Ein Wolf beisst sich die Zähne aus
Walter Mehring - der Unbekannte von der Szene: Letzten Samstag starb er, der Kabarettist und Schriftsteller, der <Bänkelsänger von Berlin>, in Zürich im Alter von 85 Jahren (vgl. BZ vom Dienstag). Die Berner Autorin Maja Beutler hat den damals 81jährigen vor vier Jahren in einer Radiosendung porträtiert. Gleichzeitig entstand auch ein Text, eine Skizze, eine Reminiszenz an den Porträtierten. Es ist kein Lobgesang auf einen Toten, es ist die persönliche Annäherung an Walter Mehring. Eine Skizze eben.
Da geht ein kleiner Mann, stützt sich auf einen Stock und stösst die eine Schulter hoch bei jedem Schritt, als möchte er damit schon in den Himmel reichen. Da geht ein kleiner Mann, der sich nicht ins Alter ergeben mag und nicht ins Schweigen. Der 81jährige Walter Mehring ist aufbrausend, einsam, ungeduldig und egozentrisch wie ein pubertierender Jüngling: <Wem geht es denn so schlecht wie mir?> Das ist keine Frage - das ist ein Schlachtruf. Walter Mehring verteidigt, seit er in den Jahren des Ersten Weltkrieges zu schreiben begann, immer seine Ausnahmestellung. Nur nicht immer für dasselbe, das hat ihm die Welt nicht zugestanden. Heute ist er ein Ausnahmefall im Negativen: Kein Autor ist so vergessen, so verkannt, wird so hinters Licht geführt und missbraucht wie Walter Mehring. Es gibt nichts Rührendes an diesem Mann. Er ist eine einzige Anklage.
Seinen ersten Lyrikband, 'Das Ketzerbrevier oder die Kunst der lyrischen Fuge', stellte er 1921 unter das Motto: 'Ich hab's gewagt...'. Ein Wort Ulrich Huttens. Zuerst literarisch gedeutet, hat es Mehring später mit allen Parallelen von Flucht und Verfolgung durchlebt. Heute ist es sein Lebensfazit: <Und es wird über meinem ganzen Denken, meinem ganzen Arbeiten stehen bis zuletzt. Ja, allerdings, 'Ich hab's gewagt'.>
<Sie haben es in der deutschen Sprache als erster Lyriker gewagt nach Musik zu schreiben?> <Ja, ja>, ruft Mehring eifrig, <ja, natürlich, das muss man doch endlich zur Kenntnis nehmen. Wer hat denn das vor mir gemacht, dass er die 'Kunst der Fuge' von Bach genau studierte? Ich hab' ja nicht aufgehört, sie zu studieren. Genau so sind meine Verse gebaut, genau so, Sie sollten sie rezitieren lassen. Aber ausser mir kann es ja keiner.>
Dennoch: Mehring ist kein eitler Poet. Es ist schon etwas anderes dieser Ichbezogenheit beigemischt. Eine Verzweiflung, die über die eigene Person hinausweist, eine Verzweiflung darüber, dass die Welt sich dreht und dreht und nicht zur Kenntnis nimmt, was alles geschaffen wird. Eine Verzweiflung darüber, dass einer sich die Zähne ausbeisst an seiner Arbeit, dass einer sich aufreisst für seine Überzeugungen, dass er bereit ist, das ganze Blut zu verströmen und die Welt es nicht will und nicht wollte. Nicht von Hutten, nicht von Mehring. Es stehen nur kleine Verse auf weissem Papier. Und die Buchdeckel werden zugeschlagen, und die Welt dreht sich und ist durch nichts gestört worden. 'Ich hab's gewagt', nur hat sich die Welt nicht anhalten lassen. Geht uns der Fall Mehring etwas an? Uns ganz persönlich? Wissen wir etwas anzufangen mit seinem Lebensfazit, wenn es uns doch unser ganzes Erziehungsarsenal an 'frisch gewagt ist halb gewonnen' untergräbt? Möchten wir - um es ganz deutlich zu fragen - Kinder heranziehen, die etwas wagen, statt auf der Erfolgsstrasse zu tippeln, den Blick immer starr auf die Karriereapotheose gerichtet, dorthin, ganz am Schluss, wo die Reihen von Lorbeerbäumchen endlich zusammenlaufen?
<Erfolg>, Walter Mehring wird zum Wolf, <Was ist das denn, Erfolg für einen Schriftsteller>, fragt er lauernd, <was stellen Sie sich vor, mein Kind? Irgend so einen Bestseller wohl? Ach Gott ja, das wird mir ja nun wirklich erspart bleiben.> Er hat es sich also explizit verbeten, dass man ihn bedauert. Und gerade deswegen behält er die Trümpfe in der Hand: <Und nun werden Sie mich fragen, was mich schon jeder gefragt hat>, sagt er und lässt seinen Stock tanzen auf dem Parkett, <Sie werden mich natürlich fragen: Wo stehen Sie denn nun politisch, Walter Mehring?> Und da kann ich Ihnen nur sagen, was ich schon immer gesagt habe, Kind: <vertikal>. Das habe ich schon im Ersten Weltkrieg gesagt. Ich bin nicht links, und ich bin auch nicht rechts, ich bin vertikal zu suchen. >
Er will ein Wolf bleiben, unbemuttert. Streitgespräche sind sein Aktionsfeld par excellence, da belebt er sich förmlich und hofft auf Futterneid. <Walter Mehring, was heisst denn aber 'vertikal', ganz einfach und praktisch ausgedrückt?> Darauf ist er getrimmt, der greise Wolf, das mag er. Und weil er immer neben dem Rudel gejagt hat, wird er sich kein fettes Stück abjagen lassen: <Vielleicht muss ich's mir überlegen>, lächelt er artig, <am besten gleich die ganze Nacht.> Er ist tadellos erzogen von sich selbst und wird sich hüten, sich je vor mir schämen zu müssen. <Ja. ich werde überlegen. Und Sie, gnädige Frau, Sie werden dann dreimal raten dürfen. Passt es morgen früh?> Walter Mehring steht auf, umständlich, er zieht die Schulter hoch, dreht sich und klopft mit dem Stock langsam über den Boden. <Ich muss noch was schreiben.> Das Einzige, das ihn noch umtreibt und um seine ganze Ruhe bringt. <Schreiben>, sagt Mehring, <das ist ja mein Leben.>
