Leben und schreiben |
1936 wurde ich in Bern als Einzelkind geboren. Und doch war ich keines: Mein Gitterbett gehörte dem Bruder, mein Spielzeug war sein Spielzeug, sein Portrait thronte über dem Klavier, und beim Essen lächelte er im kleinen Fotorahmen über meine Tischmanieren, ein Toter sieht alles.
Kindheit, ein Theaterstück
Es fällt mir auch im Rückblick nicht leicht, die Aufführung zu rezensieren. Ich stehe noch immer unter dem Eindruck, einem Kriegsstück beigewohnt zu haben, obschon Schlachtszenen fehlten und auch kein Hilfeschrei zu hören war. Es wurden nur Niederlagen gezeigt, alle lautlos und beschwiegen.
Vordergründig ist das Stück handlungsarm: Zwei ältliche Partner zelebrieren die comme-il-faut-Ehe auf der Bühne, die Stimmen werden kaum je gehoben, ein gefügiges Mädchen ist zwischen den beiden und scheint in die Bilderbuchgemeinschaft zu passen. Jeder meint es gut mit jedem, und alle lächeln sich freundlich zu.
Wo liegt der dramatische Zündstoff in dieser belanglosen Familiensituation? In einem Geschehnis, das auf der Bühne nicht gezeigt wird, das auch zeitlich weit zurückliegt, wenn der Vorhang hochgeht. Aber jedes Wort, das gesprochen wird, jedes Wort, das in der Luft hängt, alles, was geschieht und nicht mehr aufzuhalten ist, geht von diesem einen Ereignis aus: Ein Knabe stirbt.
Der Autor streift also mit dem Thema die Grenze des Sentiments, und das allein lässt ein ungutes Gefühl zurück. Was uns vorgeführt wird, ist eine endlose Auferstehung. Wie der Phönix aus der Asche, steigt der Knabe aus den Gesprächen seiner Familie, und wenn der Vorhang über «Kindheit» fällt, ist keiner so leibhaftig da, wie dieses unsichtbare Kind. Es gewinnt von Akt zu Akt an Präsenz, es bekommt eine Macht über die drei Überlebenden, die beklemmend ist.
Der Autor demonstriert rigoros, wie vielköpfig Gegenwart und Gegenwärtigkeit sein können. Er lässt, stark vereinfachend, alle drei Überlebenden zerbrechen, freundlich lächelnd.
Der Vater kämpft nicht, keinen Augenblick, er liest. Er liest im Stehen und Gehen, er liest vor dem Schlafen und gleich beim Erwachen, er liest noch über den Tellerrand weg.
Das weite Feld der Wirklichkeit gehört ganz der Mutter. Sie verliert sich im Vergleichen ihrer Kinder, sie erzieht ununterbrochen, sie ist pausenlos am Korrigieren und will immerzu das Beste. Das Mädchen verschattet unter dieser aufsässigen Liebe, es verstummt und wird seinen Ersatz in Träumen suchen!
Drehpunkt in seiner Entwicklung mag die Ballonszene sein: Da versucht das Kind, noch einmal zu handeln und die Weichen selber zu stellen. Es beschliesst, sich den toten Bruder mit einem Geburtstagsgeschenk zum Verbündeten zu machen. Das Mädchen erscheint auf der Bühne mit einem, roten Luftballon, es legt sich platt auf den Rücken, ruft den Namen des Bruders und lässt den Ballon fliegen, es schaut ihm nach bis er verschwindet, es lacht und setzt sich auf, um zu horchen. Der Vorhang fällt über dem Warten des Kindes auf Antwort.
Es ist schade, dass der Autor auch in der Milieudarstellung nicht frei ist von Übertreibungen. Vor allem die Mutter zeigt karikierend bürgerliche Züge.
Und könnten gesellschaftliches Gefälle und eheliche Enttäuschungen nicht subtiler gezeigt werden? In ‚Kindheit’ ist die Frau jeden Tag aufs Neue gezwungen zu sagen, dass nur sie Suppe löffeln kann ohne zu schmatzen. Und allmorgendlich lässt der Autor sie einen Kalenderzettel herunterreissen und laut vorlesen, immer mit dem Nachsatz: «Jaja, der hat schon Recht. Der schon.» Im Grossen und Ganzen also ein recht zwiespältiges Theatererlebnis. Die Rezensentin fragt sich sogar, ob sie nicht zuviel Zeit verloren hat, es sich anzusehen.
Nach Kriegsausbruch zeichnete sich die Wende ab: der Bruder verschwand vom Tisch, Emigranten sassen mit uns beim Essen und sorgten sich um Lebende. Ich spürte, wie sich der Horizont von Vater und Mutter drüber auftat. Abends waren sie Dauergäste im Theater, nach der Vorstellung brachten sie neue Emigranten mit nach Hause, Sprachfetzen flogen durch die Wand an mein Gitterbett. Was bedeutete ‚Verschickung’, was hiess ‚Lager’?
Neujahrsbrief an den Vater
Lieber Vater
Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges bist du von einem Tag auf den andern kein rechter Schweizer mehr gewesen: Du hast zwar nur die Schweiz gekannt, und nur Schweizerdeutsch gesprochen - aber die italienische Armee hat dir einen Stellungsbefehl ins Haus geschickt. Du hast ihn zwar nicht recht entziffern können- - wie auch, ohne Italienischkenntnisse? Aber du hast dich schuldig gefühlt und ihn kurzerhand verbrannt. Hast du im Ernst gehofft, so handle nur ein echter Schweizer? Eine Woche später holte dich die Polizei ab in der Druckerei. Du hast mir nie gesagt, Vater, wie dir zu Mute war, als du Spiessruten laufen musstest durchs Dorf. Alle haben dich von klein auf gekannt, alle haben gewusst wer du warst, wer deine Mutter, deine Schwester, wer deine Grossmutter war. In Italien hat es kein Mensch gewusst. Aber die Schweiz ist mit ihrer Polizei just diesem fremden Staat zu Diensten gewesen. Nein, Vater, ich vergesse nicht, wer dich schliesslich gerettet hat: der Gemeinderat des Dorfes. Er beschloss, zu lügen und der italienischen Botschaft mitzuteilen. dein Einbürgerungsverfahren sei hängig. Das nötige Geld hattest du erst 1924 zusammen, um auf dem Papier zu werden, was du immer gewesen bist: Schweizer. Du hast mir diese Geschichte dein Leben lang verschwiegen. Nur Mutter hat sie mir erzählt. Beinah entschuldigend, als gälte es, dir etwas zu verzeihen. Und der Schweiz?
1939 oder 40 läuteten zwei Polizisten an unserer Wohnungstür. In zivil. Die Beamten haben sich höflich nach dem Emigranten Erwin Reiche erkundigt, Jude, Rechtsanwalt und Journalist aus Berlin. Ob er tatsächlich ein- und ausgehe bei uns? Ob er sich Notizen mache? Oder Post über unsere Adresse laufen lasse? Drucksachen, kommunistische?
Mutter war fassungslos. Sie rief einen Satz, den ich nicht begreifen konnte: "Aber mein Mann ist doch Freisinniger." Da zogen die Polizisten den Hut und gingen. Zum Abschied allerdings sagten sie einen Satz, den ich begriff. "Wir werden wiederkommen."
Aber zuerst einmal bist du gekommen, Vater. Und hast kurzerhand aufgeräumt. Mit einer Frage: "Warum hast du die Polizei nicht aus dem Hause geworfen?" Dann hast du dich gesetzt und die Zeitung aufgeschlagen, als wäre nur eine Mücke zu verscheuchen gewesen. Mutter begann zu schreien: "Erwin ist also Kommunist, und du nimmst ihn nicht einmal ernst." Du hast nur über den Zeitungsrand geblickt und eine zweite Frage gestellt: "Kennst du mich eigentlich"?
Ja, Vater, sie hat dich gekannt. Ich auch. Dein starrköpfiges Misstrauen gängigen Haltungen gegenüber hat uns das Leben schwer gemacht. Oder deine grenzenlose Toleranz? Du hast Erwin geholfen, ja. Gemocht hast du ihn nicht. Er war nur Ehemann, in der Schweiz. Als solcher war er hier geduldet. Seine Frau, die Schauspielerin Friedel Nowak, war erste Salondame am Berner Stadttheater. Du und Mutter habt keine Premiere ausgelassen: Ihr ward begeistert von ihrem Talent, auf Friedels Freundschaft ward ihr stolz. Erwin habt ihr in Kauf genommen, diesen Schatten seiner selbst, der seiner Frau an jeder Ecke wartete. den lieben langen Tag nur wartete. Der Schweizerische Schriftstellerverband hatte das totale Arbeitsverbot gegen ihn durchgesetzt, trotz Fürsprache von Max Rychner und anderen Zeitungsredaktoren. 'Ehrt einheimisches Schaffen'. Aber du, Vater, du hast 1942 in deiner Druckerei eine Übersetzung Erwins aus dem Russischen herausgebracht: Turgenejews EIN MONAT AUF DEM LANDE. Friedel hat die Natalja gespielt, versteht sich. Und du Vater, was hast eigentlich du gespielt? Den barmherzigen Samariter oder das enfant terrible? Ich weiss nur sicher, dass du Erwins Kommunismus als Schminke verstanden hast: So kam er sich nicht ganz so nackt und farblos vor, neben seiner Frau. Vielleicht hast du recht gehabt, Vater, obgleich du dich täuschtest: Erwin ist in der DDR Kulturbonze geworden. Er reiste schon 1946 aus, um der Mann der ersten Stunde zu sein im neuen Deutschland. Er hat dir aus Berlin geschrieben, dass er den gerechten Staat aufbauen werde: Die DDR. Du hast Klartext geantworte: Erwin solle an die Schweizerische Bundesverffassung denken und dich ein- für allemal mit Propaganda verschonen. Du guter Freisinniger.
Ist Erwin kein ebenso guter Kommunist gewesen? Ich habe letztes Jahr in Berlin seine Sekretärin kennengelernt. 1953, während des Aufstandes in der DDR, hat er ihr einen Brief an den Vorsitzenden Grotewohl diktiert: Es sei eine Schande, was für Misstände herrschten im Land, in der Reichsbahn fehle das Clopapier. Le Bourgeois Gentilhomme. Als die Mauer fiel, brauchte er weder Hals noch Kragen zu wenden: Zwei Tote in ihm wurden wiedervereinigt. Du, Vater, hättest heute Geburtstag, Ein Sylvesterkind. 103 Jahre alt. Deine Biografie ist nicht unsinnig geworden: courant normal, für die Schweiz von 1992. Wir bauen nur das Réduit um, Vater. Die Toten sind nirgends überwunden. Ihre Gläser stossen mit an, wenn die Kinder auf die Zukunft trinken wollen. In Jugoslawien, Vater, geht der Zweite Weltkrieg weiter. Hab Dank, dass du mir die richtigen Papiere verschafft hast. So bin ich sicher, in der Schweiz. Und hab Dank, dass du keine Grenzen beachtet hast in unserem Haus. So hoffe ich, in der Schweiz: deine Tochter.
(Radiosendung, Sylvester 1992)
1944 wurde ich eingeschult und sprach besser Hochdeutsch als die anderen Kinder. Das half, allerhand Ungenügen zu überspielen. Für den Rest war Lehrer Schädeli besorgt.
Lehrer Schädeli
Geits Öich o mängisch eso, dass der znacht troumet, Dihr sitzit wider im Schuelbänkli u chönnit d Ufgabe nid? De het me de auben e füechti Stirne bim Erwachen u schnuufet fei echly uf, dass men ömu wenigschtens erwachsen isch. Es het de äbe glych Vorteile. Eigentlech danken ig numen a ei Lehrer gärn zrugg, u nume vo däm han i öppis glehrt, won i würklech no geng bruuche: Er het is nämlech grad am erschte Tag vor dritte Klass gfragt, was mer am Beschte chönni, u's vo jedem i ds Notebüechli ytreit. Jedesmal, we me de verseit het, inere Prob, het er eim nachhär ufgrüeft vor der Klass u gseit: «So, derfür chasch jitz den angere zeige, was de besser chasch als si.» I ha de auben es Gschichtli dörfe verzelle, u vomne drü abwärts e Witz, u eine vor Klass isch geng a d Wandtafele füren es Geissli ga zeichne. Aber der Ärnscht, dä wo überhoupt niene so rächt het möge gfahre, dä het is schier jede Morge der Handstand vorgmacht. Mir angere hei müessen ufstah derby im Bänkli, grad eso, wi wen es Schuelkommissionsmitglid wär da gsi. Der Lehrer het gseit, das ghöri äben o derzue, enang Ehr z bezüge, für das, wo me chönn. I weiss no, wi das isch gsi, wo mer is alli aagmäldet hei für d Sekprüefig. Nume der Ärnscht nid. Der Lehrer het gseit: «Lue, Aschi, mir zwe, mir sy gwüss wöhler, we mer da blybe.» U nachhär het er em Ärnscht ghulfe, sy Handstandnummeren uszboue: Är het nen a de Füess gha, u der Ärnscht isch zerschtmal vor is allne dür d Schuelstuben usgloffe, uf de Häng. I gseh ne no hütt vor mer, wi ner e rote Chopf het gha derby, vor luter ds Gugle verha, wüll mer's nid hei wolle gloube, dass eso öppis glingi. I frage mi mängisch, ob i das eigentlech o fertigbbracht heig, mit myne Ching: ne ds Gfüel zgä, si syge mer alli glych wärt, o we si ir Schuel nid mit em höchschte Kurs kotiert wärdi. Un i frage mi mängisch, ob i überhoupt gnue dra dänki, dass ja alli, won i mit ne z tüe ha, o vo Zyt zu Zyt müesse chönne der Handstand mache vor mer.
U Dihr? I meine: Wi heit'er's im Sinn, hütt am Morge? Heit'er wider all Häng voll z tue, Nech sälber z profiliere? Oder chönntet'er zwüschenyne vilicht eini freimache, für öpper e chly a de Füess z ha dermit?
1956 trat ich in die Dolmetscherschule Zürich ein. Am meisten geprägt haben mich die intensiven Freundschaften dieser Jahre. Vielleicht sind sie das Einzige, was sich aus der Zürcher-Zeit bis heute nicht verloren hat.
Immergrün
(Veröffentlich in der Anthologie ‚… und auf einmal bin ich alt’, 1993)
Im Traum wird die Türfalle behutsam niedergedrückt.
Vor Überraschung stosse ich einen Schrei aus, als die leibhaftige Ruth eintritt und sofort die Augenbrauen hochzieht, typisch: bloss nie laut werden. Aber schon erkennt sie mich, ach, ihr Lächeln, Ruths seliges Lächeln, ich mache die Arme weit auf und stürze der Freundin förmlich entgegen: „Liebe“, flüstere ich, „ach, tut das gut, nach so vielen Jahren“. Ruth lacht gurgelnd und herzt mich, ich löse mich mit einem Ruck, um ihr Gesicht zwischen meine Hände zu nehmen: „Magigelibabu - weisst du noch?“
„Du verwechselst mich doch nicht“, fragt Ruth eine Spur zu sachlich, „ich bin Odette“. Ich lasse die Hände sinken: Odette? Was wird da gespielt? Da dämmert mir: Ruths Jüngste ist der Mutter aus dem Gesicht geschnitten, die leibhaftige Ruth ein halbes Jahrhundert später. Wo hatte ich bloss meinen Kopf gehabt, „Odette, Kleines, wie geht’s euch allen?“
Die Tür springt zum zweiten Mal auf: Ruth. Was heisst Ernüchterung? Mit einem einzigen Blick erfasse ich: welk geworden, unser Zauber. Und wie Ruth die Handtasche an sich presst: eine Spur altjüngferlich. Wirken wir jetzt beide so? Unwillkürlich lächle ich und gehe Ruth die paar Schritte entgegen: „Liebe, eben hat Odette mir die Augen geöffnet - geht es bergab mit uns?“ Ruth zwinkert. Einen Augenblick will mir das Herz stillstehen: ‚Sie weiss nicht wirklich, wer ich bin’. Aber da reisst Ruth schon die Arme auf und ruft: „Natürlich.“ Ach, wie sie mich umhalst. „Ist ja gut“, flüstere ich, „jaaja, Ruth, wir Zwei.“ Gleich löst sich Ruth und streicht mir übers Haar: „Du verwechselst mich doch nicht“, fragt sie freundlich, „ich bin die Älteste, Mirjam, du erinnerst dich natürlich.“
Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schiesst.
„Mams würde sich freuen“, fügt Odette an, „die ganze Meschpoche wartet im Restaurant hinten. Hättest du Zeit?“
Vermutlich habe ich nicht ja genickt, ich sehe nur, dass die beiden Frauen auf die Flügeltür zu halten, als hätten sie mich hinter sich gebracht. Da dreht sich Ruth-Odette noch einmal zurück: „Und deine Kinder? Was machen sie beruflich?“
Zwischen aufschwingenden Flügeln sehe ich einen Rollstuhl auf mich zuhalten, schon beugen sich die beiden Frauen über die zusammengesunkene Gestalt, fassen sie unter und rufen: „Horuck, Mama“. Oh, dass ich aus dem Schlaf gerissen würde und mir gerade noch einfiele: ‚Ruth ist längst tot’. Dann wollte ich aufwachen.
Nach dem Diplomabschluss als Presse- und Geschäftsübersetzerin legte ich ein Auslandsemester an der Sorbonne Paris ein.
Aber erst viel später wurde Paris zu ‚meiner’ Stadt, nein, zu ‚unserer’: Mein Mann und ich wohnten nie lange dort, aber immer wieder. Das gab auch den Anstoss zu meinem ersten Schreibversuch: Ich schenkte Urs zu seinem 40. Geburtstag Zehn Pariser-Skizzen.
Vue imprenable
Nur noch die Einschreibe-Zeremonie, dann bin ich im Hotelzimmer und kann ausruhen.
Aber in Paris ziehen sich solche Zeremonien in die Länge, in kleinen Hotels am längsten: la grande nation.
Ich spiele gehorsam mit, lächle zurück. Und nochmals. Und wieder. <Herr, o lass es Abend... > „Danke, ja, sehr angenehm gereist. Ja, mein Mann kommt etwas später. Nein, es kann nicht immer blauer Himmel sein.“ Nichts wird mir von der Empfangsdame erlassen, in nichts wirkt sie dilettantisch. Sie strebt, das Muster stetig zu vervollkommnen, ihr Ideal hat die Revolution unbeschadet überlebt. Es ist die alte Kunstartigkeit der Höfe und Könige: die Zeremonie eben, „bon séjour, Madame.“
Der steifbeinige Verbeugungs-Jean wandelt vor mir den Gang entlang. Der Schlüssel springt im Schloss: "Madaaaaame…voilà."
Ein grosses Eisenungetüm mit neckischen Messingknäufen: le lit francais für alle Fälle. Im Hotelprospekt <avec vue imprenable sur la statue de Vendôme.>. Aber das hiesse die Dinge zu fremdenverkehrt betrachten. Tatsächlich türmt sich vor meinen Augen ein altes Pariserhaus auf. <Fenster in Fenster> mag der Wahrheit am nächsten kommen.
Ich strecke mich auf der eisernen Zweisamkeit aus, die Hände wohlig verschränkt unterm Kinn.
Durchs Fenster ins Fenster äugen geniesse ich wie eine sightseing tour. Ich blicke direkt in ein Bureau: Diktat in Paris.
Der Chef ist mitten in der Brief-Zeremonie. Mag sein, sie gelingt ihm einen Deut zu ungefähr für Paris. Immerhin gibt er sich nervös, geht hin und her und her und hin, die Schuhe immer spitz in die Höhe gerichtet vor jedem Schritt. Die rechte Hand greift in die Luft, fährt zurück in die Hosentasche, kommt wieder hervor, die Finger spreizen sich, der Zeigefinger schnellt nach unten: Bahnhofkelle, <point, Mademoiselle, point.>
Der kleine Schnurrbart wird mit steifen Fingern schnell gebändigt, die Brauen sind gerafft, die Augen plötzlich runde Lichtsignale: <Répétez, Mademoiselle, répétez.>
Er könnte nach Diktaphon arbeiten … Aber was sollen Bissigkeiten auf einem Ehebett.
Der Block klappt zu. Das Fräulein ruckt hoch. Alles an ihr ist Stenogramm und Fachgespräch. Vielleicht leibhaftiges Kalender-Gedächtnis? Sie spuckt lauter Unerlässlichkeiten aus. Er horcht. Ihr Gesicht erlischt. Abgang rechts.
Er setzt sich an das stählerne Ungetüm. Ohne Zielstrebigkeit. Schwingt sanft hin und her auf seinem Stuhl, hin und her. Führt die Augen ein wenig auf Tournée und bohrt schliesslich hingegeben in den Nasenlöchern. Ohne Zeremonie. Dachte ich’s mir doch, dass un directeur seul gar kein directeur mehr ist.
In der Ferne sticht die Vendôme-Spitze stolz in den Himmel, das muss ich zugeben. Viele Köpfe hoch über allen Dächern steht der Kaiser in untadeliger Haltung - des Nachts, des Tags, beleuchtet, verregnet, von Tauben bedrängt, mit Nelson verwechselt. Ein Denkmal eben.
Für einen, den es nie gab, und der nie geboren wird: für den Helden.
Ein britischer Student an der Sorbonne half, in London einen Job zu finden, der mir genügend Zeit liess, mich aufs Cambridge Proficiency vorzubereiten. Ich ergatterte eine Arbeitsbewilligung als student trainee und kam für acht Monate im Bookshop der ‚Times’ unter.
Bloody Foreigners
Bloody foreigners berndeutsch | hochdeutch
Syt'er scho einisch im Läbe Ussländer gsy? I meine ohni Reiseleitere, wo der Schirm ufhet, für dass Dihr nid scho z London unger d Reder chömet. Halt Linksverchehr. öppis derewä Verdrääjts, gället, u die bhoupte dür all Böde düür: Nei, 's syg normal, im ganze Commonwealth fahri niemer rächts. Gäld hei si früecher o so kuurligs gha. I ha z Ängland gschaffet ire Buechhandlig. I chönnt Nech es Liedli singe, vo zwölf Pennies, wo ne Shilling, u zwänzg Shillings, wo nes Pfund ggä hei - nume beides nie hundert. Jeden Abe han i myner Buechverchöif müesse ga abrächne byr Kassierere. Si isch hinger Panzerglas ghocket, für dass se kene het chönnen überfalle. Da'sch zwar nid ihre Chummer gsy. Nume di Ussländere da, wo jede zwöit Abe hingerdry gsy isch mit zämezelle. I ha z lang bbadet im Schweis, für Pennies nid mit Shillings z vermischle. Aba, das kennt me ja: Gaschtarbeiter(e) sy nie ganz hundert, me mues nume lose, wi si tältsche.
Myner Kollegen im <Times-Bookshop> hei mi regurächt gärn übercho, derewä sy si Täche gsy, näb mir yne. Numen im Büechergstell-Abstoube bin i allnen überläge gsy. Heit'er's öppen o scho ghört: d Schwyzer u Schwyzere sy derewä suber, mir sy ds süberschte Volk vo der ganze Wält.
Deswäge het's du glych gchlepft: D Kassierere het eifach es Manko gha ir Kasse, o we si scho ds zähte Mal alli Ynahmen i d Rächnigsmaschine gchlopfet het. U d Buechhaltere isch am närvösele gsy, wüll si der Tagesumsatz geng nid het chönne verbueche. Es hei eifach nüün Pennies gfählt. Bis öpperem z Sinn cho isch, vilicht heig i Shillings u Pennies verwächslet. Gspüret'er's choo? Natürlech bin i tschuld gsy. D Kassierere het zwüsche de Zähn düre gmurmlet: «Bloody foreigners» u my verdammti Ussländer-Abrächnig korrigiert.
Pynlech, würkli. Alli hei sech verzoge u chly abgstoubet, u d Buechhaltere het grad wölle verbueche, wo d Tür ufgsprungen isch: Der General Manager i de gstreifte Hose het stötzlige uf mi zuegha. Nenei, nid für mer my Unfähigkeit cho fürzhaa. Är het sech im Name vo Grossbritannie entschuldiget, schynt's syg i beleidiget worde: Bloody foreigners. Gottlob het d Kassierere grad en Öpfu by sech gha, für mit mer z teile. D' Diräktion het nämlech vonere verlangt, si söll sech jitz bitte ds Richtige la yfalle. Da göng's grad gar nid numen um seien u mi. Syt'er. scho einisch Ussländer gsy, oder schämet'er Nech mängisch als Schwyzer? Dihr bruuchtet ja nid unbedingt Kassierere z sy, derfür.
Bloody foreigners, hochdeutsch
Waren Sie schon einmal Ausländer? Ich meine ohne Reiseleiterin, die den Schirm hoch in die Luft reckt, damit Sie nicht schon in London unter die Räder geraten. Apropos Linksverkehr: Etwas derart Verrücktes - Sie werden mir recht geben. Aber die Engländer behaupten stur: Nein, normal, im ganzen Commonwealth fahre niemand rechts. Verrücktes Geld hatten sie früher auch. Ich habe in England gearbeitet, in einer Buchhandlung. Ich könnte Ihnen ein Liedchen davon singen, wie zwölf Pennies einen Shilling und zwanzig Shillings ein Pfund ausmachten, aber beides nie hundert. Abend für Abend mußte ich meine Buchverkäufe abrechnen für die Kassiererin. Sie thronte hinter Panzerglas, damit keiner sie überfallen konnte, was allerdings nicht ihre Sorge war, sondern diese Ausländerin, die jeden zweiten Abend in Verzug war mit Addieren. Ich badete zu lange im Schweiß, um die Pennies niemals mit Shillings zu verwechseln. Ach, man weiß es ja: Gastarbeiter(innen) sind immer etwas unterbelichtet, man muß nur zuhören, wie sie kauderwelschen.
Meine Kollegen im <Times-Bookshop> schlossen mich richtiggehend ins Herz, derart überlegen waren sie mir alle. Nur im Büchergestelle-Abstauben nicht. Vielleicht haben Sie es schon gehört: Schweizerinnen und Schweizer sind durchs Band weg sauber, wir sind das sauberste Volk der Welt.
Trotzdem kam's zum Kladderadatsch: Eines Abends blieb der Kassiererin ein Manko in der Kasse, obgleich sie schon zum zehntenmal sämtliche Einnahmen in die Rechnungsmaschine getippt hatte. Die Buchhalterin war inzwischen ein Nervenbündel, weil sie mit dem Verbuchen des Tagesumsatzes ewig zuzuwarten hatte: Es fehlten einfach neun Pennies. Bis jemandem einfiel, vielleicht hätte ich Shillings und Pennies verwechselt.
Sie spüren es längst: Natürlich war ich die Schuldige. Die Kassiererin murmelte zwischen den Zähnen: «Bloody foreigners», und korrigierte meine verdammte Ausländer-Abrechnung.
Peinlich, peinlich ... Alle haben sich verzogen und ein bißchen abgestaubt, und die Buchhalterin wollte eben verbuchen, da sprang die Tür auf und der General Manager in den gestreiften Hosen hielt schnurstracks auf mich zu. Nein, nein, nicht um mir meine Unfähigkeit vorzuhalten. Er hat sich im Namen Großbritanniens bei mir entschuldigt, weil ich offenbar beleidigt worden sei: Bloody foreigners. Gottlob hatte die Kassiererin einen Apfel in ihrer Handtasche, den sie flugs mit mir teilen konnte. Die Direktion hat nämlich von ihr gefordert, sich bitte das Richtige einfallen zu lassen, es gehe keineswegs nur um sie und um mich. Waren Sie schon einmal Ausländer, oder schämen Sie sich zuweilen als Schweizer? Dazu müssten Sie nicht unbedingt Kassiererin sein.
An der Uni Perugia in Italien, bereitete ich mich auf mein Zusatzexamen für italienische Literatur vor und jobbte nebenbei als Übersetzerin in der Schokoladenfabrik Perugina.
Buitoni
I ha als ganz jung im Usland gschaffet, z Italie, imne grosse Läbesmittelkonzärn. Scho d Briefchöpf sy apartig gsi: en Art Schatteriss vore bhäbige Frou, u drunger isch gstande, das sygi d Gründere vor Firma, wo me re o d Superqualität vo de Produkt verdanki. D Foto vo dere währschafte Frou isch ob jedem Diräktorepult ghanget. I ha sen aube chönnen aaluege, we d Chefe sy blybe bhangen im Diktat: E vierschrötigi Grosmueter mit emne Hübli über de Haar. Glachet het si nüüt. Si het o ke Grund gha: Mit füfezwänzgi isch si schynt's Witfrou worden u het mit füfne Buebe müesse luege, wi si isch über d Rundi cho. Si het deheim aafa Confitüren ychochen u d Ching mit Chörbli losgschickt, se ga probiere z verchoufe de Hüser nah. Speter het si Täfeli gmacht u Nudle u nach zäh Jahr het si ds erschte Fabriggli uftaa. Ihrer füf Sühn hei als Manne scho suberi Häng bhaute bim Schaffe, u d Grosching, won i ha müesse mit ne kutschiere, hei alli studiert gha u sy i ihrem ganze Läbesstil wi der lybhaftig Spott gsi vo der Foto über ihrne Chöpf. Die het sowiso zu nüütem meh passt, weder zum Stahlschrybtisch, no zum hypermoderne Glasbou oder de desinfizierte Fliessbänder. Mängisch han i mer überleit, was ächt wurd passiere, we di Grosmueter znacht einisch us em Bild würd usestygen u wett probiere, bi eim vo ihrne Grossühn ynezcho. Si war allwäg nid wyter cho als bis zum Gartetöri. Dert hätte se d Gärtner scho abgfangen als es dubioses Subjekt, wo dänk en Aaschlag planet oder en Erpressigsversuech - u süsch hätt me re de mindeschtens klar gmacht, dass Lüt wi si nüüt i dene Parkaalage verlore heige, wo d Herrschafte für ne Wältkonzärn drinne tüege repräsentiere.
Vilicht hätt die Grosmueter öppe no am erschten anes Fliessband passt. Trotz der Technik. Dert hätt si ömu vilicht no Froue gfunde, wo di glychi Sprach gredt hätte wi si: die vo de schwäre Sorge.
I ha mer denn vorgno, i myre Familie dörf’s nie eso wyt cho, dass me nümm würd zämepasse, o ufenen absoluti Art. Tröji isch doch ds Wichtigschte.
Drum tuet s mer jitz sälber wohl, dass i nie e Bitz Brot furtgheje, wüll i no nid vergässe ha, dass e Bitz Brot für my Vatter es Zmittag gsi isch, als Bueb. Un es tuet mer wohl, wen i geng hinger jedem grad ds Liecht usdrähje, wüll scho my Mueter gseit het, me dörf nid nume sparen im Grosse.
Aber chürzlech het's gchlepft. My eltischt Suhn isch ir Fyschteri ine Kanten yneglüffe. Un er het päägget, das syg jitz d Quittig für my ewegi Lösch-Marotte, won i allne ds Labe versuuri dermit. Mir hei müesse ga la näjen i ds Spital.
Sider denn han i doch e Zwyfu: ob nid emänd di italiänische Fabrik-Diräktore ufene gschyderi Art tröi sygen als ig. Di Expansion, wo si betribe hei, di het nämlech zu meh Arbeitsplatz gfüehrt u zumene Wohlstand, wo o Sozialversicherige bbracht het für d Fliessbandarbeitere. Villicht het's Witwene derby.
Die Geschäftsleitung vermittelte mir eine Stelle bei der Mutterfirma in Rom: Ich arbeitete als Hausdolmetscherin für Buitoni International, bis mir von der italienischen Unesco-Kommission der Posten einer Kongressorganisatorin
angetragen wurde: Anfang 1960 fand in Sizilien die dritte europäische Unesco Konferenz für den Frieden statt.
Zwei Monate später verunfallte mein Vater. Ich musste Hals über Kopf in die Schweiz zurück und versuchte, die väterliche Druckerei in Gang zu halten. Die 25 Mitarbeiter unterstützten mich, obgleich ich zu jung, zu branchenfremd und noch dazu eine Frau war: Die Angst um den Arbeitsplatz siegte über die Vorurteile.
In Bern traf ich 1961 Urs Beutler wieder. Wir waren Nachbarskinder gewesen, die sich zuerst wegen des markanten Altersunterschieds nicht recht zur Kenntnis genommen hatten, und später, weil Urs zehn Jahre lang in Lausanne gearbeitet hatte und schliesslich in New York. Jetzt waren wir beide zurückgekehrt, und ein paar Monate später heirateten wir. Beide waren und blieben wir zu Hause beieinander, bis zu seinem Tod 2007.
Heimat
Diesen Text berndeutsch | hochdeutsch
Gspürt men ächt ersch, was Heimat isch, we me se vermisst? Oder mues si nis bedroht vorcho, für dass mer is ungereinisch mit ere befasse? Es chunnt mer grad vor, wi mit em eigete Bluetchreislouf: Solang er funktioniert, bruucht me sech nid dermit z befasse. U wen er zämesacket, isch men ohnmächtig. Mir Schwyzer lyde zwar no amne närvöse Zwüschestadium: em Härzflattere. I cha mi grüen u blau ergere über d Schwyz eso bin i deheim. D Schneebärge u angeri Poschtchartemotiv hei nid halb sövu z tüe mit mym Heimatgfüel.
U mit Öiem? Sy Nech d Gletscher wichtiger als d Bürgerrächt? Oder hanget'er am meischten a Öiem Quartier, wüll's dank Öich u Öine Nachbere zure Wohnstrass cho isch?
Vilicht isch's echly ne simple Vorschlag: aber probieret glych einisch, im Louf vom Tag imnen einzige Satz z säge, was für Öich «Heimat» heisst. I ha's synerzyt ir Schuel probiert, churz nach em Zwöite Wältchrieg. I bi denn vilicht elf-, zwölfjärig gsy. Mir hei 2 Stunde Zyt übercho für 1 Satz: «Heimat». Geng isch mer wider öppis Nöis i Sinn cho, schwupp, han i der Satz im Heft düürgstriche. U immer het öppis gfählt: Kes Sätzli hätt passt zur Friedel un em Erwin. Das sy di dütschen Emigrante gsy, wo im Chrieg bi üs deheim y- un usgange sy. Un i ha gwüsst, dass si o ne Heimat gha hei. Dütschland isch's nid gsy u de glych wider Dütschland. Di zwöi hei mer sogar Föteli zeigt: «Dort, auf dem Hügel, sind wir im Urlaub gewesen.» Un e Strass han i o glehrt kenne uf so re Schwarzwysskopy: «Da links, neben dem Ahorn, da haben wir gewohnt in Berlin.» U nachhär hei d Friedel u der Erwin di Bildli zrügg i d Täsche gsteckt un i ha plötzlech gseh, wi si wider dra ddänkt hei. Es schrecklechs Wort. Es het’s nie öpper gseit, es het nie öpper gredt drüber. I däm Wort sy alli verschwunde. D Friedel u der Erwin sy elei i d Schwyz cho.
Vor paarne Monet het e Fründ von is sy Frou verlore. Er het nie klagt drüber. Di zwöi sy o nes bsungerigs Ehepaar gsy: eso radikal unabhängig vonang; beidi hei ihre Bruef gha; u de hei si sech geng eso luschtig gmacht überenand, wi we jedes d Närvesagi wär vom angere.
Ungereinisch het üse Fründ nümm chönne schlafe. Eifach eso. Er het d Achsle zuckt u glachet drüber. U plötzlech het er grad drygluegt, wi aube d Friedel u der Erwin: wi wen ihm zum Chopf uus cho wär, was er früecher gsuecht het. «Aba», het er gseit, «weisch, d Möbu rede nümme zue mer.» I däm Momänt isch mer ygfalle, was i als 12järigs Meitschi für ne Satz im Heft ha la stah: «Heimat ist, glaube ich, ein Mensch.»
Spürt man wohl erst, was Heimat ist, wenn man sie vermißt? Oder muß sie uns bedroht vorkommen, damit wir uns plötzlich mit ihr befassen? Es kommt mir beinah vor, wie mit dem eigenen Blutkreislauf: Solange er funktioniert, braucht man sich nicht damit zu befassen. Und wenn er zusammensackt, ist man ohnmächtig. Wir in der Schweiz leiden zwar an einem nervösen Zwischenstadium: dem Herzflattern. Ich kann mich grün und blau ärgern über die Schweiz so bin ich zu Hause. Schneeberge und sonstige Postkartenmotive haben nicht halb soviel mit meinem Heimatgefühl zu tun.
Und mit Ihrem? Sind Ihnen die Gletscher wichtiger als die Bürgerrechte? Oder hängen Sie am meisten an Ihrem Quartier, das jetzt eine Wohnstraße hat, dank Ihnen und Ihren Nachbarn?
Vielleicht ist es ein allzu simpler Vorschlag: Aber probieren Sie doch, im Laufe des Tages in einem einzigen Satz zu beschreiben, was «Heimat» für Sie bedeutet. Ich mußte es seinerzeit in der Schule versuchen, kurz nach dem Weltkrieg. Ich war vielleicht elf oderzwölf. Wir hatten zwei Stunden Zeit für einen Satz: «Heimat.» Immer ist mir wieder etwas Neues durch den Sinn gefahren, schwupps, strich ich den Satz im Heft aus. Und immer hat etwas gefehlt: Der Satz hätte nicht gepaßt zu Friedel und Erwin, den deutschen Emigranten, die während des Krieges bei uns zu Hause ein- und aus gegangen waren. Ich wußte, daß auch sie eine Heimat hatten. Deutschland war es nicht - und doch war es Deutschland. Die zwei hatten mir sogar Fotos gezeigt: «Dort, auf dem Hügel, sind wir im Urlaub gewesen.» Und ihre Straße hatte ich kennengelernt, auf einer Schwarzweißkopie: «Da, links, neben dem Ahorn, da haben wir gewohnt in Berlin.» Und dann steckten Friedel und Erwin die Bilder in die Tasche, und plötzlich sah ich, wie sie wieder dran dachten. Ein schreckliches Wort. Es hat es nie jemand ausgesprochen, es hat sich nie jemand darüber unterhalten. Aber in diesem Wort waren alle andern verschwunden Friedel und Erwin sind allein gekommen, in die Schweiz.
Vor ein paar Monaten hat ein Freund von uns seine Frau verloren. Er hat nie geklagt über ihren Tod. Die beiden waren ein recht ungewöhnliches Ehepaar gewesen: radikal unabhängig; beide hatten ihren Beruf, und sie haben einander geneckt, als wäre eines des andern Nervensäge. Plötzlich hat unser Freund nicht mehr schlafen können. Einfach so. Er hat die Achseln gezuckt und drüber gelacht. Und dann hat er mich angeschaut wie Friedel und Erwin: als wäre ihm entfallen, was er früher denn gesucht hatte. «Ach, weißt du», hat er gesagt, «die Möbel reden nicht mehr zu mir.» In jenem Moment ist mir eingefallen, welchen Satz ich als zwölfjähriges Mädchen im Heft stehen liess: «Heimat ist, glaube ich, ein Mensch.»
1963 Geburt des Sohnes Martin und Beginn der freien Mitarbeit in Italienisch und Deutsch bei Radio International.
1965 Geburt des Sohnes Philipp
1967 Geburt der Tochter Annette.
Guter Mond du gehst so stille
Im Labor sitzt das junge Paar Hand in Hand und verfolgt am Bildschirm, wie die Zelle sich teilt, grandios, die Spaltung erfolgreich, ein Embryo zuckt, er fächert schon aus, und wässrig fluktuiert die Nabelschnur; es krümmt sich der Fötus; sieh das Ereignis, zwei Fäustchen, zwei Beinchen und drüber geneigt, oh mein Gott, dieser Schafskopf; aber schon höhlen sich die Augen, es stülpt sich die Nase, es wölbt sich die Stirn, und schau, wie es nuckelt am eigenen Knie, oh Wunder der Wunder, plus Wickelkurs, Schoppenkurs, Atemgymnastik; wir sind soweit, sagt die Hebamme, Muttermund knapp talerweit offen; am Monitor flimmern die Zickzackkurven, Herztöne normal, sagt der Arzt, Geburt voll im Gang, nur dieses Becken, hergottnochmal, atmen Sie tiefer, pressen Sie stärker, das Kind am Bildschirm ist eingekeilt, pressen, pressen; und noch ein Stoß und schon der Schrei:
unser Kind, unser liebes, liebes Kind.
Zehn Finger, zehn Zehen, sechs Pfund dreihundert; fünfzig Zentimeter, völlig normal, sagt der Arzt;
hast du gehört: normal unser Kind, unser liebes, liebes Kind normal, alles überstanden; und weiter im Text, es saugt und rülpst und schläft und äugt und lächelt und greint und plappert und krabbelt und steht und geht; plumps, eia poppeia, nicht so schnell, liebes Kind, nicht so schnell; aber schon sagt es das erste Mämm, schon herzt es den ersten Teddybär, schon trägt es die ersten Schuhe, schon hat es den ersten Zahn, du tapferer, tapferer Bub, er räumt Schubladen leer und wird trocken und frißt Sand und klettert - halt, halt, das Fenster... Oh, mein Gott, unser Kind, unser liebes, liebes Kind ist aus dem Fenster gestürzt, Montag, 10. März: sein Skelett leuchtet am Bildschirm, <und vergib uns unsere Schuld>, Amen; das Leben zum weiten Mal geschenkt, sagt der Arzt, alles normal, nur brav durchimpfen; und weiter im Text, der Bub fährt schon Dreirad und haut schon Mädchen und klaut schon Marmeln und spielt schon Doktor, höchste Zeit für den Kindergarten, schon kann er stillsitzen, schon kann er Verschen aufsagen, schon wird er Finkenchef, schon schlitzt er den Teddybär, schon spielt er Räuber; faß ans linke Ohr mit der rechten Hand; echt schulreif, sagt der Arzt, alles normal, und weiter im Text, der Bub lernt rechnen, der Bub lernt lesen, der Bub lernt schreiben, er spielt den Josef im Krippenspiel und klimpert Klavier, <Der fröhliche Landmann>, er übt zu wenig, er sudelt ins Reinheft, er schwänzt die Singstunde, er raucht Nielen, und im Zeugnis -
Oh, mein Gott, Versetzung gefährdet; vorverschobene Pubertät, sagt der Arzt, alles normal, nur viel Sport, wenig Fleisch, und weiter im Text, der Bub fliegt vom Gymnasium, er ist mit Pickel übersät, er gründet eine Zeitung, er trägt Sonnenbrille, er klaut eine Gitarre, herrgottnochmal, wir können auch andere Saiten aufziehen; er spielt Baßgeige, er spielt Schlagzeug, herrgottnochmal, schalt den Verstärker aus, und diese Haare, und diese Pranken und diese Antworten und dieses Rumhocken, aber eins können wir dir garantieren: Die Lehre wird durchgehalten; er kurvt mit dem Moped, er klimpert auf dem Computer, er eröffnet einen Laden; er gafft in den Flimmerkasten, da läuft der uralte Slapstick schon auf vollen Touren: Der dumme August latscht in viel zu großen Schuhen und wuchtet sein Gummihämmerchen aus den viel zu weiten Hosen; hellauf lacht Columbina, als er ihr eins überwutzen will; ihr Mieder platzt auf, und der rosa Schnuller fahrt aus, wupps, saugt der liebe Bub sich schon fest am lieben Mädchen, eia poppeia, nicht so schnell, du Schafskopf, nicht so schnell; aber schon herzt er sein Täubchcn, schon gurrt es ihm zu, schon schlitzt er es auf, oh mein Gott, wir gratulieren; im Labor sitzt das junge Paar Hand in Hand und verfolgt am Bildschirm, wie die Zelle sich teilt, grandios, die Spaltung erfolgreich, ein Embryo zuckt, er fächert schon aus und
1974 wechselte ich als freie Mitarbeiterin zu Radio DRS.
1976 publizierte ich den ersten Erzählband, Flissingen fehlt auf der Karte.
Die Sache mit Flissingen steht nicht fest
Flissingen fehlt auf der Karte. Wir können annehmen, dass es 60 000 Einwohner hat, eine Hauptstrasse mit Geschäftshäusern zu beiden Seiten, zwei Kirchen, eine katholische und eine lutheranische, die Marienkapelle und ein Heimatmuseum. Nördlich der Stadt, am Fluss, hat man römische Funde gemacht: 5 Münzen, 3 Wasserkaraffen (Amphoren) und 3 Lanzenspitzen. Ein Schwimmbad ist geplant, und letztes Jahr ist in der Grundschule eine fünfte Klasse eröffnet worden.
Aber man könnte anders von Flissingen reden: Der Name leitet sich mit grösster Wahrscheinlichkeit von flootsen ab, später floot-singen. Floss, Fliss. Wie sich der Name ins i gespitzt hat, ist den Germanisten ein Rätsel. Es scheint also, dass Flissingen einen Fluss hat, dass Wälder da sind und sich die Holzindustrie zwangsläufig angesiedelt hat. Es ist auch anzunehmen, dass Flissingen einen «Kirgel» hat. Jede Stadt hat ihren Kirgel, und am Sonntag gehen Eltern in Wanderhosen und gescheckten Sommerröcken mit ihren Kindern auf die Drahtseilbahn. Die Kinder winken an der Zwischenstation der talwärtsfahrenden Kabine zu, und es bellt ein Hund. Die Leute lachen, und von der Kirgelhöhe sieht man auf Flissingen hinunter: Bei klarem Wetter sogar die Marienkapelle, auf alle Fälle aber zwei Kirchtürme und das Holz vor den Sägereien.
Der Fluss umfliesst die Stadt, und die Sonne scheint. Flssingen wäre eine deutsche Stadt, auch wenn es sich nicht auf der Karte finden lässt. Gefährlicher ist, dass irgendeiner einmal aus Flissingen kommen könnte..
Und zu reden anfinge. Zum Beispiel, wie er da Wache gestanden habe, im Gehölz am Kirgel. Oder wie er eigenhändig geholfen habe, sie auf dem Marktplatz zusammenzutreiben und sie dann in die Eisenbahnwagen zu pferchen. Wie er aber sogar dann noch nicht begriffen habe. Nein, nein, sogar dann noch nicht. Oder er könnte eine andere Geschichte in Umlauf setzen:
«Wir hatten ein Haus in Flissingen damals. An den Hang gebaut. Beim Fluss unten. Wir sahen vom Esszimmer aus direkt auf den Fluss, Unsere Nussbaum-Bibliothek war eingebaut. Sie hing nachher wie ein Bretterverschlag an den Wänden.»
Oder er könnte noch einmal davon anfangen: «Für uns Junge hatte es nicht nur negative Seiten, ich sage ausdrücklich nicht nur. Denn sehen Sie, wir hätten doch Zusammenhang dadurch, ja, Zusammenhang hatten wir. Am Samstag nach der Schule sind wir losgezogen auf den Kirgel in unser «Jugendheim», wir haben gesungen zusammen, wir haben ums Feuer gesessen zusammen. Und es ist immer sauber zugegangen, das darf ich sagen: Die Mädels hatten ihr Stockwerk, die Jungens hatten ihr Stockwerk, und da ist nie etwas passiert,nie. Das dürfen wir doch nicht vergessen.» Oder er könnte das Ende erwähnen:
«Wir haben sie kommen sehen über den Fluss. Die Panzer mussten immer zweimal ansetzen, und meine Frau weinte. Auch wenn es für uns ja die Erlösung bedeutete, das, worauf wir sechs Jahre gewartet hatten. Gott, fangen wir nicht wieder an. Wissen Sie, was das heisst: Nullpunkt?»
Es könnte einer reden, und das wäre das Wenigste, denn Flissingen lungert in der Welt herum. Es könnte ausbrechen und uns suchen. Wie, wenn wir in Flssingen gewesen wären? Flootsen heisst obenauf schwimmen. Genügt es, nicht dort gewesen zu sein? Die Sache mit Flissingen steht nicht fest. Es lässt sich auf keiner Karte ausradieren.
Im selben Herbst wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Im Laufe der nächsten Monate lernten meine Familie und ich das Wort ‚Kranksein’ buchstabieren, jedes für sich allein.
Blick durchs Fernglas
In Zürich heisst das Kantonsspital Kantonsspital, auch in Basel ist es kein Haar besser. So hat Onkel Robi nach 92 Jahren Gesundheit nicht gleich verstanden, was Krankwerden heisst. Keine zehn Tage nach der Darmoperation erklärte er, jetzt sei fertig Stägeli uf Stägeli ab, entweder werde sein Bauch innert 24 Stunden wieder hergestellt oder der Chefarzt persönlich segne das Zeitliche - unter dem Serviettli im Nachttisch liege der Revolver griffbereit.
In Bern wären derartige Irrtümer undenkbar, da heisst das Kantonsspital 'Die Insel'. Klarer könnte nicht ausgesteckt werden, was Kranksein bedeutet.
Vor 25 Jahren bürgerte mich das Festland zum ersten Mal aus. In der Insel hiess 'freie Schweizerin' nichts mehr, meine Zimmernachbarin wagte nicht einmal zu entscheiden, wie ihr selbst zumute war: „Der Arzt sagt, es gehe mir besser."
Den italienischen Schneidermeister Pedroni habe ich erst beim Bestrahlen kennen gelernt. Er weigerte sich höflich, in Bademantel und Spitalhemd im Wartezimmer zu sitzen, er fühle sich in Anzug und Krawatte krank genug. Ein paar Tage später erklärte er dem Arzt, Schmerzen könne er besser tolerieren als Frömmler, die seine Krankheit zur Strafe umfunktionierten. Pedroni lächelte und deutete mir, ich solle eine Spur aufrechter sitzen: es wirke gesünder. Ein paar Tage später fragte er, ob mein Mann für Finken schwärme, dass ich nie Schuhe an den Füssen hätte? Signor Pedroni brachte mir nach und nach jede Freiheit bei, die mir die Krankheit liess. Aber vielleicht ging es um Wesentlicheres. Er blieb mitten im Korridor stehen und fragte, ob mich nie Neid ergreife? Nicht auf die Gesunden, nein, er denke nur, wenn einer käme und sagte, ,deine ganzen drei Jahre Leiden haben einen Sinn, sie werden die Menschheit erlösen' ... Schnell fügte Pedroni an, von Gott zu reden heisse, sich zu verkleiden. Sogar das Wort Schicksal schlottere fremd am Leib. „Sagen wir: ,Ich habe Angst', Signora, dann ist der Stoff exakt zugeschnitten und es geht drum, die richtige Fasson zu finden." Am Tag, als die Strahlentherapie bei mir abgebrochen werden musste, sagte Pedroni, ich solle aufpassen mit Reden: Tumore bombardieren, Zellen aushungern - das Kriegsvokabular erkläre den Körper zum Aufmarschgebiet medizinischer Heerscharen. Spüre ich nicht etwas anderes? In mir drin? Er rede nicht von der Seele, er fühle es körperhaft. Eine Einheit, vielleicht, oder doch das Verlangen danach, nein, ein Heimweh sei's.
Vier Monate später war Signor Pedroni tot.
Jetzt ist die Kieferchirurgie auf Geschoss J untergebracht, ein Patient zieht den Infusionsständer quer durchs Raucherzimmer, wo sich alle zusammenrotten, die selber schuld sind. Aber vielleicht, dass den Architekten gegraust hat vor christlichen Rache-Schwaden, wie einst Pedroni: Der einzige frei zugängliche Balkon liegt vor dem Raucherzimmer. So landet der Patient samt Infusionsständer draussen, in den rauen Winden der Freiheit. Er kramt sein Fernglas aus dem Bademantel und nimmt es hoch. Nach einer Weile setzt er es ab und schiebt die Glastür einen Spalt breit auf: "Möchte jemand durchblicken? Die Aipen." Alle schütteln den Kopf. Der Patient gibt freimütig zu, dass man sowieso nicht ins Wallis sehe. Wäre ja gelacht, wenn er als Walliser glaubte, von der Insel aus... Item, er sage sich immer, wenn er oben auf den Alpen wäre, die er bei klarer Sicht im Glas halte, dann könnte er frei hinunter ins Wallis blicken. Alle schweigen. Sorgsam schiebt der Patient die Tür hinter sich zu.
Ich musste aus den Redaktionen bei Radio DRS ausscheiden. Aber schon während meiner Rekonvaleszenz, trat die Abteilungsleiterin an mich heran mit dem Vorschlag, eine Sendung zum 80. Geburtstags des deutschen Schriftstellers Walter Mehring zu gestalten.
Fremde Freunde
Frömdi Fründe berndeutsch | hochdeutch
Heit'er nid mängisch ds Gfüel, 's stimmi gar nid, dass sech die am beschte verstönge, wo di glychi Bildig heige? I ha vor vilne Jahr es Radioportree gmacht vom dütsche Schriftsteller Walter Mehring. D Literaturkritik het ne i de Zwänzgerjahr bsunders gfyret als geniale Lyriker, Liedermacher u Satiriker. Won i ne tröffe ha, het er z Züri imene schittere Hotelzimmerli ghuuset, un eigetlech het ne scho niemer meh kennt. Über achtzgi isch er gsy, e hiifällegi, verbittereti Literaturgrössi, wo vor Schwechi chuum no ne Zyle het chönne schrybe. Der Mehring het sech fasch nume no standhaft gweigeret, di dütschi Staatsbürgerschaft wider aaznäh. Drum isch er äbe z Züri blybe bhange, won er usem amerikanischen Exil nach Europa zruggcho isch. «Das war mein Irrtum», het er im Interview gseit, «es gibt kein Zurück.»
Gället, Dihr kennet syner Büecher u Gedicht würkli nid. Der letscht Dadaist, wo z Züri no ne truuregi Existänz gfrischtet het, esone Usrangschierte, wo ke Zytig ihm no offeriert hätt, syner Aasichten über d Gägewart z publiziere. D Nazi hei 1933 syner Wärk ufe Schyterhuufe gheit. Un eigetlech hei si äbe gwunne, d Nazi, o we si der Chrieg verlore hei. Mir befassen is ja nume no mit dere Handvoll Wältberüemtheite, wo trotz em Exil eke Tag us em öffentliche Bewusstsy gschwunde sy. Die angere dütschsprachigen Outore hei der Aaschluss nie meh gfunde, ihri Schaffeschraft isch bbroche gsy, un ihri Literatur het nach em Chrieg ekes würklechs Comeback erläbt. Wüsset'er: nöii Läser z finde, wider ggläse wärde, hätt en Art Widerguetmachig chönne sy. «Das war mein Irrtum - es gibt kein Zurück.»
Aber z Züri het e ganz en unintellektuelle Mönsch em Walter Mehring Tag für Tag e chly öppis vo däm ggä, won er eso ghungeret het dernaa. E junge, italiänische Chällner ire chlyne Beiz isch es gsy. Der Mehring het ihm offebar verzellt gha, win er e ganzi Zylete Büecher gschrybe u z Amerika e Professur gha heig -u ja: win er z Nacht chuum no chönn schlaafe, wird er em Giorgio verzellt ha.
Wo mer i däm Beizli zämegsässe sy, het ne der Giorgio geng mit <Professore> aagredt, un er het em Mehring ds Fleisch eso tifig u diskret verschnitte, dass i's chuum gmerkt ha. Wo mer hei wölle ga, het er em Mehring hurti es Sändwitsch i Mantusack gstosse u lyseli gseit: So wärd em Professore d Nacht echly chürzer, u villicht mög er de es bitzeli schrybe. Nei, Trinkgäld het ihm der Mehring ekes chönne gä. U der Giorgio het nid gnue Dütsch chönne, für nes Gedicht vom Mehring z versta. Är het ihm numen i Mantu ghulfe u sech bym Adiösäge verböigt. U zu mir het der Giorgio gseit: «Alter Mann ich ehren. Hat Leben lang gearbeitet»
Haben Sie nicht zuweilen das Gefühl, es stimme nicht ganz, daß sich am besten verstehe, wer die gleiche Bildung habe? Es liegt Jahre zurück, daß ich ein RadioPorträt des deutschen Schriftstellers Walter Mehring machte. Die Literaturkritik hatte ihn in den zwanziger Jahren vor allem als genialen Lyriker, Liedermacher und Satiriker gefeiert. Als ich ihn traf, hauste er in Zürich in einem schäbigen Hotelzimmerchen, und eigentlich kannte ihn schon kein Mensch mehr. Er war über achtzig Jahre alt, eine hinfällige, verbitterte Literaturgröße, die vor lauter Schwäche kaum noch eine Zeile zu schreiben vermochte. Mehring hat sich fast nur noch standhaft geweigert, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder anzunehmen. Deswegen war er auch in Zürich hängengeblieben, als er aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückkehrte. «Das war mein Irrtum», sagte er im Interview, « es gibt kein Zurück.»
Nicht wahr, Sie kennen seine Bücher und Gedichte tatsächlich nicht. Der letzte Dadaist, der in Zürich noch eine traurige Existenz fristete, ein Ausrangierter, dem keine Zeitung mehr offeriert hätte, seine Ansichten zur Gegenwart zu publizieren. 1933 hatten die Nazis seine Werke auf den Scheiterhaufen geschmissen. Und eigentlich haben sie gewonnen, die Nazis, auch wenn sie den Krieg verloren haben. Wir befassen uns ja nur noch mit der Handvoll Weltberühmtheiten, die trotz ihres Exils keinen Tag aus dem öffentlichen Bewußtsein geschwunden sind. Die anderen deutschsprachigen Autoren haben den Anschluß nie mehr gefunden, ihre Schaffenskraft blieb zerbrochen, und ihre Literatur hat nach dem Weltkrieg kein wirkliches comeback erlebt. Wissen Sie: neue Leser zu finden, wieder gelesen zu werden, hätte eine Art Wiedergutmachung bedeuten können. «Das war mein Irrtum - es gibt kein Zurück.» Aber in Zürich hat ein ganz unintellektueller Mensch Walter Mehring Tag für Tag ein bißchen gegeben, wonach er hungerte. Es war ein junger italienischer Kellner in einem kleinen Lokal. Offenbar hatte ihm Mehring erzählt, daß er eine ganze Reihe von Büchern geschrieben und in Amerika eine Professur innegehabt habe - und ja: daß er nachts kaum noch schlafen könne, wird er Giorgio erzählt haben. Als wir zusammen in diesem Lokal saßen, hat Giorgio ihn immer mit <Professore> angeredet, und er hat Mehring das Fleisch so schnell und diskret zerschnitten, daß ich es beinah übersehen hätte. Als wir gehen wollten, hat er Mehring schnell ein Sandwich in die Manteltasche gesteckt und leise gesagt: So werde dem Professore die Nacht doch etwas kürzer, und vielleicht könne er ein bißchen schreiben. Nein, Trinkgeld konnte ihm Mehring keins geben. Und Giorgio konnte nicht genug Deutsch, um ein Gedicht von ihm zu verstehen. Er hat Mehring nur in den Mantel geholfen und sich beim Adieu verbeugt. Und zu mir hat Giorgio gesagt: «Alter Mann ich ehren. Hat Leben lang gearbeitet.»
Der greise Autor war verbittert über Politik und Literaturbetrieb, beide liessen ihn links liegen, und doch trug er die ganze Welt noch in sich, für die es bald keine Zeugen mehr gab. Wir machten in Zürich drei Tage lang Interviews in einem Hotelzimmer, immer nur stundenweise gebrechlich waren wir beide.
Ein Wolf beisst sich die Zähne aus
Walter Mehring - der Unbekannte von der Szene: Letzten Samstag starb er, der Kabarettist und Schriftsteller, der <Bänkelsänger von Berlin>, in Zürich im Alter von 85 Jahren (vgl. BZ vom Dienstag). Die Berner Autorin Maja Beutler hat den damals 81jährigen vor vier Jahren in einer Radiosendung porträtiert. Gleichzeitig entstand auch ein Text, eine Skizze, eine Reminiszenz an den Porträtierten. Es ist kein Lobgesang auf einen Toten, es ist die persönliche Annäherung an Walter Mehring. Eine Skizze eben.
Da geht ein kleiner Mann, stützt sich auf einen Stock und stösst die eine Schulter hoch bei jedem Schritt, als möchte er damit schon in den Himmel reichen. Da geht ein kleiner Mann, der sich nicht ins Alter ergeben mag und nicht ins Schweigen. Der 81jährige Walter Mehring ist aufbrausend, einsam, ungeduldig und egozentrisch wie ein pubertierender Jüngling: <Wem geht es denn so schlecht wie mir?> Das ist keine Frage - das ist ein Schlachtruf. Walter Mehring verteidigt, seit er in den Jahren des Ersten Weltkrieges zu schreiben begann, immer seine Ausnahmestellung. Nur nicht immer für dasselbe, das hat ihm die Welt nicht zugestanden. Heute ist er ein Ausnahmefall im Negativen: Kein Autor ist so vergessen, so verkannt, wird so hinters Licht geführt und missbraucht wie Walter Mehring. Es gibt nichts Rührendes an diesem Mann. Er ist eine einzige Anklage.
Seinen ersten Lyrikband, 'Das Ketzerbrevier oder die Kunst der lyrischen Fuge', stellte er 1921 unter das Motto: 'Ich hab's gewagt...'. Ein Wort Ulrich Huttens. Zuerst literarisch gedeutet, hat es Mehring später mit allen Parallelen von Flucht und Verfolgung durchlebt. Heute ist es sein Lebensfazit: <Und es wird über meinem ganzen Denken, meinem ganzen Arbeiten stehen bis zuletzt. Ja, allerdings, 'Ich hab's gewagt'.>
<Sie haben es in der deutschen Sprache als erster Lyriker gewagt nach Musik zu schreiben?> <Ja, ja>, ruft Mehring eifrig, <ja, natürlich, das muss man doch endlich zur Kenntnis nehmen. Wer hat denn das vor mir gemacht, dass er die 'Kunst der Fuge' von Bach genau studierte? Ich hab' ja nicht aufgehört, sie zu studieren. Genau so sind meine Verse gebaut, genau so, Sie sollten sie rezitieren lassen. Aber ausser mir kann es ja keiner.>
Dennoch: Mehring ist kein eitler Poet. Es ist schon etwas anderes dieser Ichbezogenheit beigemischt. Eine Verzweiflung, die über die eigene Person hinausweist, eine Verzweiflung darüber, dass die Welt sich dreht und dreht und nicht zur Kenntnis nimmt, was alles geschaffen wird. Eine Verzweiflung darüber, dass einer sich die Zähne ausbeisst an seiner Arbeit, dass einer sich aufreisst für seine Überzeugungen, dass er bereit ist, das ganze Blut zu verströmen und die Welt es nicht will und nicht wollte. Nicht von Hutten, nicht von Mehring. Es stehen nur kleine Verse auf weissem Papier. Und die Buchdeckel werden zugeschlagen, und die Welt dreht sich und ist durch nichts gestört worden. 'Ich hab's gewagt', nur hat sich die Welt nicht anhalten lassen. Geht uns der Fall Mehring etwas an? Uns ganz persönlich? Wissen wir etwas anzufangen mit seinem Lebensfazit, wenn es uns doch unser ganzes Erziehungsarsenal an 'frisch gewagt ist halb gewonnen' untergräbt? Möchten wir - um es ganz deutlich zu fragen - Kinder heranziehen, die etwas wagen, statt auf der Erfolgsstrasse zu tippeln, den Blick immer starr auf die Karriereapotheose gerichtet, dorthin, ganz am Schluss, wo die Reihen von Lorbeerbäumchen endlich zusammenlaufen?
<Erfolg>, Walter Mehring wird zum Wolf, <Was ist das denn, Erfolg für einen Schriftsteller>, fragt er lauernd, <was stellen Sie sich vor, mein Kind? Irgend so einen Bestseller wohl? Ach Gott ja, das wird mir ja nun wirklich erspart bleiben.> Er hat es sich also explizit verbeten, dass man ihn bedauert. Und gerade deswegen behält er die Trümpfe in der Hand: <Und nun werden Sie mich fragen, was mich schon jeder gefragt hat>, sagt er und lässt seinen Stock tanzen auf dem Parkett, <Sie werden mich natürlich fragen: Wo stehen Sie denn nun politisch, Walter Mehring?> Und da kann ich Ihnen nur sagen, was ich schon immer gesagt habe, Kind: <vertikal>. Das habe ich schon im Ersten Weltkrieg gesagt. Ich bin nicht links, und ich bin auch nicht rechts, ich bin vertikal zu suchen. >
Er will ein Wolf bleiben, unbemuttert. Streitgespräche sind sein Aktionsfeld par excellence, da belebt er sich förmlich und hofft auf Futterneid. <Walter Mehring, was heisst denn aber 'vertikal', ganz einfach und praktisch ausgedrückt?> Darauf ist er getrimmt, der greise Wolf, das mag er. Und weil er immer neben dem Rudel gejagt hat, wird er sich kein fettes Stück abjagen lassen: <Vielleicht muss ich's mir überlegen>, lächelt er artig, <am besten gleich die ganze Nacht.> Er ist tadellos erzogen von sich selbst und wird sich hüten, sich je vor mir schämen zu müssen. <Ja. ich werde überlegen. Und Sie, gnädige Frau, Sie werden dann dreimal raten dürfen. Passt es morgen früh?> Walter Mehring steht auf, umständlich, er zieht die Schulter hoch, dreht sich und klopft mit dem Stock langsam über den Boden. <Ich muss noch was schreiben.> Das Einzige, das ihn noch umtreibt und um seine ganze Ruhe bringt. <Schreiben>, sagt Mehring, <das ist ja mein Leben.>
Ich war noch nicht ganz fertig mit dem Schneiden der Tonbänder, als eine Metastase entdeckt wurde. Der zweiten Operation folgten lange Wochen der Bestrahlung.
Vielleicht fand da die Begegnung statt, die für mein Weiterleben und Weiterschreiben am entscheidendsten war: Als ich mich dem Kranksein überlassen wollte, hat mich der italienische Herrenschneider Giuseppe Provinzano zur Ordnung gerufen. Nach seinem Tod auferstand der Lehrmeister als ‚Signor Pedroni’ im Roman Fuss fassen und ein zweites Mal im Theaterstück Das Marmelspiel.
Ich lebe schon lange heute, Signora
Aber jetzt ist die Gegenwart explodiert, Pedroni, und wer hätte etwas Besseres zu hoffen gewusst? Sie selbst würden mir recht geben: Der Soldat war eingekesselt zuletzt. Aufgegeben hat er nicht, nein, allem zum Trotz nicht, Pedroni, aufgegeben haben Sie nicht, das kann sich nur das Kanonenfutter leisten. Sie sind aufgerieben worden, ich sehe es erst jetzt: schlohweisse Haare, und vor drei Wochen noch … aber ich will nicht mehr hinschauen, es geht mich nichts an, was Sie auch nichts angeht. Alles ist Staffage hier drin, das Gesicht mit den geschlossenen Augen, die Kerzen, das Spitzenhemd, die gefalteten Hände, nein, das geht uns beide nichts mehr an. Aber da ist ein Missverständnis, Pedroni: ganz voller Freude bin ich hergekommen, mit einem Hochzeitsstrauss, und ich weiss, das hatten Sie verstanden, nur gerade Sie, und ich hätte gesagt: «Jetzt ist alles gut geworden, Pedroni, Sie müssen nicht mehr sterben, und ich, ich lebe weiter», und ganz gesammelt wie immer, ja, ganz gesammelt hätten Sie mir zugehört und gesagt . . . . Aber es ist anders, alles ganz anders. Ich stehe allein da und wirke lächerlich, und die Blumen wirken lächerlich, ja, ganz voller Einfalt bin ich hergekommen, voll einfältiger Freude, <ich werde ihn sehen>, habe ich geglaubt, gegen jede Vernunft.
Sie wissen, Signora, welche Einfalt? Wir sind mit ihr . . . sagen wir: ganz zu Hause in uns selbst, und auf einmal kann uns die Natur wieder tragen wie Pflanzen, ja, das ist der Ausgleich gegen die Krankheit. Wir können uns gar nicht mehr zu Grunde denken, Signora. Wir schlafen immer vorher ein, ja, dass wir todmüde sind, macht auch vieles leichter.
Nein, Pedroni, ich bin nicht müde, überhaupt nicht mehr, ich will leben, nein, mehr will ich, gegen alle Vernunft: <ich lebe und du sollst auch leben>, so ist die Einfalt, denn was wüsste ich besseres zu hoffen mit meinem Verstand?
<L'aria dolce>, sagen wir in Italien, Signora, jetzt ist sie da, die Wärme, etwas Zartes überall, ich habe es zu Signor Kasser gesagt gestern: «Wunderbar, die Welt, Anfang Mai, und Ihr Park, Signor Kasser, nie ist er schöner gewesen, all der weisse Flieder, nur die Braut fehlt.»
Nein, Pedroni, durchsichtig ist die Welt geworden Anfang Mai, ganz durchsichtig, wie Dottersäcke von jungen Fischen, ein Netz von haarfeinem Geäder über dem pulsenden Vorrat, alles kann reissen, und dann. . . wir haben es beide gewusst, Pedroni.
Ich wollte nur einen Augenblick Atem schöpfen, Signora, aber plötzlich hat Kasser gesagt: «Ich brauche wieder einen Anzug, Pedroni, unbedingt, die Maschine und den Zuschneidetisch haben Sie ja behalten. Kommen Sie morgen noch einmal vorbei, mit den Stoffmustern, das braucht nicht viel Kraft, Sie wissen es vom letzten Mal: Eine Viertelstunde das Ganze; dann machen wir es wie gewohnt, Sie nähen, wenn immer Sie können oder mögen, und ich, ich warte auf alle Fälle, Sie kennen mich ja, Pedroni.» «Ja, Signor Kasser, ich kenne Sie», habe ich gesagt, «und deshalb will ich ganz ehrlich sein, und wir wollen es beide sachlich nehmen: Ich komme nicht mehr vorbei mit den Stoffmustern, denn es ist endgültig, diesmal, Signor Kasser, jetzt bin ich am Boden. Nein, schauen Sie mich nicht so an, ich bin ganz. . .sagen wir: nüchtern. Ich weiss, Ihre Schuld ist es nicht. Aber meine ist es auch nicht, Signor Kasser. Wer weiss, vielleicht ist es die Schuld von Gott dem Allmächtigen. Aber mir ist es lieber zu sagen: «Es ist die Schuld von niemandem.»
10 000 Strahleneinheiten, mitten durch, das ganze Netz platzt, und jetzt, jetzt, Pedroni, alles nur leere Haut, so ist die Welt jetzt, ganz leer, innen. Aber wir beide, Pedroni?
Man muss die Tür zumachen können, Signora, und die Welt Welt sein lassen. Denn was bleibt uns anderes übrig, Signora? Wenn wir hinaustreten, weicht sie nur weiter zurück, die Welt, als ob wir sie auffressen wollten. Oder zu wem dürfen Sie reden von der Angst, Signora? Sobald Sie anfangen davon, machen Sie selber Angst, den Nächsten am meisten. Wissen Sie, was ich glaube, Signora? Schweigen ist eine Art. . . sagen wir einmal: es ist unser Liebeszeichen. Wir müssen schweigen lernen, wie die kleinen Kinder reden lernen. So ist es eingerichtet. Manchmal denke ich, die Krankheit hat alles verändert bei mir, überhaupt alles. Jetzt stehe ich leise auf in der Nacht, wenn der Husten schlimm wird, und ich gehe hinunter in die Küche, nehme ein paar Tropfen Novalgin gegen das Ärgste und sitze dann auf dem Schemel und halte mir die Hand vor den Mund. Manchmal muss ich selber lachen: So also sieht die Liebe aus, die reife, Signora: In die Küche schleichen, damit der andere ein bisschen schlafen kann und alles vergessen.
Reden Sie, Pedroni, reden Sie. ich bin nicht die Welt, ich bin das andere und muss ein Stück dazu gewinnen, das heisst doch reden. Pedroni, Sie wissen Bescheid, gerade Sie, nur Sie. Ja, ich schliesse die Faust ganz fest, jedes Wort will ich halten, ich will, aber ich trage nur Luft herum: <Eitel, alles ganz eitel>, ...
Nein, Signora, es hat nichts zu tun damit, dass einer sagen kann: <Ich glaube an Gott>, das ist doch . . . sagen wir: Theorie, Signora, und ich bin nicht Priester geworden, wie meine Familie wollte, weil . . . Spekulation, Theorie, Signora, das alles ist nicht meine Sache. Ich bin... ja: Ganz praktisch bin ich eben. Ich glaube an den Menschen, und darum habe ich Vertrauen, Signora, und Sie, Sie haben keins. Stellen Sie sich doch einmal vor den Spiegel und schauen Sie hinein. Dann können Sie ihn sehen, den Menschen.
Und was halten die Ärzte fest, zwischen ihren Fingern? Was operieren sie? Diesen Menschen?
Aber jetzt, hier, vor meinen Augen, Pedroni, ist alles spiegelverkehrt, ihr Körper ist da und will mich narren, die Haare, die geschlossenen Augen, wie soll ich sehen, so, dass niemand da ist?
Was wissen wir denn, Signora? Nicht einmal was ich anstelle in meiner Brust, was ich mir selber zubereite mit diesen Zellen, die ich zu schnell produziere und aufeinandertürme, nicht einmal das weiss ich. Aber wenigstens kann ich es erdulden, und dafür nützt kein Wissen. Sie müssen aufpassen, Signora, mit dem Denken. Auf einmal drehen Sie im Kreis, und überall sehen Sie Tod. Aber ich möchte nicht reden davon, Signora, und mich befassen damit. Der Tod ist nicht unsere Angelegenheit, Signora. Wir dürfen ihm nichts geben von uns.
Alles ist doch gegeben, Pedroni. Nur ich, ich denke jetzt an Ihr Leben, an nichts anderes denke ich, und ich will leben für zwei, ich will Ihr totes Gesicht vom Gesicht reissen, ich will Ihr wirkliches sehen, ich will den Finger drauf legen und sagen <dieses bleibt, denn ich lebe>. Aber alles eitel, ganz eitel, Pedroni.
Nur in mir muss ich suchen. Ich muss die Augen zumachen, <nichts hören, nichts reden, nichts sehen>, und dann kommen Sie mir langsam entgegen, wie jeden Morgen im Spitalgang, ich weiss, Pedroni, Sie haben einen hellen Kamelhaarmantel, ich weiss, Sie haben den Mantel unten im Keller genäht, ich weiss, Sie sind kaum grau gewesen, ich weiss, erst dreiundfünfzig, ich weiss, ich weiss, aber ich
müsste mich mit letzter Kraft anstrengen, kommen Sie, kommen Sie doch, ich weiss, wie Sie lächelnd den Hut ziehen und dann wieder eine Spur schräg aufsetzen, als wären Sie gar nie dreissig geworden, ich weiss. Aber ich will etwas anderes und muss es anders anfangen. Ganz einfach, ganz praktisch. Schritt für Schritt: Ein Mann kommt durch den Gang geschritten, als wäre er gar nicht krank, er glaubt an den Menschen und spielt hinzu, was nicht von selbst geht, seine Freiheit, er schlendert, er setzt jeden Schritt, als gäbe es keine Anstrengung auf der Welt, als wäre noch immer feste Erde unter seinen Füssen, aufpassen mit denken, aufpassen mit denken, alles ist erst verloren, wenn die Freude verloren wäre.
Das ist doch Unsinn: Auf dem Balkon herumliegen, in Decken verpackt. Das sind alles Bilder, die sich meine Frau ausmalt: Krank, aber glücklich, Pantoffeln statt Schuhe. Ich will es anders, Signora, so, wie ich will, will ich es, und deshalb gehe ich in den dreckigen Wirtshausgarten hinüber und bestelle ein Bier. Zugegeben, es ist nichts Besonderes, wackelige Metalltischchen und Stühle, fürs Jüngste Gericht wäre es zu unbequem. Aber so will ich an die frische Luft, genau so, Signora. Ich bestelle mir ein Bier, die Serviertochter bringt ein kariertes Tischtuch und klemmt es fest, und dann sitze ich da und schaue zu, wie die Leute vorbeigehen und wie sie lachen und sich grüssen, und so gefällt es mir erst richtig, Signora, mitten in der unbekümmerten Welt, ja, danach habe ich Heimweh, Signora, denn so bin ich selber auch gewesen.
<Du sollst dir kein Bildnis . . .>, ja, Pedroni, aber was bliebe jetzt anderes zu machen? Bilder bleiben, alles Missverständnisse, haarfeine, ein ganzes Nerz von Missverständnissen in meinem Kopf. Aber was hält das Netz zusammen? Den leeren Dottersack oder den Fisch?
Tausend Dummheiten, Nichtigkeiten, Kleinigkeiten, Signora, die es nicht einmal wert sind, erwähnt zu werden, wie Wasser rinnt mir alles zwischen den Fingern durch, ein Tag nach dem andern. Da, hier, schauen Sie: Da habe ich einen Brief hingelegt, damit Francesca ihn gleich mitnimmt. Er muss den heutigen Stempel tragen, Signora, sonst ist uns die Wohnung automatisch gekündigt. Und? Signora? Wo ist jetzt der Brief? Meine Frau hat ihn wieder hinaufgelegt in mein Schlafzimmer, einfach so, weil sie irgend etwas anderes denkt, immerzu. Keiner überlegt, was es braucht, eine Treppe hinunterzusteigen, mit meinem Husten. Aber das ist es auch gar nicht, was ich meine, Signora. Das Leben, das Leben verrinnt. Und wofür? Aber es heisst nur: <Jetzt ist er eben nervös.> Nein, ich bin nicht nervös, ich habe keine Zeit mehr für Krimskrams. Sie reut mich, die Zeit, jede Sekunde, jede, jede.
Nein: Das Wesentliche, Pedroni, den Funken zwischen Entweder und Oder möchte ich noch einmal erleben. Aber niemand ist da, nur das Missverständnis, die Hände, der Kopf, kein Funke mehr, alles nur Erde zu Erde, ich habe es gewusst, und doch bin ich gekommen, denn hier ist der einzig sichere Ort. Hier kann ich sehen <er ist nicht da.> Das ist ein Anfang. Denn zu Hause, Pedroni, öffne ich jede Tür und sehe leere Zimmer, ich weiss es zum voraus, aber ich öffne doch. Nein, es ist anders, Pedroni: Ich furchte mich, eine Tür zu öffnen, ich weiss, es liegt keiner da, es sitzt keiner in einem Stuhl, es hustet keiner, es redet keiner. Ich fürchte mich überall, Pedroni, weil Sie nirgends sind, und ich bleibe mitten in jedem Zimmer stehen und bin gefasst, das Missverständis der Missverständnisse werde sich aufdecken, plötzlich . . . <und die Erde wird aufreissen> ... Ich fürchte mich, Pedroni, <in der Welt habt ihr Angst> ... ja Angst, Pedroni, Angst . . . <aber seid getrost> ...
Reden Sie, Pedroni, reden Sie weiter. Heute ist ein schwarzer Tag, wie unser erster ein schwarzer Tag gewesen ist, der 30. Dezember. Ich habe das Ohr an die Wand gelegt, Gefängniszelle oder Folterkammer, toc, toc, toc, vielleicht ist es mein eigener Pulsschlag, toc, toc, toc, oder ist es die Sprache, Pedroni, von einer Zelle zur andern, toc, toc, toc, unsere Sprache, Pedroni?
Ich heisse Giuseppe Pedroni, Sie entschuldigen, Signora, dass ich Sie einfach anrede, heute morgen. Was ist mit Ihren Augen, auf einmal, Signora? Und es ist das erste Mal, dass Sie mir nicht zugenickt haben, seit wir beide bestrahlen. Vielleicht haben Sie . . . sagen wir einmal: einen schwarzen Tag. Ich kenne mich aus, Signora, ich bin schon drei Jahre an der Front, gewissermassen. Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen? Sie gehen jetzt zur Behandlung, und ich, ich warte auf Sie in der Cafeteria beim Eingang. Verstanden?
Verstanden, verstanden, verstanden, toc, toc, toc, ich lege das Ohr an die Wand, toc, jedes Klopfen ein Wort, toc, jedes Wort ein Ausweg, toc.
Signora, ich hole Ihnen einen Kaffee, doch, doch, doch, das kann ich. Hören Sie über den Husten weg, ich und er, wir werden gleich alt werden, so oder so. Trinken Sie einen Schluck, Signora, Strahlenreaktion? Aber das ist es nicht, Signora, nicht wahr? Es ist das andere. Ganz allein ist man eben auf einmal, Signora, ich weiss. Aber drehen Sie den Kopf: Für alle hier ist es dasselbe. Alle müssen die Faust aufmachen, wenn sie jemanden gern haben, alle, Signora. Das kann man lernen, loszulassen meine ich, aber gern haben muss man vorher können. Es ist wie im Krieg, Signora. Man wird nicht ein anderer, aber es zeigt sich mehr, wer man ist. Es gibt Leute, die sind Soldaten, und es gibt andere, die sind Kanonenfutter. Heute sind Sie drauf und dran sich aufzugeben, ich sehe es in Ihren Augen. Aber es passt nicht zu Ihnen, Signora. Es liegt nicht in Ihrer Natur. Sie können ja nicht aus ihr herausfallen, und Sie werden immer Ihr erster Arzt bleiben, lange bevor die andern Ärzte antreten. Ja, Signora, weinen tut gut. Schämen Sie sich nicht. Und die andern . . . wissen Sie, Signora, alle hier haben bittere Hoffnungen, einer wie der andere. Warum schütteln Sie den Kopf?
Wollen Sie nicht mehr hoffen, auf einmal? Jetzt kommen Sie mir . . . sagen wir einmal; sehr jung vor. Ich meine, es gibt eine Zeit, da müssen die Hoffnungen rosig sein, Versprechen schöne, ja, man baut die Zukunft auf damit, eine Hoffnung kommt auf die andere, immer höher und höher.
Aber jetzt ist eben die andere Zeit, Signora. Hoffen ist jetzt eine Arbeit, ich weiss Bescheid, ich bin schon drei Jahre krank, ich muss mich in die Hand nehmen und sagen, morgen ist noch nicht da, aber heute, das ist deine Angelegenheit, heute willst du ein Mensch sein, heute bleibst du aufrecht, so gut es eben geht, auch wenn nichts von selber geht, es ist kein Grund, wie eine Gottbeleidigung herumzukriechen. Ja, Signora, passen Sie auf mit dem Denken, morgen, die Zukunft . . . wir müssen den Verstand in die Ecke stellen, wie ein geladenes Gewehr. Es ist besser, man zwingt sich, richtig zu essen, richtig zu schlafen, als . . . Sie haben doch Kinder, Signora? Eben, das meine ich: Denken wir an die Kinder. Meine Francesca ist jetzt zwanzigeinhalb, und morgen will sie auf den Silvesterball, ja, Signora, wie ein kleines Kind freut sie sich und probiert Kleider an und ... das meine ich, Signora: Die Kinder müssen lachen dürfen, vor uns, sich amüsieren, erzählen . . . ja, wir sind beide ganz aufgehoben, Signora, wir müssen an zu Hause denken.
Zu Hause, Pedroni, ich bin zu Hause gewesen bei Ihnen, darum bin ich hergelaufen, ich wollte wieder zu Hause sein, ich wollte sehen, wie Sie ganz in sich selbst zu Hause sind.
10 000 Srrahleneinheiten mitten durch, und auf einmal ist alles nur noch ein Missverständnis, und was keines wäre, das weiss ich noch nicht. Aber ich will verständig werden, nur der Verstand ist mir im Wege, er lässt mich nicht denken, wie ich mir vorstelle, dass ich denken müsste, ich bin nur vernünftig, erst vernünftig, und doch kann ich mir etwas anderes vorstellen, Pedroni, aber ich werde immer wieder zurückgeworfen, alles nur Stückwerk, nur Bilder, und ich brauche das andere, die Leibhaftigkeit will ich und halte nur Luft in meiner leeren Faust. In mir selbst will ich Sie aufbauen, in meinem Kopf, jede Zelle ein Wort, so denke ich, immer höher und höher, ja, ich denke immer deutlicher, ich höre Sie klarer, ich mache den Mund auf und will schreien . . .
«Gott der Allmächtige», habe ich geschrien und bin vom Stuhl aufgesprungen, «Professore Lanz, was wollen Sie mir eigentlich sagen?» Der Blitz aus heiterem Himmel, vor drei Jahren, Signora, gewiss habe ich gehustet, aber kaum vierzehn Tage lang, nach einer Grippe. Professore Lanz hat mich kommen lassen und mir die Bilder gezeigt, eine Kapazität, der Professore, Tag und Nacht in der Klinik, ein Mann von grossem Format, Signora, letzten Monat ist er einmal um zwei Uhr nachts zu mir gekommen und bis am Morgen sitzen geblieben an meinem Bett. «Herr Pedroni, halten Sie jetzt durch», hat er zu mir gesagt. Ja, ein guter Mann, der Professore Lanz. Was kann et dafür? Er hat mir alles erklärt, vor drei Jahren, haarklein, aber ich glaube, ich habe gar nicht zugehört, oder gar nichts verstanden, zuerst, ich habe genickt und mich einverstanden erklärt mit der Operation, sofort, aber ich habe nichts verstanden. Ich habe einfach gesagt: «Wenn es nötig ist, ich habe Frau und Kind, Professore, ich habe Pflichten, da gibt es nichts zu überlegen.» Aber ich habe nichts verstanden. Und da sagte Professore Lanz: «Lösen Sie vorher Ihr Geschäft auf, Herr Pedroni.» Ich habe gelacht. Ganz richtig, jetzt erinnere ich mich wieder: Ich habe gelacht, und dann bin ich aufgesprungen: «Ich habe acht Angestellte, und meine Frau arbeitet mit. . , Professore Lanz, wollen Sie sagen, ich kann nicht arbeiten nach der Operation? Wie lange nicht? Ein halbes Jahr? Oder ein ganzes?» Da hat der Professore sein Lineal genommen und gespielt damit.
«Francesca ist erst achtzehn, Professore», habe ich gesagt, «sie hat doch ein Recht auf ihre Jugend, und meine Frau . . . und die Angestellten . . . Ich muss genau Bescheid wissen, Professore, von Mann zu Mann: Sagen Sie mir, wie lange ich nicht arbeiten kann im schlimmsten Fall, oder nehmen wir den besten: wie lange nicht im besten Fall? Versuchen Sie nicht, mir jetzt etwas zu ersparen.»
Professore Lanz hat mich angeschaut und gesagt: «Sie glauben gar nicht, wie leid es mir tut, Herr Pedroni, aber ich kann nur sagen, Sie müssen Ihre Schneiderei verkaufen. Auch im besten Fall.»
Hoffen, hoffen, hoffen, operieren und hoffen, drei Monate hoffen, und bestrahlen und hoffen und hoffen und hoffen und wieder operieren und sieben Monate hoffen und hoffen, hoffen, in Gottes Namen hoffen, ja, dann eben hoffen.
Was meinen Sie, Signora? Das Leben ist doch nicht mein Feind, nur weil ich es nicht mehr durchschauen kann. Ich sage mir immer: Wenn es einen Gott gibt, Signora, dümmer als ich kann er ja nicht sein, der grosse Gott. Sehen Sie, ganz nüchtern überlege ich. Am Abend vor meiner zweiten Lungenoperation bin ich noch einen Augenblick auf den Balkon hinausgetreten und habe ein bisschen in die Sterne geschaut. Manchmal kommt man sich eben . . . sagen wir: man kommt sich verloren vor, Signora, und da ist es am besten, den Kopf in den Nacken zu legen und die ungeheuren Distanzen zu betrachten. Ich bin ein einfacher Mann, und Genaues weiss ich nicht, aber diese Distanzen - doch, ich kann mir viel Grosses vorstellen, Signora, und warum also sollte ein grosser Gott, weit über mir, nicht sehen, was ich selber auch sehe?
«Francesca ist kaum zwanzig, was kann sie von ihrer Jugend haben, wenn ich ihr nicht noch ein bisschen zurechthelfe, sie ist zu jung, Padre eterno, ich sehe doch, was ich sehe, bei mir zu Hause. Du bist ein grosser Gott.»
Ich rede vom andern Hoffen, Pedroni, von der Endlosschraube: bestrahlen und hoffen und hoffen und operieren und hoffen . . .
Ja, Signora, Sie, Sie hoffen auch, Sie sind doch ein Mensch. Was wollen Sie anderes sein? Jeden Morgen, wenn Sie mir durch den Gang entgegenkommen, denke ich: <Sie ist die leibhaftige Hoffnung.> Ja, Signora, Sie werden durchhalten, ich weiss, ein, zwei Jahre, und die Forschung kommt Ihnen zu Hilfe; Sie sind noch ganz ungebrochen, Signora. Für mich, wissen Sie - nach drei Jahren Front. . . Aber sagen wir einmal: Ich hoffe, Signora.
Nein, Pedroni, sagen Sie es nicht wieder. Hoffen, hoffen, ich fürchte diese Tretmühle. Das Leben fällt auseinander, ein Stein vom andern, und wir hoffen, hoffen, immer tiefer und tiefer hoffen wir, so ist der Mensch, medizinisch getestet in tausend Rattenversuchen, nein, nein, ich nicht, ich fange nicht an zu hoffen, ich werde mich wehren, zu hoffen.
Gegen ein Unrecht muss man sich wehren, Signora. Dem Dottore Schwander habe ich vor der letzten Bronchoskopie die Hand aus meinem Schlund gerissen. «Passen Sie endlich auf, Dottore», habe ich ihm gesagt, «ich empfinde, ich spüre, ich bin ein Mensch, falls Sie es vergessen haben. Und Sie sind ein Pfluscher und entschuldigen sich nicht einmal bei mir. Ja, drauflos pfuschen Sie, ich kenne mich aus, seit drei Jahren macht man mir die Bronchoskopie. Jetzt werde ich Ihnen etwas beibringen, Dottore. Ich bin nur ein Schneider. Für Sie, Dottore, zähle ich nicht einmal. Aber ich, ich habe mein Métier beherrscht, erstklassig, und ich, ich musste aufhören damit, wegen der Krankheit. Sie dürfen noch arbeiten, Dottore, Sie dürfen. Rufen Sie Professore Lanz, damit Sie es endlich lernen.»
Aber es gibt eine Hoffnungsrutschbahn, Pedroni, Sie weichen mir aus, es gibt den Mechanismus, und wir sehen jeden Tag, wie er funktioniert: Der kleine Eggimann sitzt da mit erloschenen Augen und kann nicht mehr reden. Aber er schreibt auf kleine Zettel: «Danke, es geht schon besser.» Nein, nein, ich will nicht, dass es mich erwischt, nein, ich hoffe nicht, ich bin gesund, ich kann es beweisen, nach der Formel <ich beweise es ja>: Wer am kränksten ist, hofft am meisten, also hoffe ich gar nicht, dann hin ich am gesündesten, ich beweise es ja, wer am kränksten ist, hofft am meisten, also . . . Alles ein Dreh, Pedroni, alles eine Tretmühle,
Angst, Signora, ja, wir haben alle Angst, Warum erschrecken Sie? Sie gehört zum Leben, nicht zur Krankheit, Signora, die Welt ist voll Angst, schauen Sie sich doch um. Manchmal liege ich wach und denke: Sie muss ein Berg sein, die Angst, ungeheuer, und ich, ich habe nur ein Steinchen davon und kann es kaum aushalten. Aber es muss irgendeinen Sinn haben, Signora, das Ganze. Es ist nichts einfach umsonst im Leben. Ich weiss nicht, ob ich recht habe, aber eine Welt ohne Angst, Signora . . . vielleicht gäbe es dann gar kein Erbarmen mehr. So sehe ich das. Denn jetzt schaue ich manchmal die andern an und. . . ja, Signora. . . sie gehen mich alle etwas an.
Aber jetzt ist die Gegenwart explodiert, Pedroni, und es hat mir auch gegolten, ich merke es immer deutlicher, denn vorher bin ich ganz zu Hause gewesen, aufgehoben, geborgen, allem zum Trotz, und jetzt stehe ich hier und . . . <wer sind meine Brüder, wer meine Schwestern? >
Es ist doch nur für ein paar Tage diesmal, Signora. Man wird mir das Blut austauschen, und eigentlich bin ich nur wegen der Verdauung hier. Die ewigen Medikamente, ich weiss es genau, ich vertrage die Medikamente nicht, und ich sage meiner Frau immer wieder: Ich müsste nur den alten Kräutertee haben aus Catania, ja, Signora, es gehört alles zusammen, ich spüre es genau: nur diese . . . Einheit fehlt mir hier. Die Gedanken, die Kost, die Luft, es muss alles zusammenpassen, ich weiss es genau, ich müsste den Kräutertee wieder nehmen. Aber wissen Sie, was ich mir vorgenommen habe, Signora? Sobald ich mich ein bisschen erholt habe, fahre ich nach Catania zu den Brüdern, Sie wissen doch: Zwei sind Ärzte, der andere Rechtsanwalt, ja, in zwei, drei Wochen, denke ich. . . Man kann nicht gesund werden ohne diese . . . diese ganz grosse Einheit. Die Luft ist anders, die Gespräche, und erinnern Sie sich an die Herzlichkeit da unten? Ja, Signora, dort in der Wärme, dort kann ich atmen, ja, ich werde atmen können in Catania, sogar wenn der Scirocco bläst. Ich erinnere mich: Der Scirocco, der hat manchmal geblasen, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Signora - der Onkel blieb mitten auf der Strasse stehen, weil es ihm die Soutane aufwehte. Ja, ich bin ganz voller Bilder, auf einmal, und ich lache, hier in meinem Bett, für mich ganz allein, weil ich den Onkel wieder sehe, wie er sich das schwarze Kleid zwischen die Knie klemmt und den Hut mit beiden Händen festhält und sagt: «Siehst du, Peppino, siehst du, wie es bläst? Aber all das ist nichts gegen das Treiben der Hölle, und in die Hölle wird ein Mann von den Frauen getrieben, denk daran, Peppino, keiner kennt die Ehe besser als ich, bei mir beichten sie, und ich falle in die Knie vor dem Herrn, dass er mich verschont hat mit diesem Elend der Welt. Versprichst du, Pfarrer zu werden?» Oh, Signora, alles ein Traum, ein grosses Gemälde in mir selber, ganz Sizilien. Sie werden sehen: Ich fahre nach Catania in zwei, drei Wochen. Ich beweise Ihnen jetzt gerade: Es geht schon wieder aufwärts mit mir. Wissen Sie wie? Ich stehe jetzt auf und begleite Sie im Mantel bis zur grossen Schwingtür, doch, doch, doch, das kann ich, und ich schaue Ihnen sogar noch ein bisschen nach, wie Sie weggehen, Signora.
Ein ganz harmloses, einfaches Sätzchen, nein, ich fange nicht au zu weinen, ich werfe die Zeit durcheinander, nicht einmal die Erinnerungen gehören mir, Abschiedsbombast, ein Credo nach dem andern alles. <ich schaue Ihnen noch ein bisschen nach, wie Sie weggehen, Signora.> Es gibt andere Erinnerungen, Pedroni, ganz andere: Verlegen, so ist es doch gewesen, so, ganz zuletzt.
Ich habe zur Nachtschwester gesagt: «Den Valpolicella will ich auf dem Nachttischchen haben, basta.» Warum immer Blumen? Weisse Lilien womöglich, die vom Felde . . . Ich bin doch kein Heiliger, auf einmal, und bis ich dreissig war und heiratete . . . sagen wir einmal: Als Mann, jedenfalls, habe ich gelebt. Was sollte mich plagen, Signora? Ich weiss genau, was mir jetzt noch fehlt: Irgendeine. . . ja, eine Einheit, anders kann ich es nicht sagen, der richtige Ausdruck fallt mir nie ein. Aber in Catania . . . Sie verstehen doch, was ich meine, Signora? Denken und essen und . . . aber ich habe es vorher schon gesagt. Meine Brüder werden mich anders umsorgen, als es hier ein Arzt überhaupt kann, vielleicht, weil ich selber ein anderer sein werde, dort unten, es gehört alles zusammen. Meine Brüder - sie haben alle studiert, ich weiss nicht, ob ich es schon gesagt habe, Signora - aber wir bilden eine Einheit, trotz allem, gerade jetzt merke ich es: TORNA SUBITO - CASA SEMPRE APERTA haben sie letzte Woche telegraphiert, aber das habe ich wohl schon gesagt . . .
Nein, nein, Pedroni, Sie haben nichts mehr gesagt, nur ganze Wortschwälle sind zwischen uns gekommen, alles gelogen.
Aber vielleicht ist es anders, Pedroni: Sie haben mich losgelassen, die Wörter durchgeschnitten, mittendurch, damit ich fortschwimmen kann, überleben. Ja, so habe ich es zuerst verstanden, Pedroni, aber jetzt gerate ich immer mehr ins andere, ich will Sie zurückhalten, ich habe Angst, ich will nicht allein vorwärts. Und doch habe ich einen Hochzeitsstrauss mitgebracht .
Pflanzen haben kein Gehirn, Signora, keinen Verstand, das habe ich gelesen. Pflanzen haben nur einen allereinzigen. . . sagen wir einmal: Gedanken. Das genügt zum Wachsen, Signora, nur ein Befehl, nur ein allereinziger Impuls.
Freude. so war es doch, Pedroni, so bin ich hergekommen, allem zum Trotz, die Unvernunft ist ausgebrochen wie zurückgehaltenes Feuer, ich habe gehofft, ganz ohne Verstand, ich kann es. Ich kann sagen: «Jetzt müssen Sie nie mehr sterben, und ich, ich lebe weiter.» Ich kann einen Hochzeitsstrauss bringen. Die Verkäuferin hat gefragt: «Ist er für die Braut, oder den Bräutigam?» Und ich habe die Achseln gezuckt: «Eher fürs Leben der beiden.» Nur der Flieder ist weiss, Pedroni. Sie müssen ja nicht mehr sterben. Hellblauer Rittersporn, Malven, einmal dunkelrot, einmal fast rosig, zitronengelbe Rosen und okkerfarbene Zinnien mit schwarzen Augen, den ganzen Sommer wollte ich bringen, und fünf Feuerlilien, Feuer zu Feuer, Pedroni, das Leben brennt, unsere fünf Monate, alle sollen aufleuchten, denn nichts mehr gehört der Krankheit, ich will die Erde spüren, ich will in die Welt.
<L'aria dolce>, etwas Zartes ist überall, Signora.
Ja, hier sind Sie nicht, aber in der Welt draussen werde ich Ihnen näher kommen, die Zeit gehört mir, Pedroni, ich öffne die Tür wieder: Alles ganz voll Gegenwart, jetzt, ich spüre den Kies unter meinen Füssen, Pedroni, ich sehe die Bäume, ich habe Hände, und Füsse, und Augen, ich bin ganz gesund jetzt, ganz gesund.
Das haben vielleicht nur wir, diese radikale Gesundheit, Signora, ganz plötzlich, ganz absolut: ein richtiger Rausch, immer wieder, von Zeit zu Zeit. Dann bin ich ganz frisch und übermütig, ich kann es nicht erklären. Aber ich stehe auf mit einer Lust - das hat man alles nicht gekannt früher. Meine Frau ist immer hilflos: «Jetzt kannst du doch nicht aus dem Haus gehen», ruft sie dann, und immer kommen ihr gleich die Tränen, poverina. Sie kann es einfach nicht fassen: «Gestern hast du doch Spritzen gebraucht und Sauerstoff, und was willst du heute wieder? Autofahren?»
Ich fahre vom Friedhof weg in unser italienisches Restaurant, jetzt ist es ganz leicht zu reden mit Ihnen, Pedroni, nichts mehr zwischen uns, kein Missverständnis, ich lebe weiter und habe keine Angst, Sie haben es mir doch beigebracht, Pedroni: <Es ist nie unser Feind, das Leben>, ja, Pedroni, ja. Ich bestelle die calamaretti fritti, ich bestelle den frascati secco, ich bestelle die macedonia di frutta, mit ganz frischen Früchten, Sie haben es mir beigebracht.
Essen wir nicht irgendetwas, Signora, das können sich nur die Gesunden leisten. Essen wir GUT.
Jetzt sind die roten Kirschen an der Zeit, ich beisse auf die Gegenwart, Pedroni, sie knackt mir zwischen den Zähnen.
Die Zukunft den Gesunden - aber das Heute uns beiden.
Jetzt, jetzt komme ich zu mir ohne Rückhhalt, ich beerdige Sie in einem Rausch von Leben, Pedroni, und Ihre alte Erfahrung feiert in mir Auferstehung. Den ganzen Sommer spüre ich, Pedroni, ich höre die Wolken, zum ersten Mal, ja, es gibt immer mehr Dinge zwischen Himmel und Erde.
1979 wurde mein erstes Theaterstück uraufgeführt Das Blaue Gesetz. Es stellte die Frage, ob Sterben zur staatlich verwalteten Gnade werden könnte.
Das Blaue Gesetz
LAUTSPRECHER: Schwester Annette - bitte kommen, bitte kommen. (Alarmsignet)
Doktor Manz kommt mit einem Statisten an die Rampe - der Statist trägt Blaue Profilstangen, Dr. Manz zieht bei Block D die Hölzchen weg und schlägt die erste Profilstange ein. Der Statist steigt plötzlich ins Publikum hinunter und holt ein paar Rote Scheine herauf, die Wirsig vorher verteilt hatte. Er reicht sie Dr. Manz.
Manz: (zum Statisten) Das ist unglaublich. Es gibt gar keine Roten Scheine ohne Namen, ist ja längst automatisiert: In der roten Liste wird der Name eingesetzt, auf der Blauen Liste automatisch ausgestrichen. Name drauf - Name draus. Völlig automatisch. Das hier gibt es gar nicht. Aber ich habe es kommen sehen ... (Manz lässt die Profile liegen und geht mit den Scheinen schnurstracks ins Rote Amt zu Wirsig.)
9. Szene, im Roten Amt
Manz: Was haben Sie dazu zu sagen: Im Stadtpark gefunden.
Wirsig: Wenn Sie was Rotes auf dem Herzen haben, können Sie warten bis um Zwölf. // Gandolfi Pietro sei erlöst.
(Die Rote Schwester nimmt den Roten Schein und will ihn am Blauen Leintuch des Gandolfi Pietro festmachen Dr. Manz fährt dazwischen.)
Manz: Das möcht ich erst noch kontrollieren, Schwester. (zu Wirsig, dem er den Schein aus dem Stadtpark zeigt:) Wissen Sie, was das heisst?
Wirsig: Das heisst: Ich müsst’ noch den Namen einsetzen.
Manz: Das heisst: Es sind ungültige Rote Scheine in Umlauf. DAS haben Sie erreicht, mit Ihrer Gesuchspraxis. Genau, was ich immer befürchtet habe: UNREGELMÄSSIGKEITEN, Herr Wirsig! Von heute ab: Gesuche nur noch JA, wenn ICH sie bewillige.
Wirsig: SIE haben die Krankheiten ausg'rottet ICH darf jetzt die Erlösung in Griff bekommen. . .
Manz: (zu den Roten Schwestern) Kontrollieren wir die Erlösungs¬liste von heute. (zu Wirsig) Und wenn ein einziger Name drauf steht, den ich persönlich nicht bewilligt hätte, dann ...
Wirsig: Dann was, Manz?
Manz: Ich kann beurteilen, wer LEBENSPFLICHTIG ist und wer nicht, ICH bin Mediziner.
Wirsig: Und ICH ein dummer Malermeister, der den lieben langen Tag wieder gutmacht, was Sie drüben versauen. (zu den Schwestern) Freibier für alle! Wir hören auf, dem Manz seine Schandfleck’ zu tilgen.
Manz: Zimmerstunde. Morgen früh stellen wir gemeinsam die Erlösungsliste zusammen, Jahrgang 12 nach Alphabet, plus EIN Gesuch, das ich bewillige. (Rote Schwestern ab)
Wirsig: (packt Manz am Kragen) Hier drin sagt der WIRSIG, welches Gesuch bewilligt wird. Ich hab mir die Erlösung aus Ihrem Schlamassel einfallen lassen. Radieren Sie doch endlich das Altwerden aus - dann brauchen Sie mich eh nicht mehr.
Manz: Ich sehe meine Grenzen durchaus. Unbestritten: SIE gehören zum System. Mit andern Worten, wir haben dasselbe Interesse: Die Organisation nicht aus dem Griff zu verlieren, unter keinen Umständen, und an gar keinem Punkt.
(Schwester Annette kommt in die Preziosa. Manz zieht einen überdimensionierten Roten Schein aus dem Arztkittel und hält ihn Wirsig unter die Nase.)
Manz: Hier mein Entwurf: Die Roten Scheine werden zum Staatspapier. Statt Gnade vor Recht LINKS ein Bleifaden, RECHTS die Rose als Wasserzeichen.
Annette (à part): Dann bleibt nur noch die Angst frei. (Wirsig und Manz drehen sich überrascht nach ihr um)
Wirsig/Manz: DIE ANGST?
(LICHT AUS)
LAUTSPRECHER: Block A, B und C: Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass wir offene Fenster nicht länger tolerieren können. Es geht um Ihre Lebenspflicht. Wir danken für Ihr Verständnis
Regieanweisungen zu Szene 10:
Zwei neue, diesmal rotblaue Werbeplakate, werden im Lauf der Szene in den Zuschauerraum gehängt:
- AUCH FAMILIEN SIND EIN ZEITVERTREIB
- LIEBER ANGEHÖRIGE ALS SCHLAFPILLEN
Erst während der Rede von Manz schlägt ein Statist an der Rampe vorn ein Protestplakate ein: BLAU HEISST NOT HILF UNS ROT
1980 erschien der Roman Fuss fassen. Er ist wohl das einzige Buch, das zu schreiben für mich existenziell war: Ich wollte wieder Fuss fassen als Autorin, indem ich frei mit meiner Krankheitserfahrung umging und ihr eine Form gab.
Bestsenliste Bücherpick
Fünfzehn Titel aus zwei Jahrhunderten
Zu seinem Aufsatz über die Schweizer Literatur hat Gerhard Beckmann fünfzehn Titel ausgewählt, die ihm wichtig erscheinen - unter bewußter Ausklammerung der allerjüngsten Produktion: eine subjektive CH-Bibliothek.
Maja Beutler: Fuss fassen Zytglogge, 240 Seiten, Fr. 29.-
Hermann Burger, Schiiten, Fischer TB 2086, Fr. 14.80
Friedrich Dürrenmatt: Turmbau Diogenes, 266 Seiten, Fr. 32.-
Max Frisch: Tagebuch 1946-49, Suhrkamp, 2 Bände, 472 Seiten/432 Seiten, Fr. 39.80
Meinrad Inglin: Der Schweizerspiegel, Ammann, 1000 Seiten, Fr. 60.-
Gottfried Keller: Martin Salander, Birkhäuser, 370 Seiten, Fr. 39.80
Gertrud Leutenegger: Vorabend, Suhrkamp, 200 Seiten, Fr. 25.-
C. F. Meyer: Gustav Adolfs Page, Reclam, Fr. 3.-
Adolf Muschg: Gottfried Keller, Suhrkamp TB 617, 412 Seiten, Fr. 12.-
Gerold Späth: Commedia, Fischer, 443 Seiten, Fr. 34-
Walter Vogt: Wüthrich/Der Wiesbadener Kongress,Nagel & Kimche, 432 Seiten, Fr. 44.-
Peter Bichsel: Eigentlich wollte Frau Blum den Milchmann kennenlernen, Walter, 64 Seiten, Fr. 9.-
Robert Walser: Jakob von Gunten, Suhrkamp, 190 Seiten, Fr. 32-
Otto F. Walter: Zeit des Fasans, Rowohlt, 616 Seiten, Fr. 42.T.
1981 entstand in enger Zusammenarbeit mit Roni Segal und ihrer acht-köpfigen Ballett-Truppe das Libretto Der Traum. Ich hatte es mir lange gewünscht, einen Theatertext nicht in der Schreibtisch-Isolation zu entwickeln.
Der Traum entstand, während die Truppe probte, ich erzählte die Geschichte ihren Bewegungsabläufen entlang. Die Aufführung fand im Theater National in Bern statt.
Im selben Jahr starb Walter Mehring. Ich machte Interviews mit Autoren - u. a. mit Friedrich Dürrenmatt - und mit Chanson-Interpretinnen aus den Berliner Jahren Mehrings, um sein Leben neu auszuleuchten. Der Titel der Gedenksendung nahm Bezug auf sein Lebensfazit: Es gibt kein Zurück
1984 erschien mein zweiter Roman, Die Wortfalle. Die Thematik der Ehe, die zwar funktioniert, aber aufhört zu leben, die Thematik der Familie, wo sich ständig alle im Auge haben, aber füreinander erblinden, prägt meine Arbeit bis heute.
Die Wortfalle
Ja, die Polizeiwache kam ihm tatsächlich wieder als Oase vor. Oder gab es Zeitenklaven? Die Uhren draußen waren längst vorgestellt nur hier wurde gestern gespielt. Allein dieser Ofen: eine schwarze, gußeiserne Säule, vorn hatte sie einen schweren Klappdeckel mit einem verschnörkelten Griff und dem eingegossenen Schriftzug: <Gebr. Kamm>.
Hatte niemand Pikett? Stimmen waren doch zu hören: Flückiger und Scheurer? Gandolfi räusperte sich. Nichts rührte sich. Die Polizeistube war mit gelber Ölfarbe gestrichen, sogar die Decke glänzte als hätte man den Sonnenuntergang rundum breitwalzen wollen: Look at the bright side of life. Gandolfi drehte die Mütze in der Hand. Er sah einzelne Farbstriemen an der linken Wand; er stellte sich vor, wie Scheurer und seine drei Korporale alles selbst aufgemöbelt hatten, in der Freizeit womöglich, Beamte hin, Beamte her. Gandolfi trat an die Abschrankung, legte die Mütze drauf, da sah er die Klingel, natürlich, das hatte er vergessen: Unter der Holzkugel mit dem schneeweißen Knopf klebte sogar ein Zettel in Schreibmaschinenschrift: <Bitte drücken>. Scheurer kam sofort durch die Schwingtür: «Ah, da ist ja der Herr Doktor.» «Fischer, wieder?» fragte Gandolfi, «vermißt?» Scheurer steckte beide Daumen in den Gurt, blieb unschlüssig stehen, dann trat er näher, sein Bauch stieß gegen die Schranke.
Gandolfi lächelte: «Und meine Diätpläne scheinen auch nicht zu nützen.» Scheurer zuckte die Achseln: «Vielleicht müßten wir eher aufs Wachstum los; ein Meter neunzig, und mein Gewicht wäre ideal.» Aber Lachen lag offenbar nicht drin oder warum wirkte Scheurer so … verlegen wirkte er doch. «Hat Fischer einen Suizid versucht?» Scheurer schüttelte den Kopf: «Nichts Berufliches leider.» Im selben Augenblick trat Lorenz durch die Schwingtür: «Nur ich», grinste er. Gandolfi versuchte sofort, die Tür an der Schranke zu finden. Scheurer war schneller und zog sie auf: «Ihrem Fräulein habe ich natürlich nichts gesagt.» Gandolfi blieb gleich wieder stehen, steckte die Hände in die Hosentaschen: «Warum grinst du eigentlich?» Lorenz schnitt eine Grimasse, oder lachte er sogar? «Und?» fragte Gandolfi. Nur Scheurer antwortete: «Ein kleiner Unfall, wenn man so will.» Lorenz grinste wieder. Unerträglich kam es Gandolfi vor: Weinen, nein, gewiß nicht aber warum grinsen? «Mit dem Moped also?» fragte Gandolfi und kontrollierte automatisch, wie das Kind dastand: Nichts verletzt? Arm links, Arm rechts, und die Beine, die Füße? Er atmete auf: Nichts Gravierendes jedenfalls. «Also wieder einmal bei Rotlicht drüber? Hundertmal habe ich dir schon gesagt; Du sollst nicht auf das Fußgängerlicht schauen und losrasen, bevor die Autos grün . . .» Scheurer legte ihm die Hand auf den Arm: «Nicht ganz, Herr Doktor.» Gandolfi schnellte herum: «Sondern?» Scheurer wich keinen Fußbreit zurück. «Kleiner Mundraub, sagte man früher, und das wird's auch sein.» Dann setzte Scheurer einen hörbaren Punkt; er hustete. Gandolfi kam sich übertölpelt vor. Mundraub. Und wie hatte es bei Fredy angefangen? «Hör endlich auf zu grinsen», brüllte er. Lorenz schaute zu Boden, fuhr mit der Schuhspitze dem Spalt zwischen zwei Bodenlatten entlang. Und diese Mähne. Da trat Scheurer noch näher und bedeutete Gandolfi mit einer Handbewegung «immer mit der Ruhe». «Sie verstehen sicher mehr von der Sache, Herr Doktor. Aber wenn Sie mich fragen: <harmlos>.» Schnell schaute Lorenz auf: «Hundert Rubel mußt du blechen und wir können die Flügel wieder anschnallen.» Gandolfi winkte mit dem Zeigefinger: <jetzt komm einmal her, Bürschchen>, Lorenz blies die Backen auf, aber er kam, langsam, mit den Gummikappen seiner Turnschuhe zog er Striemen über den Boden, bei jedem Schritt, Scheurer sagte scharf: «Keine Fisimatenten, gell.» Gandolfi hatte es eben selbst verweisen wollen; jetzt ärgerte er sich über Scheurer: «Wir erledigen das schon allein, danke.» Er zog seine Autoschlüssel aus dem Mantel und hielt sie Lorenz direkt vor die Nase: «Und zwar draußen, unter vier Augen.» Aber Lorenz zog einen Kaugummi aus den Jeans, versuchte es wenigstens, er mußte das Knie hochziehen, dabei grinste er wieder. <Hund muß mal pinkeln>, peinlich, wie eng diese Hosen waren und . . . <vermohrt>, ja, das wäre der richtige Ausdruck: Flecken rundum, Scheurer würde sich seinen Vers drauf machen. Gandolfi blickte rasch zu ihm hin: Breitspurig stand er da, <frommes Denkmal frommer Art>. «So sind halt die Jungen», sagte er.
Lorenz wickelte den Kaugummi aus, schob ihn in den Mund, umständlich, dann hob er langsam die Hand, bis sie genau auf gleicher Höhe war wie Gandolfis Autoschlüssel, knüllte das Silberpapierchen zusammen und ließ plötzlich die Finger aufspringen. Plumps. «Heb das Papier auf», Gandolfi liess den Arm sinken, die Autoschlüssel klirrten leise. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß: «Hast du verstanden? Aufheben.»
Lorenz setzte den linken Turnschuh aufs Silberpapierchen: «Und so? Ist dir wohler?» <Auge in Auge.> Gandolfi schwieg. Lorenz drehte den Kopf zu Scheurer: «Lassen wir's doch der Putzfrau, okay? Oder hat nur mein Vater eine?» Scheurer lachte gemütlich, es kam Gandolfi vor, als wäre diese Reaktion von Anfang an geplant gewesen: <der ideale Ausweg>. «Wir reden unter vier Augen», sagte Gandolfi wieder, nur meinte er diesmal Scheurer und sich. Er hob die Hand mit den Autoschlüsseln zum zweitenmal, «und du wartest im Wagen auf mich.» Der Bub hob seinerseits die Hand, als wollte er gleich zuschlagen, ließ sie niedersausen und schnappte die Schlüssel: «okay». Er federte zur Tür, jeder Schritt eine Spitzenleistung. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich um: «Sorry, Wachtmeister», und mit einem einzigen Satz hechtete er zurück, hob das Papierchen auf, «als Orden für Sie», er salutierte grinsend, und Scheurer legte flüchtig zwei Finger an die Schläfe: «Marsch jetzt», sagte er, und erst als Lorenz die Tür zumachte, rief er: «Und mach's gut.»
Paktieren? Und wie Scheurer sich jetzt Zeit ließ, die Daumen wieder in den Gurt steckte. Gandolfi schaute zum Fenster, lächerlich, diese Vorhänge: Volants, und hochgerafft zu beiden Seiten in Messingringen - betulich, wie Scheurer selbst: <Seht doch, wie gemütlich ich bin, und sonnig bis ins Zitronengelb>. «Hoffentlich geht er wirklich zum Wagen», sagte Scheurer, «der ist doch ...» Er trat ans Fenster, hob mit der Hand den einen Vorhang etwas hoch, ging in die Knie, «tatsächlich», sagte er, «aber fix und fertig ist er.» Er kam hinter die Schranke zurück, legte die rechte Hand drauf: «Hat Pech gehabt, wenn Sie mich fragen.» <Aber ich frag dich nicht.> Gandolfi stand da und wartete.
«Darauf muß man gefaßt sein», sagte Scheurer. <So? Muß man?>
«Die Frau an der Kasse im <Kolibri>, die hat ihren schlechten Tag gehabt und ...»
«Und mein Sohn?» fragte Gandolfi.
Scheurer griff in die Brusttasche und zog sein Rapportbuch heraus, er netzte den Finger an der Zunge, um die Seiten besser umblättern zu können: «Da soll ich's vorlesen? <Gandolfi, Lorenz, Schüler, hat im Beisein mehrerer Zeugen, sich Mundraub . . .>», Scheurer schaute auf: «Das <sich> müßte nach vorn, oder?» Gandolfi nickte, Scheurer kramte nach seinem Bleistift in der Brusttasche, legte das Buch auf die Schranke und korrigierte sorgfältig, «also: <hat sich im Beisein mehrerer Zeugen Mundraub zuschulden kommen lassen, indem er einen Hamburger à Fr. 3.50 und einen Mohrenkopf à Fr. 1.20 verspeiste, bevor er die Kasse passiert hatte, an dieser vielmehr nur ein Glas Weißenburger Citro à Fr. 1.50 präsentierte und dieses auch vorschriftsgemäß berappte. Die Kassiererin, Frick, Johanna, Maria, schöpfte berechtigten Verdacht, nachdem sie eine diesbezügliche Diskussion abgehört. . .>»
Scheurer schaute wieder auf, «ein Grenzfall, dieses <abgehört> aber schwierig, es kürzer zu sagen.» Gandolfi nickte ungeduldig. «Also: . . . <abgehört hatte und erstattete umgehend Anzeige.>»
Scheurer klappte das Rapportbuch zu und steckte es in die Brusttasche zurück; den Bleistift ließ er liegen. «Sie hat das Recht auf hundert Franken, weil's angeschlagen steht, im Lokal. Von uns kämen dann später noch vierzig dazu, via Richteramt.»
Wie bei Fredy. Gandolfi wollte die Brieftasche oben aus der Jacke ziehen, aber Scheurer sagte schnell: «Nein, nein, Herr Doktor, da bin ich Ihnen gutgestanden. Sie können das Geld überweisen.» Er zog einen Zettel aus der Uniformtasche und legte ihn auf Gandolfis Mütze. «Die Postschecknummer vom <Kolibri> habe ich notiert, und vom Richteramt kommt's in etwa einem Monat.» Lorenz genau wie Fredy.
Endlich setzte Gandolfis Gefühl ein, nein, die Assoziationen liefen kreuz und quer dieser lächerliche Rapport, und zugleich erfaßte ihn eine Art Rührung angesichts von Scheurers Takt; geradezu aufsässig, dieser Takt, oder aufsässig die Peinlichkeit, daß Lorenz jetzt auf Takt angewiesen war wie Fredy vertuschen? «Nein, Scheurer», sagte Gandolfi, «den Zettel brauche ich nicht. Das entspräche nicht meiner Art.» Er stützte beide Hände auf die Schranke: «lch habe in meiner Verwandtschaft erlebt, was das bringt: Etwas vertuschen zu wollen. Ich werde jetzt mit Lorenz ins . . . wie heißt dieses Lokal? Kurz und gut wir werden das Geld persönlich bringen.» Scheurer schaute ihn mit Knopfaugen an. <Denk was du willst.> Gandolfi lächelte: «Sie, als Kriminalist, meinen sicher: An den Ort des Verbrechens zurückkehren.» Scheurer lachte gutmütig, die Knöpfe glänzten, die Gurtschnalle auch. «Und zudem», Gandolfi ließ die Schranke los und knöpfte den Mantel zu: «zudem gibt es das sogenannte Strafbedürfnis es nicht zu stillen, ist unter Umständen grausam.» Tante Katja hatte alles falsch gemacht, mit Fredy. Da lachte Scheurer heraus, ganz unbefangen.
«Der Bub wollte doch seinem Schatz imponieren», lachte er, «haben wir's anders gehabt, mit siebzehn?» «Ja, Herr Scheurer, wir wollen nichts aufplustern. Vielleicht verstehen Sie besser, wenn ich sage: Ich stehe unbedingt zu meinem Kind, auch in dem Moment, wo es mich bloßstellt. Und es ist entscheidend, daß es nachvollziehen kann, daß ich mich in nichts distanziere von ihm, nicht einmal bei dieser. . . Rechnungsbegleichung.» Scheurer zuckte wieder die Achseln: «Hat etwas Einleuchtendes, wenn Sie alles so sagen, nur. . .» er schnallte den Gurt auf, warf ihn über die Abschrankung, «als meine Heidi heiraten mußte . . . erinnern Sie sich, vor drei Jahren? Herrschaft, kommt doch das Kind und sagt: <ich muß>, und ein Schleck war das nicht, die Lehre nicht einmal fertig und nichts. Und da haben Sie mir geraten: «Kein Drama draus machen, heiraten, und nachher das Maul halten, dann werden's die andern auch bald zumachen.>»
So sollte er es formuliert haben? Gandolfi lächelte: «Einmal Sie, einmal ich, wollen Sie sagen, ja, wir sind quitt.» Er streckte Scheurer die Hand hin. Der Wachtmeister schien einen Augenblick verblüfft, als hätte man ihm einen schönen Gedankenteppich unter den Füßen weggezogen. Aber gleich schlug er ein und schüttelte Gandolfi die Hand. Als er endlich losließ, Gandolfi die Mütze schon reichte und den Zettel mit der Postschecknummer zerknüllte, fügte er bei: «Und nichts für ungut, gell.» Gandolfi nickte und ging zur Tür, <nur nicht zurückschauen>, da sagte Scheurer: «Ein Satz von Ihnen ist mir besonders geblieben. Meiner Frau habe ich ihn genau rapportiert: <Vorher und nachher war's ja das gleiche Kind>, haben Sie gesagt, <man hat es nur nicht ganz gekannt>.» (Aus Kapitel 12)
Im selben Jahr wurde ich von Radio DRS angefragt, ob ich mitarbeiten würde beim sogenannten Wort zum neuen Tag. Ich hatte die Rubrik selber nie gehört, aber es reizte mich, in knapp drei Minuten ‚etwas zu sagen’, was mich selber familiär und politisch beschäftigte.
Diese kleinen, am frühen Morgen ausgestrahlten Texte, lösten beim Publikum mehr aus, als jede andere Arbeit von mir. Das hat mich zuweilen gefreut und häufig irritiert: Ich verstand die Texte zum neuen Tag als ein Nebenbei, obgleich sie über zehn Jahre weg auch in Buchform erschienen sind.
1984 bekam ich von Kanton und Stadt ein Stipendium zugesprochen: Es ermöglichte mir, eine Saison lang Hausautorin am Stadttheater Bern zu sein. Zum Auftakt setzte ich mich als Regiehospitantin in die Proben zu Macbeth.
Macbeth oder ein Regisseur zu Gast in Bern
Kinder, Kinder, die Berner hocken doch alle im Sarg. Oder isses ein Schlund, ein schwarzer, und wir spielen den Magen? Da müssen sie zuschauen, wie’s geht: Verdauung. Kennen sie ja nicht, wat, nur runterschlucken und runterschlucken. Was willst de auch anderes anfangen mit deinem bisschen Leben in diesen historischen Gassen, nicht, alles voller Geranien, und die Fahnen stets ausgehängt Mensch, das müsst man bespielen, das Ganze. Und andererseits … Ich hab geträumt von Bern, heute Nacht, Tatsache, macht mich unruhig, diese ganze Verdrängung. Ich stand am Fenster der Probenbühne und hab mal kurz rausgeschaut auf die putzigen Dächer, und plötzlich blitzt ne Leuchtkugel auf und ich denk: Mensch, jetzt isses passiert, ausgerechnet hier: der Atomblitz die gehen alle zugrunde.
Auch wenn de’ s wach überlegst: Diese Grossraumbürotypen, die ein Leben lang nur versuchen, sich beim Psychiater mit der Klimaanlage zu identifizieren aber wenn de mal zufällig zu tun hast, erotisch meine ich, mit so ner Grossraum-Lohnempfängerin, dann haut’ s dich in Stücke vor dieser Flut zurück gestauter Triebe. Siehst de, Birgitte, so musst de die Lady Macbeth spielen, von dieser Tendenz aus: Ein Vollblutweib, das nie zum Zug kam. Reiss mal die Fahnen runter und scheiss auf den Marktplatz der Glanz des Bösen, gell.
Aber nicht klein werden mit dem Ehrgeiz, Brigitte, sonst kriegst de die Weiber nicht auf deine Seite: Schrei bloss raus, was sie denken. Vielleicht ist er bloss Prokurist, und sie möchten als Frau Direktor sterben. Nee,nee, halt, Brigitte, halt, was anderes müsstest du schon reinbringen. Was Grösseres, gewaltig, den Hieb ins Firmament. Na, improvisier erst mal die Textstelle :
‚Wo du gross raus möcht’st, da möcht’st du heilig raus, möcht’st nicht falsch spielen und doch fälschlich siegen’ -
ist DIE Schweizer-Stelle im Shakespeare, nicht, spiel sie mal einfach, wie wenn die zur Welt gehören würden. Könnten sie sonst kippen?
Zwischen den drei Inszenierungen, die ich als Regieassistentin begleitete, entstanden erste Entwürfe zu einem neuen Stück. Es wurde von den beiden Dramaturgen betreut und1985 vom Intendanten zur Uraufführung gebracht am Stadttheater Bern: Das Marmelspiel.
Das Marmelspiel, Szene 22
(Im Gartenrestaurant, Ein kalter Winternachmittag. Ninas Drachen liegt am Boden. Die Gartenstühle stehen auf den Tischchen und sind mit Plastik zugedeckt. Pedroni kommt, mit einem kleinen Handköfferchen, nimmt einen Stuhl herunter und setzt sich. Von der andern Seite kommen Irma, das Kind und Frau Wyttenbach. Irma trägt einen verschnürten Schuhkarton, Frau Wyttenbach ihre Markttasche. Das Kind hebt den Drachen auf, er ist beschädigt, die beiden Frauen nehmen das Kind in die Mitte, heben es samt dem Drachen hoch.)
FRAU WYTTENBACH Und hopp, kannst du fliegen. Aber wir landen, für das Bier. Besser als alle andern versteh ich Sie, Frau Becher: Bei mir registriert überhaupt niemand, was ich leiste.
IRMA Wenn der Staub gewischt ist, ist er weg.
FRAU WYTTENBACH Wissen Sie, was meiner sagt, am Abend? "Von was bist du ausgelaugt? Ist doch alles tip-top." Nein, nein, machen Sie sich nur keine Vorwürfe wegen dem bißchen malen. Gell nicht, Hardy? Und hopp, kannst du fliegen.
(Stalder tritt aus der Tür des Cafés, er zieht die Augenwinkel nach hinten, um einen Chinesen zu imitieren.)
STALDER Ninang - tschautschau - i gang.
FRAU WYTTENBACH Ich glaub, ich hol das Bier ein andermal.
STALDER (sieht Pedroni) Heilandsack, bin ich spät dran. Schad, Herr Pedroni. (Er geht an den Frauen vorbei.)
Immer dasselbe: Die besten müssen gehen. (Er geht ab.)
FRAU WYTTENBACH Jesses, ich hätt ihn nicht wiedererkannt.
IRMA So ein Jammer.
DAS KIND Juhuu!
PEDRONI Juhuu!
IRMA Bscht, Hardy. Man darf ihn nicht stören in seinem Zustand,
DAS KIND Juhuu!
IRMA Nein, hab ich gesagt. Zur Belohnung darfst du die neuen Schuhe anziehen zu Haus, Und hopp, kannst du fliegen, schnell, geh voraus. (Das Kind geht ab, mit Schuhkarton und Drachen.)
IRMA (deutet auf Pedroni) Mein Gott, wenn ihm nur nichts passiert.
FRAU WYTTENBACH Vor unsern Augen? Und allein ist er auch. Warum ist er nicht im Spital?
IRMA Er will doch nicht sitzen bleiben, in der Kälte draußen?
(Pedroni hustet.)
FRAU WYTTENBACH Da holt sich ja jeder den Tod.
IRMA Bscht. Ich muß an meinen Vater denken: wie er. So hat er dagesessen, zuletzt. Nach über fünf Jahren hab ich geträumt von ihm. Er liege in einem leeren Haus, ganz nackt. Und eine Stimme hat gerufen: "So ein Jammer. Nicht ein einziges Hemd aus grünen Blättern hast du ihm genäht."
FRAU WYTTENBACH Woher man das alles nimmt? Gehen wir.
(Pedroni hustet. )
IRMA Guten Tag, Herr Pedroni, wollen Sie nicht in die Wärme?
PEDRONI Drinnen erstick ich - hier huste ich nur ... Stört es die Damen? Oder darf ich Sie zu einem Punsch verführen?
FRAU WYTTENBACH Immer derselbe! Wie sähe das denn aus: Schnaps, am hellichten Tag? Ich ruf die Nina. (Laut.) Nina!
IRMA Weiß es Ihre Frau?
PEDRONI Daß ich Sie verehre? Bestimmt. Sonst werde ich es ihr schonend beibringen.
FRAU WYTTENBACH Etwas Heißes wird Ihnen gut tun.
PEDRONI Ihnen nicht? Die Kälte ist dieselbe. Ecco: Sie sind meine Gäste.
FRAU WYTTENBACH Ihre Frau weiß also Bescheid, wo Sie sind?
PEDRONI Wenn Sie Sturm läuten an unserer Tür, sind Sie vielleicht die Erste mit der frohen Botschaft. (Er hustet.)
FRAU WYTTENBACH (zu Irma) Wer trägt denn die Verantwortung? (Sie geht ab.)
IRMA Schade. Hardy wartet auf mich. Aber ich bin froh, daß Sie wieder zu Hause sind, Herr Pedroni. Sie haben uns gefehlt.
(Sie geht ab.)
(Das Kind rennt herbei, mit dem Schuhkarton.)
DAS KIND Juhuu!
PEDRONI Juhuu! (Er hustet.)
DAS KIND Du hustest.
PEDRONI Mein Husten und ich, wir werden gleich alt werden.
DAS KIND Wie alt?
(Nina kommt)
PEDRONI Signorina Nina fina - Das Heimweh hat mich gepackt. Beinah wie früher: Wenigstens wackelt das Tischchen noch. Und der Stuhl ist auch immer noch zu hart fürs Jüngste Gericht. Aber für ein Bierchen …
NINA Temperiert?
PEDRONI Hörst dus, amico? Sie will mich krank machen. (Zu Nina) Wie immer will ich es: beschlagen vor Kälte.
NINA Von mir aus zugefroren.
DAS KIND Ich hab neue Schuh.
PEDRONI Also noch eine Bestellung, Signorina: Wir müssen feiern.
DAS KIND Ich darf nicht
PEDRONI Weil ich krank bin? Die Schuhe sind trotzdem neu, amico.
NINA Ein Bier für Sie, ne Bettflasche für mich, und du? Heiße Schokolade?
PEDRONI Macchè. In dem Alter. Auch etwas Eiskaltes. Coca Cola.
(zum Kind) Hab ich nicht recht?
(Nina geht ab)
DAS KIND Darfst du alles?
PEDRONI Jetzt ist es leicht.
DAS KIND Schön ist es jetzt.
PEDRONI Was kann uns passieren? Alle sind eingesperrt in ihre Häuser.
NINA (kommt mit den Getränken) Na dann Prost im Schnee.
PEDRONI Salute. (Nina geht ab)
Weißt du, was ich heute Nacht gehört habe? Die Wolken.
DAS KIND Ich auch.
PEDRONI Du auch? Das wollen wir feiern, wir beide. (Er stößt mit dem Kind an.) Auf die Wolken, amico.
Und bald wird es blühen. Dann werden wir wieder feiern. Jedes Blatt.
IRMA (Im off) Hardy. Bernhard.
(Das Kind rutscht blitzschnell vom Stuhl und rennt weg. Pedroni wirft ihm den Schuhkarton nach.)
PEDRONI Die Spuren immer tilgen, amico. (Irma und Nina kommen gleichzeitig)
PEDRONI Die mütterliche Geheimpolizei kreuzt schon auf. Sollen wir lügen?
(Er steht auf, holt den Schuhkarton, reicht ihn Irma.) Ein junger Mann war hier. Und ein alter.
IRMA Danke, Herr Pedroni, danke für alles. (Sie geht ab.)
PEDRONI Zahlen.
NINA Viersechzig.
PEDRONI (kramt im Geldbeutel) Kummer, Nina fina? Schämen Sie sich nicht, daß ich es bemerkt habe. Ich bin Experte geworden. Auch ein großer Schatten? Ihn wegscheuchen müßte man können. Oder vielleicht ... die Hand aufmachen. Das könnte man lernen - loszulassen, meine ich. Nur gernhaben muß man vorher können.
(Er geht mit dem Köfferchen ab. Nina schneuzt sich. Frau Wyttenbach und Anna kommen eilends.
FRAU WYTTENBACH jetzt ist er weg. Aber DA, da hat er gesessen.
ANNA Und gestern hat er Sauerstoff gebraucht im Spital. Das gibt es doch gar nicht, von einem Tag auf den andern. An was soll ich mich halten?
Kurz später wurde die Crew aus politischen Gründen genötigt, abzudanken. Das ist zwar courant normale an Schweizer Bühnen, aber für mich hiess es, dass die kaum erwachte Arbeitsbeziehung wieder einschlummerte.
Der Verlag der Autoren forderte mich auf, Mini-Dramen zu schreiben für eine Anthologie. Sie wählten eines aus: Die unverstandene Frau das Drama bestand aus einem einzigen Satz.
Die unverstandene Frau
Die Souffleuse reckt ihren Oberkörper aus dem Kasten und wendet sich ans Publikum.
Souffleuse: (flüsternd) Endlich ein Drama für mich!
Viele deutsche Theater inszenierten diverse Minidramen. Meines war immer dabei nie habe ich einen kostbareren Satz geschrieben: Die Mini-Dividenden flossen jahrelang.
1987 erkrankte mein Mann schwer, kurz nachher verunfallte unser ältester Sohn. Ich war ausser Stande zu arbeiten. Es gelang erst wieder, als der Schock überwunden und mein Mann und ich eine Weile in Berlin wohnen konnten, im Kutscherhäuschen der Gruppe Olten. Da entstanden die ersten Entwürfe für Das Bildnis der Doña Quichotte. 1989 erschien der Erzählband und hielt sich - als einziges meiner Bücher - wochenlang auf der Bestsellerliste. Die Kritiken reichten vom Jubel bis zum Verriss. Das war eine gute Einstimmung auf das Presse-Echo, das mein Stück Lady Macbeth wäscht sich die Hände nicht mehr auslöste: Es wurde 1994 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.
Lady Macbeth wäscht sich die Hände nicht mehr
Hetti flätzt sich in einen Stuhl und raucht. Es wird in zwei Rucken heller. Autolärm dröhnt auf. Hetti springt auf, faßt die Champagnerflasche; Nick erscheint am Horizont und gähnt. Da lässt Hetti den Korken knallen.
NICK Bist du wahnsinnig?
HETTI Auf uns beide, Nick. (Sie gießt ein.)
NICK Der Schlag hätt mich rühren können.
HETTI Bumm, bumm, Veuve cliquot, lebe hoch.
(Sie hebt ihr Glas.)
NICK Tot könnt ich sein. Und ich Trottel geb mir Müh, dich nicht aufzuwecken.
HETTI Hast du ja nicht. Trink, trink, auf dein starkes Herz, und auf meines. Jetzt fangen wir neu an, Nick, ein halbes Jahrhundert habe ich gewartet. Jetzt, jetzt kommt mein Lebensbaum.
NICK So what.
HETTI Allein kann sich das Glück nicht geben, wie auch, wenn es um beide geht?
NICK Geschwollen daherreden ja. Aber einen Knopf annähen ums Verrecken nicht.
HETTI Ich wünsche mir ...
NICK ... die Wurst an die Nase, von mir aus.
HETTI Nick, ich weiß, daß ich ...
NIC ... daß ich umfallen könnt vor Schlaf weiß ich, daß es nicht geklappt hat mit den Japsen weiß ich, daß ich nach Hamburg muß um 9 weiß ich; und neue Verträge muß ich entwerfen, und um sechs aus den Federn und muß und muß und muß.
Er geht an Hetti vorbei, sie schmeißt die Champagnergläser zu Boden.
HETTI Ja, ja, ja, die Wirklichkeit. Und ich, du Froschkönig? Hab ich keine? Das Türschloß ist zugeschnappt.
Hetti rennt zum Deckel und versucht, ihn abzuheben.
HETTI Hilfe, Hilfe.
NICK Was zum Sebulon ...
HETTI Die Schlüssel, wutsch bumm. Hilfe.
NICK Hör mit dem Gezeter auf. Was Ist wo - ganz sachlich.
Hetti Pluff hab ich des Langen und Breiten erklärt. Samt Anhänger.
NICK Du willst doch nicht sagen ...? Der ganze Schlüsselbund?
HETTI Frag den Gärtner.
NICK Und wieso hätte er ihn nicht raufgeholt?
HETTI Weil der Heizer runtersteigen wollte. Dienstaltersfrage, oder was weiß ich: Konkurrenzneid am Rande des Abgrunds. Ich habe gesagt: Könnt euch so passen, an die Schlüssel geht keiner; Deckel drauf und weg.
NICK Hast du gesagt. So. (laut) Doch wieder einer von deinen Spàßen.
HETTI Nachts um drei? Einverstanden: Bleiben wir draußen.
NICK Gib die Schlüssel. Faust auf.
Hetti streckt die eine Hand aus.
NICK Die andere.
Sie streckt die zweite Hand aus.
NICK Kein wahres Wort, ich könnte ...
HETTI ... Schwör nicht. Es bringt Unglück.
Nick hebt den Deckel, er muß mehrmals ansetzen, weil das Gewicht zu groß ist; als er ihn niederläßt, steht das Loch knapp zur Hälfte offen.
NICK (während der Arbeit) Du bringst mich noch ins Grab.
HETTI Bräuchtest du eine Leiter?
NICK (sperbert hinunter) Was hab Ich gesagt.
HETTI Bräuchtest du den Mond?
NICK Marsch, steig runter und such die Schlüssel selber. Wird's?
Hetti stößt Nick; er tritt auf den Deckel, der unter seinem Gewicht kippt. Nick stürzt schreiend in die Grube; Hetti stupst mit dem Pantoffel den Deckel drüber.
HETTI Fertig, die Wirklichkeit.
5. Szene
NICKS STIMME Hetti, Hetti, Hettiii ...
HETTI Bleib, Nick, bleib, o mein Lieber, ich habe mir nichts anderes gewünscht. Bleib, ich verspreche dir, nie mehr etwas zu wünschen.
MICKS STIMME (schwächer) Hettiii.
HETTI Jetzt geht das Märchen an, luftig, leicht, Nick, schon breiten wir die Flügel aus und fliegen, schschscht, schschscht, wie der Himmel sich weitet; jetzt kann ich atmen, Nick, jetzt komme ich zum Leben, hui, wie das Glück trägt, Lieber, ich werde dich krönen mit meinen Händen, glaub mir, ich lese dir jeden Wunsch von den Augen ab; stelle mich auf die Probe, schnell: Soll der Mond ein zweites Mal aufgehen? soll die Sonne steigen? (Nick stöhnt.) Schscht, Lieberlieber, schscht, du sollst es nicht bereuen, und morgen nicht, und morgen - dieses Fest. Wo ist dein Schuh aufgetreten? (Sie leckt den Deckel.) Jeder Schritt mir;
(Sie spielt einen Liebesakt.) ja, reiss mir die Lippen auf; du Kratzbürster, bockiger, hui, fetz mir die Haut herunter, Eisbrocken, Steinklotz, ich breche dich auf, Kindsvertreiber, Scherbenrichter, ich sprenge dich in die Luft.
Die Sonne geht auf.
Überstanden. O, mein Pinselchen, o, mein Schreihälschen, o, mein Tolpätschchen, o, mein Nimmersättchen, mein Hungermäulchen, steh auf, Nick, der erste Tag. 'Und er sah, daß es gut war’, werde ich am Abend sagen. Jetzt bin ich die rechte Frau.
6. Szene
HETTI ist gerädert von ihrer Liebesnacht auf dem Deckel und kann erst nach mehreren Anläufen aufstehen.
HETTI (noch am Boden) Laß, Nick, laß, nicht Schabernacken jetzt. Weiß ich nicht am besten, was er jetzt braucht, mein Mann?
HETTI eilt davon und kommt In einem königlichen Morgenmantel und hochhackigen Federpantöffelchen zurück. Nick sitzt am Tischchen, in seinem Trainingsanzug. Er wird nicht essen und trinken oder Gegenstände berühren.
HETTI Hab ich zuviel versprochen? Ich hatte doch längst vorgesorgt.
NICK Man muß nur wollen.
HETTI Du hast recht, und alles erst ein kleiner Anfang.
Sie get zum Horizont, beugt sich drüber und zieht die Zeitung und eine Tüte mit Brötchen herauf.
Der Verlag der Autoren in Frankfurt und ich entschieden gemeinsam, uns von der Inszenierung zu distanzieren. Offenbar wurde es als ungehörig empfunden, vielleicht besonders, weil ich die erste Frau war, deren Stück das Schauspielhaus auf der grossen Bühne zeigte.
Fast zeitgleich erschien 1994 mein Roman Die Stunde, da wir fliegen lernen. Er ging im allgemeinen Medienrummel ums Theaterstück beinah unter und hat für mich doch einen wichtigen Schritt bedeutet: Ich erzählte aus der Perspektive eines Jugendlichen, der nicht zum jungen Mann werden wollte.
Die Stunde, da wir fliegen lernen: Der Vorleber
Fürs Anfangen bin ich der Meister, der vom Himmel gefallen ist. Vorleber müßte ich werden. Das wäre die passende Marktnische für mich. Alles, was einer zum ersten Mal tut, nähme ich ihm ab: würde an seiner Statt die engen Geburtskanäle der Mutter weiten, für ihn den ersten Atemzug tun und die Brust ansaugen, bis die Milch einschießt, mich in der Wiege zum ersten Mal aufsetzen würde ich, mir die ersten Schühchen anziehen lassen, für den andern den ersten Schritt wagen, und warum nicht ein erstes Wort krähen: «Mimmi», das Gebrabbel danach überließe ich ihm, da säße ich schon im Kindergarten, verschränkte die Arme vor der Brust und könnte zum ersten Mal korrekt auf dem Stühlchen sitzen, ich malte mein erstes Strichmännchen, zur Not vielleicht noch ein erstes Haus mit einer Sonne drüber, dann legte ich den Buntstift in die Hand des anderen und griffe zum Kugelschreiber, um den ersten Buchstaben zu schreiben mit der Zunge zwischen den Zähnen, und schwupps, könnte der andere sich drauf beißen, ich rechnete schon zwei und zwei zusammen, zöge die Summe zur Hälfte ab, multiplizierte mit sich selbst, und wenn die Gesetzmäßigkeit mir allmählich aufdämmerte, gäbe ich den Stuhl frei und wechselte zum Klavier, striche zur Probe mit dem Handrücken über die Tastatur, paff, schlüge ich schon mit beiden Fäusten drauf rum und versuchte es mit den Ellbogen, dann ginge ich zur ersten Stunde, mit sauberen Fingernägeln und aufgeregt vor Eifer, ich könnte die Finger nicht richtig auf die Tasten bekommen, und wirklich, ich müßte mir zum ersten Mal den Tennisball in der hohlen Hand vorstellen, aha, so also, ich übte zum ersten Mal ein Liedchen, und noch ehe der erste Schnee gefallen wäre, rackerte sich mein Nachleber Tag für Tag sein Stündchen lang am Klavier ab, während ich längst Englisch zu lernen begonnen hätte, I am, you are, he is, ganz voller Entzücken radebrechte ich mein erstes Sätzchen; und bevor ich die Korrektur dreimal ins Reinheft geschrieben hätte, übernähme der andere die Strafe, und ich müßte inzwischen überlegen, ob ich die Hellblonde aus der B-Klasse anmachen oder sie einfach Schwertfeger überlassen sollte, ach, diese unsägliche Scheu, wenn ich ihren Namen zum ersten Mal hinter ihr her flüsterte und die Frage hervorwürgte, ob sie nicht meine Pizza streicheln möchte; nur dies eine Mal erregte es mich, daß sie mich mißverstehen und puterrot anlaufen würde, und zum ersten Mal wäre ich Herr der Lage, weil ich sie aufklären könnte, und im Moment, da sie den Hund wirklich streichelte, preßte ich sie zum ersten Mal gegen den Lattenzaun gleich neben der Garage, und verwirrt spürte ich die Erregung einschießen, ach, daß ich ein einziges Mal zurückkönnte und wieder zum ersten Mal zu küssen vermöchte, während ich die Kleine dem andern im übrigen vollkommen gönne, nicht einmal weiß, hatte das Mädchen blaue Augen oder braune, das hat sich der andere gemerkt, ich verfaßte inzwischen schon den ersten Brief an sie: «Du bist das Salz meines Lebens», den Satz, den ich mir gewünscht hatte, einer Frau zu schreiben, ehe die Empfängerin festgestanden hatte, ach, er las sich einfach zauberhaft, der andere konnte sich die Fortsetzung aus den Fingern saugen, da hatte ich schon zum ersten Mal eine Affäre mit einer reifen Frau, mein Gott, dreizehn Jahre Altersunterschied, wie vollkommen ruhig ich Leni in Stauffers Stall zog und ihr zum ersten Mal sagte, es sei unwichtig, was sie mir schenke oder nicht schenke, wenn es ihr nur besser ginge, und ich kochte ihr den ersten Kräutertee, und als ich ihr die Tasse reichte, bebte ich zum ersten Mal vor Glück, derart selbstlos lieben zu können, ich übergab die verheiratete Frau nur keinem andern, weil ich zum ersten Mal von der Eifersucht gebeutelt wurde, wie es ein zweites Mal gar nicht vorstellbar ist, ich leckte das erste Mal eine Türklinke, weil sie in ihrer Hand gelegen hatte und stellte ununterbrochen die Nummer ihres Mannes ein, nur um zum ersten Mal im Leben einen Affen aus mir zu machen, ich zertrümmerte zum ersten Mal eine Fensterscheibe, weil ich einen Moment lang geglaubt hatte, Lenis Augen blickten mich dahinter an, ich sah zum ersten Mal ein, daß es so nicht weitergehen konnte, und gab zum ersten Mal ihrem Drängen nach, uns ein Weilchen nicht zu sehen, und in diesen furchtbaren Tagen der Vernünftigkeit meldete sich eine ganz neue Sehnsucht; es war das erste Mal, daß ich innerhalb von ein paar Stunden alterte, als gehörte mir nun die Zeit nicht mehr, wir müßten uns auf etwas ganz anderes, ganz Neues einstellen, um noch einmal zusammenkommen zu können, und so schrieb ich ihr zum ersten Mal, daß ich ein Kind wolle, ein Kind von ihr, sie könne sich auf mich verlassen, ich würde ein guter Vater werden, ach, es war das erste Mal, daß ich nichts begriffen hatte und so ganz und gar zu spät kam mit einem Gefühl, sie hatte die Sache mutterseelenallein entschieden, sie war schon zurück von diesem schrecklichen Eingriff, und zum ersten Mal schrie ich vor Angst über das Mißverhältnis, und als sie die Tür hinter sich zuzog, war ich zum ersten Mal erleichtert, daß eine Frau mich verließ, und doch jagte ich ihr hinterher. Es war das erste Mal, daß ich sie vollkommen verstand und mir selbst vollkommen lächerlich wurde, und ich umklammerte sie und flüsterte zum ersten Mal, daß ich ohne sie nicht leben könne, und zum ersten Mal streichelte die Frau das einfältige, verstörte Kind, zu dem sie mich gemacht hatte, sie ging zum Auto und winkte zum ersten Mal, als dächte sie an etwas anderes, und ich verstand, daß meine Eifersucht auf ihren Mann zu kurz gegriffen hatte, er erschien mir nun lächerlich, während schon die endgültige, die desperate Eifersucht nach mir griff. Und so fuhr ich ihr zum ersten Mal hinterher und schlief im Wagen vor ihrem Haus, und als sie heraustrat, rief ich ihren Namen, und sie wandte sich nicht um, und als ich telefonierte, hörte ich zum ersten Mal nur ihren Atem im Hörer und verstand, daß sie nun jedesmal auflegen würde, wenn sie meinen Atem hörte, also würde ich es bleiben lassen. Ja, ich hatte begriffen, und doch war es das erste Mal, daß der Nachleber auch jetzt noch nichts zu erben fand, nicht einmal ihren Namen hätte er mir nachschreiben dürfen, als ich mich Abend für Abend über die weißen Briefbogen beugte, anderthalb Wochen lang, und immer war es der erste Abend, immer hoffte ich, schlagartig ein anderer zu werden, wenn ich ihr nur ein Wort zu schreiben vermöchte, als fiele mir etwas Neues zu mir selbst ein, ich schrieb ihren Namen, zwei, drei Seiten, ohne abzusetzen schrieb ich ihren schönen, kleinen Namen, und ich weinte zum ersten Mal, weil Papier dennoch Papier bleibt, ich zerriß es vor Schmerz, und ich lernte zum ersten Mal die Sehnsucht nach dem leeren Schlaf kennen, was zählen Träume, wenn ein Ende sein muß in allem?
Zum ersten Mal zeichnete sich die Beschränkung der eigenen Person ab, ich hing mir derart zum Hals heraus, daß es zum ersten Mal ein Glück war, mich toll und voll laufen zu lassen, alles war besser als ich, und doch spürte ich ganz allmählich das leise Wiedererwachen der Lebenslust, ja, ich lebte zum ersten Mal vollkommen gelangweilt vor mich hin, aber ohne daß es mich störte, es dämmerte mir, daß es nicht unaufhörlich anzufangen gälte, es begann sich etwas daran zu erschöpfen, obgleich ich zum ersten Mal bei Benno auftauchte, um Ernst zu machen mit der Malerei und mir die Kunst durchaus erkämpfen wollte, und so tauchte ich den Pinsel wieder mit demselben Enthusiasmus in die Farbe wie seinerzeit im Kindergarten, es lag nur die Erfahrung dazwischen, daß der Enthusiasmus eine Zeitfrage war, oder war er eine Beschränkung, denn zum ersten Mal hätte ich arbeiten müssen, als wäre es das letzte Mal, die letzte Begeisterung hätte ich aus mir herausholen sollen, und ich hatte nur die erste, alles andere hatte ich dem famosen andern überlassen; und so kam mir zum ersten Mal die Idee, auszubrechen; die Landschaft sollte eine neue Landschaft werden, der Himmel ein neuer Himmel, die Menschen lauter neue Menschen, und wäre ich auch immer noch derselbe, so sähe ich doch alles zum ersten Mal, beträte jedes Haus zum ersten Mal, und jede Stadt entdeckte ich neu, wie ich jeden Strand zum ersten Mal beträte und mir jedes Sandkorn noch interessant wäre, ein derartiger Neuling wäre ich im Reisen. Und zum ersten Mal im Leben setzte ich in die Tat um, was ich mir vorgenommen hatte: Ich landete zum ersten Mal tatsächlich dort, wo ich erzählt hatte, daß ich landen würde, und ich taumelte tatsächlich von einem Abenteuer ins andere und hatte den Eindruck, keines sei wie das vorige, und doch machte sich ein erstes Zittern in mir bemerkbar, wie Schmetterlingsflügel, die meine Hirnwindungen streiften, dieselben Flügel vielleicht, die ich aufgespießt hatte; ich beugte mich mit einer Lupe drüber, und die vollkommen symmetrisch geäderten, gepunkteten und gestrichelten Flächen, nun ja, es waren noch exakt dieselben, denen ich zwei Tage lang nachgejagt war und sie tatsächlich selber mit dem Netz eingeholt hatte ohne wirkliches Interesse, wieso auf einmal sollte es mir Lust bereiten, eine Stunde lang im kniehohen Gras zu hocken und einem Insekt aufzulauern, wozu schlug ich mich mit Durst und Mückenschwärmen herum, wenn mich nicht zum ersten Mal die Idee bei Laune gehalten hätte, daß ich zu Hause davon erzählen würde, eine Expedition in die Pampas ließe ich am runden Tisch im Circolo aufsteigen, die Nächte im Zelt, und wenn ich den kleinen Schmetterlingskasten hervorzauberte und samt Lupe zirkulieren ließe, dann, o ja, dann würde ich mich zum ersten Mal für das Schillern der Farben begeistern, dann sähe ich, was ich gar nie gesehen hatte und spürte das Zittern der Flügel, dieses Zittern, das mein Hirn gestreift hatte, als ich die Pilzsäfte in mir aufsteigen fühlte, und vielleicht würde ich zum ersten Mal auch davon erzählen, ach, was nütze es zu reden, würde ich sagen, es müße das andere Gesetz zu leben anfangen, und erst dieses Gesetz zeige die Kultur, würde ich sagen und hatte es tatsächlich selber geglaubt, als ich zum ersten Mal mit den Indios zusammen die Pilze gegessen hatte und mich ihnen anschloß und zum ersten Mal ganz aus mir heraustrat und zum ersten Mal ganz auf das Fremde vertraute, und so fiel ich aus allen Bezügen heraus, und auf den Fersen hockend unter den Fremden halluzinierte ich meinen ersten Roman. Von einer Señora fabulierte ich, die sich nicht genug tat an der Eheliebe und also zu schreiben begann, einen Roman, ganz aus ihrem Innern heraus fabulierte sie, «El hombre y su mujer», und die unbeweglichen Indiogesichter vor mir wurden zum Mann, der diese Frau nicht verstand, er war ihr fremd, wie nur ein Ehemann fremd zu sein vermag, und doch schrieb sie jeden Tag einen Liebesbrief für ihn, «Mi Duque de felicidad, ohne dich mag ich nicht mehr leben», und der Ehemann las den Brief und verstand, daß er einem anderen galt, und so begann er diesen anderen zu suchen. Obgleich er wußte, daß es nur ein Roman war, den seine Frau sich erschrieb, konnte er auf der Straße an keinem Jüngling mehr vorbeigehen, den er nicht verdächtigt hätte, er sprach die Romanfigur an, fragte sie aus, bezahlte ihr einen Tequilla und Tortillas, so war sie abgelenkt von seiner Frau, und am Abend stürzte er nach Hause, um nachzulesen, was alles dieser famose Nichtleber wieder ausgelöst hatte in seiner Frau, welche Wendungen er ihr zu entlocken vermochte, und je undurchsichtiger sie schrieb, desto sicherer war der Ehemann, sie eines Tages überführen zu können, und um so verbissener prüfte er sie, schickte ihr die wundersamsten Blumensträuße mit nichts als dem Namen auf dem Kärtchen, «Duque de felicidad», und jedesmal dankte die Frau im nächsten Brief so liebestrunken, daß immer klarer hervortrat, wie sie dem eigenen Traum verfiel, und so bestellte der Mann sie mit einem letzten Strauß in den Wald, und als sie hinkam, zerschoß er einem jungen Mann, den er aufgegriffen hatte, das Gesicht vor ihren Augen.
Und ich, ich lehnte mich zum ersten Mal glücklich und erschöpft an die Lehmwand zurück, und ein Indio mir gegenüber warf die rechte Hand hoch, eine unendlich schnelle Bewegung, ich hörte nicht einmal ein Schaben, als sie sich erhoben wie ein Mann, dann spürte ich den ersten Schlag ins Gesicht und verstand blitzartig, daß ich zum Duque de felicidad gemacht werden würde, einer riß mir den Kopf an den Haaren zurück und spuckte mir zwischen die Augen: Muerte a la mujer, sagte er sanft.
Es war das erste Mal, daß ich eine Geschichte auszufressen hatte, mutterseelenallein. Am Ende hockte ich blutiggeschlagen und leergeraubt auf einem unglaublich stinkenden, mit Fliegenpapier vollgehängten Polizeiposten und war zum ersten Mal froh um die Adresse einer alten Schweizerin und dankbar, daß es in Mexiko Korruption gab und ich flugs freikam. Ich mußte mir nur zum ersten Mal in ein Auto helfen lassen von einer alten Frau, und zum ersten Mal wohnte ich ums Gnadenbrot bei ihr und einer anderen alten Frau, und es wurde mir zum ersten Mal klar, daß ich mich auch darin getäuscht hatte: alt war nicht alt, und eine Frau, die allein lebte, keine Frau, die keinen Mann gefunden hatte, es war das erste Mal, daß ich mir verlacht vorkam, ohne daß die beiden Frauen auch nur das Gesicht verzogen hätten, aber sie hatten eine Sehnsucht in mir aufgerührt, die ich nicht verstand, ach, daß ich mich hätte häuten können, denn durch eine offene Tür sah ich, wie die eine alte Frau ihre Hand auf die Schulter der anderen legte und diese andere ihren Kopf zur Hand auf ihrer Schulter neigte, und obgleich nichts weiter geschah, wollte ich abreisen, fort, weg, zum ersten Mal hatte ich nichts mehr zu suchen, nirgends; und hoffte zum ersten Mal, es zu Hause zu finden, einfach so, wenn ich erst dort wäre, und tatsächlich war ich erlöst, als ich zum ersten Mal wieder Schweizer Boden unter den Füßen hatte, und ich hätte meine Rückkehr keinem andern gegönnt, denn nun konnte ich zum ersten Mal alle Geschichten wirklich erzählen, zum ersten Mal alle Bilder wirklich zeigen, mir zum ersten Mal ein Täschchen, dann ein besticktes Wämschen und ein paar Pilze abschwatzen lassen, und zum ersten Mal erzielte ich dabei einen finanziellen Gewinn, und es begann sich schon abzuzeichnen, daß ich einen Beruf daraus machen könnte, jeder andere hätte es getan, also mußte ich zwangsläufig aufgeben, und ich hätte zwangsläufig wieder abreisen müssen, um zu mir selber zu kommen, aber jeder andere reiste auch, und daher entschied ich mich zum ersten Mal für beides zugleich und nahm eine Gewohnheit von drüben auf. Ich schlenderte in Blinzern durch die Straßen, als wäre ich ein Fremder, ging einer Frau hinterher und stellte mir vor, wie ich sie gleich anreden, sie ausführen, sie zum ersten Mal küssen und dann flachlegen würde, und wenn sie sich zufällig umdrehte, blickte ich meiner Ehefrau ins Gesicht, und es war zum ersten Mal eine Erlösung, daß es bloß ein Spiel war, ich um die Ecke biegen und in der nächsten Straße schon der nächsten Frau nachsteigen konnte, natürlich nur in Gedanken, denn ich wollte zum ersten Mal nichts mehr wirklich erleben, und deshalb rief ich immer früher den Nachleber herbei, daß er der Besten auf der Straße nachgehe, und zuletzt brauchte ich auch nicht mehr nach ihm zu rufen; ich dachte zum ersten Mal ans Jonglieren; während der andere noch meinen alten Frauenträumen nachhing, warf ich den ersten Ball, spürte sein kaum wahrnehmbares Gewicht in meiner Hand, und es fiel mir ein, daß ich dieses Gefühl schon einmal gehabt hatte, natürlich, die erste Klavierstunde: stell dir einen Tennisball vor, auch wenn du sein Gewicht nicht spürst, Luc, der Ball ist in der Handwölbung; und so hörte ich zu jonglieren auf, bevor ich damit begonnen hatte, und ich hörte in Vaters Werkstatt auf, bevor ich daran Spaß finden konnte, denn ich hatte zum ersten Mal das Prinzip durchschaut: jeder Beruf würde mir über kurz oder lang zum Hals heraushängen; wenn sich der Überdruß nicht gleich einstellte, hieß es nur, daß mir das Schlimmste noch bevorstand.
So habe ich Don Carlos zum ersten Mal gekränkt, ich war fassungslos, als er zu weinen begann, wir standen in unseren ölverschmierten Overalls nebeneinander, eben hatte er den Motor noch mit dem Schraubenzieher anspringen lassen, «ich habe einfach nicht das Zeug dazu», sagte ich nur, er ließ den Schraubenzieher sinken, und ich sah zum ersten Mal, daß Vater alt geworden war, ich bemerkte seine geschwollenen Hände, und als seine Schultern zu zucken begannen, fiel mir zum ersten Mal auf, wie unendlich schwerfällig sich meine Geschichte voranwälzte, sie war über und über mit Leim bestrichen und beklebt mit Details, ich versuchte, sie zu wenden, sie zu drehen, sie wollte sich den Wanst vollschlagen mit Naschzeug, statt wieder zu tanzen; zum ersten Mal schoß die Reue in mir hoch, ich wollte Don Carlos umarmen, dieses hilflose Kind, das ich mir einmal gewünscht und von meiner ersten großen Liebe nicht bekommen hatte: war es mein Vater? Als er meine Arme spürte, weinte er laut auf und schlug mich zum ersten Mal im Leben. Ich blieb trostlos zurück, und es fiel mir auch kein Trost ein für Vater.
Ich ging zum ersten Mal im Städtchen herum und suchte ein Gesicht, irgendein Gesicht, zum ersten Mal war ich vollkommen leer und suchte eine Hand. Susanne rammte im Supermarkt mit ihrem Einkaufswagen die Pyramide aus Kaffeedosen, und zum ersten Mal lachten wir gleichzeitig über dasselbe, wir bückten uns gleichzeitig und begannen die Dosen zu stapeln, und zum ersten Mal wollte ich ihr zuliebe Schabernack treiben und warf eine Dose kurzerhand in die Fischtruhe, und zum ersten Mal schaute mich Susanne einen Moment ungläubig an, die nächste Dose verschwand im Brotgestell, und Susanne nahm Ziel und warf ihren Kaffee hinter die Abwaschmittel, und zum ersten Mal sprach sie aus, was ich gedacht hatte: Man könnte Kaffee auch trinken, hast du Zeit?
Und zum ersten Mal bekam die Liebe wieder einen neuen Geschmack: kaffeegemütlich; vielleicht verglich ich sie deswegen nie mit meiner großen Liebe, Susanne war ein Zuhause, und zum ersten Mal vergaß ich, daß es ein Leben auf Abruf blieb: auch wenn es kein erstes Mal gibt und kein zweites, gezählt wird trotzdem. Susanne ist eine andere Frau geworden, und ich bin nicht mehr derselbe, ich hatte nur zum ersten Mal all die Nächte neben einer Frau gelegen und nicht bemerkt, daß ich ihr langsam über den Kopf wuchs, und so hat sie mich in den famosen anderen verwandelt, ohne daß ich es ahnte. Ich erkannte mich nicht mehr, wenn sie über mich sprach, ich wurde mir zuwider, wie der andere mir immer zuwider gewesen ist, und jetzt, da ich zum ersten Mal nicht weiß, wie ich wieder Tritt fassen könnte, jetzt beginne ich zum ersten Mal, Madame la Maman zu verstehen, die keinen neuen Hund im Haus haben wollte: er würde sterben, wie der erste Hund gestorben war, wie jeder Hund sterben wird, «je serai de plus en plus pauvre», und so muß ich mich zum ersten Mal zur Hoffnung zwingen, und obgleich ich mich erinnere, daß ich meine wirklich große Liebe durchaus vergessen konnte, diese erste, mir mittlerweile ganz zwiespältig, wenn nicht sogar lächerlich erscheinende Leidenschaft, so weiß ich doch zum ersten Mal, daß auch das nicht stimmt und ich möglicherweise später, wenn ich schon gar nicht mehr fähig sein werde, eine Beziehung einzugehen, daß ich dann mein liebes Leni-Gesicht wieder vor Augen haben werde und es nicht mehr zu küssen wage, weil ja längst alles vorbei ist und lächerlich geworden, am meisten ich selber, der ich nicht aufhören kann, an Totes zu denken, und so denke ich, daß ich der geborene Anfänger bin.
Das erste Mal - oh, wie mich diese Wendung immer entzückt hat, wie ich nur sie beherrsche und sie keinem anderen überlassen kann. Noch das erste Mal sterben, und mir soll's ein Vergnügen sein.
1995 wurde klar, dass - als Spätfolge der Bestrahlungen - mein Kieferknochen zerfiel. Die Beschwerden breiteten sich aus, bis man mir 2001 einen neuen Kiefer einsetzte. Die Erholungszeit war lang, sie brachte neue Eingriffe und unvorhergesehene Zwischenfälle mit sich. Ich lebte und schrieb auf Sparflamme. Aber es war gut, weiter zu leben und weiter zu schreiben.
Wie es auch heute wieder gut ist, obgleich ich seit 2007 allein lebe. Fast kommt es einer Wiedergeburt als Autorin gleich, dass ich nach 15 Jahren Schweigen den Erzählband "Schwarzer Schnee" veröffentlichen konnte.
Schwarzer Schnee: Kleine Auferstehung
Kleine Auferstehung
Im Traum starb die Signora und trotzdem lag keine Leiche da ein Neugeborenes schälte sich aus den Betttüchern, das kleine Gesicht blank und leer, aber bereits zeichnete sich die runde, viel zu hohe Stirn ab, die zahnlose Mundpartie war zu spitz und ein Bauchwulst trieb. Waren die Windeln eine Nummer zu klein gekauft, oder …? Die Signora erkannte ihren Schmerbauch. Wie sie das Neugeborene überhaupt an all ihren Mängeln erkannt hatte. Sie stellte es nicht ohne Verwunderung fest, nein, mit Belustigung konstatierte sie: „Das also bleibt.“ Ruth, die hinter ihr stand, ärgerte sich: „Den bösen Blick erträgt kein Kind.“
Böser Blick? Die Signora hatte das Kind doch ohne jeden Widerwillen betrachtet. Allerdings auch ohne Erbarmen. Hiess das nicht eher, <den Tatsachen ins Auge sehen>? Die Signora wandte sich fragend um. Als sie das vertraute Gesicht der Freundin sah, spürte sie den Missklang selbst: Ein warmes Gefühl durchrieselte sie. Das passende Wort dafür wollte ihr nicht einfallen. Aber je länger sie Ruth betrachtete, desto mehr erfüllte sie dieses Gefühl von … von …. „Ach, wie heisst es, Ruth, sag schnell wie es heisst.“
Ruth beugte sich übers Kind und küsste seinen Bauchwulst.