bohren blutende Wundmale - Besucherinnen werden mit Rütchen bewaffnet, alles bleibt harmlos, eine Kreuzigung via crossover-Vergleich, ganz banal. Eine Frage, ob Judas oder ob Petrus heutzutage Assistent in der Pharmaindustrie ist. Vielleicht projiziert Dr. Seet zuviel hinein. Urteilen Sie selbst:
Zwei Rentnerinnen betrachten Ersieës. "Interessant. Eine Art Flügel sind da gewachsen..." „Nein", erläutert ein junger Assistent in weissem Kittel { ... ] "das sind Ablagerungen von Fluocortinbutyl nach rektaler und intravenöser Abgabe im crossover Vergleich. Sie sind absolut unbrauchbar, unbeweglich. Eine Art Höcker eher. Sehen Sie, Sie können sie anfassen. Schlecht durchblutet. Schmerzen verursachen sie keine [ ...]Möchten Sie mal schlagen?", er reicht eine lustige Rute. Eine Rentnerin schlägt. Ersieës lächelt dumm.
"Darf ich auch mal?", fragt die zweite. [ ... ]Ist ja erstaunlich. Kann es sprechen? [ ... ] Tut das weh?" (sie schlägt) - "Ja", sagt Ersieës. - "Ach, so! Es tut weh?!! - Entschuldigung. - Warum hängen Sie es dann hin und lassen uns schlagen? Ist ja unverschämt!" -
"Weh, weh! Dummes Geschwätz", sagt der Assistent, "natürlich sind die Reize noch zu spüren. Aber wir haben mit elektronischen Tests und auch mit neuen chemischen Prüfmethoden die Schmerzempfindlichkeit gemessen. [ ... ] Auch wenn Sie sich vorstellen: Es hängt nun schon sieben Stunden hier. Ich nehme nicht an, dass Sie das durchstehen würden."
Matthias Zschokke schreibt in keiner Diktatur, er hat nie zu kämpfen gegen Zensur. Die freie Marktwirtschaft schafft's von allein. Wissen Sie wie? Wer nicht bestsellert, kann nicht existieren vom Schreiben. Vogel friss oder stirb.
Meine Damen und Herren, richten Sie sich kerzengerade auf: Für Autorinnen und Autoren stellen Sie eine Macht dar. Um Sie wird gebuhlt, im Schreibgeschäft. Eigentlich fungieren Sie als Literatur-Konsumenten, aber noch eigentlicher als Zensur in der Demokratie: Was Ihnen nicht gefällt, und zwar auf Anhieb gefällt, droht nächste Saison weggeputzt zu sein.
Auch ohne dass Sie sich räuspern weiss ich, dass es in jedem Beruf um Angebot und Nachfrage geht. Ein Uhrenfabrikant kann auch nicht von seinen Uhren leben, wenn sie zuwenig Absatz finden. Richtig.
Allerdings besteht ein kleiner Unterschied: Jedermann sieht auf Anhieb, ob die Uhr läuft, und ob sie die richtige Zeit angibt. Bei einem Buch sieht es niemand. Ausser Dr. Seet, natürlich. Seien Sie getrost: Im 3. Akt hintersinnt er sich, weil der Markt die Falschen hochspült.
Robert Walser ist heute der Vorzeigeautor der Schweiz. Mit der Lupe sind seine unveröffentlichten, in Miniaturschrift gekritzelten Bleistiftmanuskripte entziffert und publiziert worden - seinerzeit hat Walser nicht einmal mehr einen Verlag gefunden und ist schliesslich verstummt. In 'Kutsch' -- wir haben die ersten Sätze des Prosastücklis schon gehört - schrieb Walser:
Ich aber gehöre entschieden unter die Hunderttausend. Ich bin zum Verwechseln einem Hausdiener ähnlich, und ich bin froh, so gewöhnlich zu sein.
Walsers Biografie hat diesem Satz eine Dimension zugefügt, die er 1907 nicht hatte. Heute lesen wir eine Selbsprophezeiung mit ein, vielleicht den trotzigen Kommentar zu den Anstaltsjahren in Herisau. Walser konnte beides nicht bewusst einschreiben.
Sowenig als Franz Kafka die Chiffre des Holocaust eingeschrieben hat. Sein Georg Samsa, der eines morgens als Käfer erwacht, ist nicht aus dem Bewusstsein entstanden, dass Juden über Nacht zum Ungeziefer erklärt würden. Vielleicht aber, dass Kafkas Romane und Erzählungen erst durch die politische Schreckensrealität transparent wurden.
Sie brauchen nicht zu hüsteln: Ich rede (schon) die ganze Zeit über von Matthias Zschokke. Ich glaube nämlich, dass sein Werk getrost überwintern kann, an die fünfzig Mal, wenn's sein muss - dann wird es Frühling haben.
Ich vermute, vor allem 'Der dicke Dichter' - sein Roman zur Wende in Deutschland - werde einmal etwas anderes heissen, als wir heute lesen. Jetzt steht erst da, wie einer mit heiterer Gelassenheit verzweifelt. Es stösst ihm nichts besonderes zu, dem dicken Dichter, es geht ihm wie jedermann: Seine Hoffnungen sind ranzig geworden. Vielleicht, dass sie schon Feigheit sind - die Feigheit, zu Ende zu denken. Was kann er denn ohne Zukunft schreiben, der dicke Dichter?
...so eine nachgelassene Prosa stelle ich mir vor, eine Prosa, der die Zeit fehlt, sich zu verstellen; die davon spricht, dass einer keine Freunde weiss, keine Liebe, kein Glück, aber auch keine Feinde, keinen Hass, kein Unglück - ein Zustand, wo jede Spitzfindigkeit schal und trüb wird, wo mit unverblümter Offenheit hinter allem die Banalität hervorgrinst, die Banalität, die es schliesslich ist, immer, bis in alle Ewigkeit, nichts als die überwältigende Banalität, der Staub, die Wand, die Stühle - wenn das nicht bereits zu grosse Wörter sind dafür. Also einfach: der Staub.
Zschokke leistet sich den Schabernack, das politische Ereignis der Wende links liegen zu lassen, aber selbstironisch setzt er ständig dazu an, den von der Branche mit Ungeduld erwarteten 'Grossen Roman zur Wende' zu schreiben. Lediglich das bisschen Realität kommt dem dicken Dichter ein Buch lang dazwischen:
Weisst du, Lieber, selbstverständlich sind grossartige Dinge passiert in letzter Zeit, historische Ereignisse, die uns alle tief bewegt haben, will man der Geschichtsschreibung Glauben schenken, und selbstverständlich prägen diese grossartigen Ereignisse und Veränderungen das Gesicht so einer Grossstadt, [ ... ] wir alle sind ganz aufgewühlt davon, und ich bin der erste, der wie alle tief erregt ist davon und voller Tatendrang steckt [ ... ] diese Weltereignisstadt werde ich bändigen, vertrau mir, [ ... ] noch schlafen mir die Stadtbewohner allesamt schlicht weg, kaum will ich sie loslegen lassen, sie trinken einen guten Schluck billigen Schnaps, legen sich auf die Bürgersteige [ ... ] und das sind die einzigen, derer ich habhaft werde, die andern sitzen stundenlang in schlechten Theateraufführungen.
Matthias Zschokke ist ein politischer Autor. Er führt in einer Unzahl von Geschichten vor, dass Politik heute Fiktion bedeutet, und dichterische Phantasie Sinn für Realität.
Zschokke beschreibt nichts als den verleugneten Alltag, der nie Geschichte machen wird. Wenn sein dicker Dichter davon erzählt - einem Severinchen, übrigens, denn nur ein Kind hört überhaupt noch hin - aber auch das Severinchen möchte nicht wissen, wie sich's in Berlin wirklich lebt. Es mault und reklamiert durchs ganze Buch:
"Jetzt erzähl mir eine Geschichte,[ ... ], aber nicht so eine laue Suppe, dass mir vom Anhören die Ohren welk werden. Eine Geschichte, die auch Amerika versteht, etwas Kräftiges.
Ja, meine Damen und Herren, das könnte uns auch so passen. Wir wollen auch nicht wirklich leben - Roman total möchten wir, selber in einen Roman hinein, wo wir lauter Sätze fallen liessen, die uns nie einfallen. Und unser Partner oder unsere Partnerin würde uns endlich - ein einziges Mal wenigstens - den Satz sagen, der unser Leben auf den Kopf stellen würde - wie nur ein Satz im Roman die grosse Wende herbeiführen kann. Ach, wie der Dicke Dichter selbst sich nach der story sehnt, die nicht stimmt - auch ein dicker Dichter hat einen faustdicken hinter dem Ohr, der ans Zuckerzeug möchte.
Er schreibt es sich selbst brillant hin, wahre Bonbons literarischer Spiegelfechterei. Vom armen, armen Zigeunerjungen etwa, der den reinseidenen Berliner beklaut, aber nicht verzeigt wird, oh, das weiche Herrenherz; in der Wohnung oben schlägt's für das Zigeunerkind, wie's nie dürfte, so lusthuldvoll, dass der dicke Dichter aufseuzft:
Solche Sachen kann ich stundenlang lesen. Und ich sitze da und starre vor mich hin, habe selbst keine solche Geschichten zur Hand, [ ... ] diese Leben, die nie gelebt werden müssen, über die wir immer Herr sind, [ ...] auf die wir immer herabschauen können, gemeinsam mit dem Autor, der uns damit für kurze Zeit von uns erlöst...
In seinem Theaterstück 'Brut' hat sich Matthias Zschokke selbst erlöst. Uff. Die Realität ausser Kurs - jetzt wird der Bubentraum ausgelebt: ab, aufs Schiff der grossen Piraten.
Tristana Nunez steht auf der Kommandobrücke - vielleicht müssten Sie ehrgeiziger sein, meine Damen - die Kapitänin hat die Piraten nämlich nicht nur unter dem Daumen, sie spielen ihr auch noch auf, jeden Abend zur blauen Stunde. Sie spüren es: 'Brut' ist mir von allen Zschokke Stücken das liebste. Vielleicht, weil die Piraten eine Stadt erpressen mit einem Dichter. Lächerlich. Von Anfang an ist dem Publikum klar, dass kein Rappen Lösegeld bezahlt wird. Aber schön ist der Gedanke eben doch.
Der Koch Caflisch macht dem Dichter auch noch Pralinen, eh er ihn über Bord schickt. Freie Marktwirtschaft mit Fingerspitzengefühl. Und schon fliegt eine wahre Märchenfee durch die Lüfte und landet an Bord - am Stahlseil, aus dem Schnürboden herunter - die Fürstin Lastadie Etmal.
Die Piraten träumten von nichts anderem, als der Frau, die jeder Beschreibung spotten würde. Jetzt, jetzt ... murxen sie die Fürstin ab. Was wäre mit dem fleischgewordenen Traum denn noch anzufangen gewesen? Einfach ein Trost-Stück, nicht. Für jede Frau, die kein Traum ist.
Ich als Mann, habe 'Brut' geschätzt, weil mir bewusst wurde, dass ich so oder so verloren gewesen wäre. Was heisst 'Aussteigen' - zwanzig Jahre danach? Das ewige plündern, entern, erpressen und kramauxen hängt den Piraten zum Halse heraus, wie mir der Literaturbetrieb: Alles derselbe Zwang. Die Piraten tümpeln im Kreis herum, damit noch irgendetwas läuft, auch wenn längst nichts mehr läuft und läuft und läuft.
In der Pause von 'Brut' stand ich in der Nähe von drei jungen Germanistinnen. Sie sinnierten, warum der Dichter auf dem Schiff in einem Vogelkäfig gefangen gehalten wurde. Weil er Lyrik schmetterte, sooft der Koch vorbeiging?
Die eine Germanistin gab zu: " Ungewöhnliches Stück, man weiss bloss nicht gleich ..." Die beiden andern sagten "mhm" und schauten ins leere Sektglas.
Dann fasste die Resoluteste zusammen: "Im Grunde weiss man nicht, wo 'Brut' einzureihen wäre. Es ist ja auch witzig, obgleich ... Weiss der Autor wirklich, was er schreibt?"
Wir wollen es nicht hoffen, meine Damen und Herren. Vor allem der Preisträger sollte es nicht. Lieber, sich damit einrichten, dass er sein Leben lang eine Uhr ohne Zeiger in Arbeit hat. So kann er nicht hochmütig werden, und zu jammern hat er auch. Denn obgleich er die Lupe ins Auge klemmt, kann er selber die Zeit auch nicht ablesen von seiner Uhr, und zugleich weiss er die ganze Zeit über, wie lächerlich es ist, eine Uhr an ihren Zeigern messen zu wollen. Sie läuft nämlich. Er kann sie hören - es ist ja recht still um ihn - zum Trost also hört er sie ticken. Sie ist übrigens sein Herz. Sie stocken nur gemeinsam, und trotzdem ist die Unruhe im Werk etwas Eigenständiges: sie wird sich weiter bewegen, wenn das Herz stillsteht. Das ist das Einzige, was ich sicher weiss.