Interview mit Linda Hess-Liechti
Linda M. Hess-Liechti hat sich mit Maja Beutlers Werk befasst in ihrer Dissertation:
„Das Gefängnis geht nebenan weiter...“, Studien zur mentalen Gefängnis- und Befreiungsthematik in Prosatexten von Margrit Baur, Maja Beutler und Margrit Schriber.
(Untersuchte Werke Beutler: ‚Fuss fassen’, ‚Die Wortfalle’ und ‚Das Werk oder Doña Quichotte)
A thesis submitted for the degree of Doctor of Philosophy of the University of New England, Australia
Das Interview entstand 1998 während eines Europaaufenthaltes von Linda Hess.
L.H.: Maja Beutler, ich möchte mit Ihnen vor allem über Ihren 1994 erschienen Roman 'Die Stunde, da wir fliegen lernen' sprechen. Es haben sich beim Lesen allerdings Gedanken und Fragen entwickelt, die über diesen Text hinausgehen und die ich Ihnen ebenfalls vorlegen möchte. Zuerst jedoch eine Frage zu Ihrer Schreibweise:
In 'Die Stunde, da wir fliegen lernen' lassen Sie die Kunsthistorikerin Annemie sagen, sie müsse das Einfachere lernen, ganz schlicht formulieren, nein, überhaupt nicht mehr formulieren, es einfach zulassen, die Sätze durch sich hindurchziehen lassen...
Ist dies Ihre Devise für Ihr eigenes Schreiben?
M.B.: So genau habe ich es mir zwar nicht überlegt beim Schreiben, jedenfalls wollte ich nicht aus der Schule plaudern und zwischen den Zeilen mein neustes Schreibrezept deponieren. Aber ich denke durchaus, dass sich die Einfachheit nicht von selbst ergibt und sich bei mir nicht als Erstes einstellt. Einfachheit setzt ja sehr viel handwerkliches Können voraus. Vielleicht, dass sie überhaupt erst möglich wird, wenn man das nötige Rüstzeug beisammen hat und der persönliche Ehrgeiz überwunden ist - dann langt man sozusagen beim ‘anderen’, beim uneitlen Ehrgeiz an, dann geht es nicht mehr ums Brillieren und Volten schlagen, und die Zeit des sich Vernarrens in gewisse Formen ist auch vorbei. Eigentlich ist der ‘andere’ Ehrgeiz ein Loslassen: Er will nichts mehr erreichen für die eigene Person - er ist die vollkommene Konzentration auf den Stoff.
L.H.: Entwickeln Ihre Figuren ein Eigenleben während des Schreibens, oder sind sie von Anfang an so konzipiert, wie wir sie als Leser dann antreffen?
M.B.: Nein, die meisten Figuren nehmen im Schreibprozess überhaupt erst Gestalt an, beinah so, als würde ich einer realen Person allmählich näher kommen. Und so sind denn beim Schreiben auch plötzliche Blockierungen möglich - die Figuren wollen nicht weitergeschrieben werden, wie ich will - bloss sehe ich nicht, warum. Ich verstehe nur, dass ich die Person, die Figur, offenbar in einen Plan zwängen will und sie sich dagegen sperrt. Ich erlebe den Schreibstillstand als eine Art Seilziehen: Was ich im Kopf durchpushen möchte, scheint in der Figur nicht angelegt, sie will sich in eine andere Richtung entwickeln, sie hat ihren eigenen Willen, und so muss ich meine kleine Brachzeit als Autorin in Kauf nehmen, bis sich auch in mir selbst etwas neu einstellen kann - ich muss den Plan loslassen und ‘ungesichert’ neu ansetzen. Dann ergibt sich die Entwicklung im Sinne der Figur meistens sehr schnell.
L.H.: Kann denn das Konzept, das Sie eigentlich für einen Roman hatten, nicht verändert werden dadurch?
M.B.: Das kann es durchaus. Vielleicht muss ich zum Roman ‘Die Stunde, da wir fliegen lernen’ ohnehin noch etwas Grundsätzliches sagen: In allem, was ich bisher geschrieben habe, gab es nur eine einzige Figur, die einen realen Hintergrund hatte wie Luc: der Schneider Pedroni in 'Fuss fassen' und ‘Marmelspiel’. Pedroni war ein Mitpatient, ich habe ihn - nach seinem Tod - sozusagen auferstehen lassen in einem Buch und später in einem Theaterstück. Sobald eine persönlich erlebte Realität hinter den Figuren steht, zeigen sich andere Gesetzmässigkeiten. Oder sagen wir: Es belastet mich beim Schreiben eine andere Verantwortung. Bei Pedroni hat mich irritiert - nein, geradezu gequält hat es mich - dass ich dem Mann als Autorin nicht gerecht werden könnte, dass er in Wirklichkeit viel reicher war, oder eine ganz andere Kraft verströmte als im Text. Ich musste jeden Satz immer wieder an der eigenen Erinnerung messen, sozusagen Gefühl gegen Gefühl halten: Entstand beim Durchlesen dieselbe Sensation, wie sie der reale Pedroni in mir hervorgerufen hatte? Es war also ein Prozess, ein langwieriger, bis - wenn ich die Figur Pedroni las - etwas Vergleichbares in mir vorging, wie mit dem lebendigen Signor Pedroni.
Auch bei Luc, oder hinter der Figur des Luc steht eine reale Figur: ein Freund meines ältesten Sohnes. Bloss habe ich Jacques nicht wirklich ‘gekannt’ - zumindest. wenn man den Begriff ‘kennen’ einigermassen differenziert auffasst. Ich habe Jaques gesehen, wenn er ins Haus kam, seine äussere Erscheinung. Er kam häufiger zu Besuch, als mein Sohn verunfallte, immer rief er vorher an und sagte: ‘Heute könnte ich’s richten, ich habe freie Tage zusammengespart, damit ich M. überraschen kann’. Mich hat jedesmal die fast zauberhafte Kindlichkeite frappiert, die von diesem jungen Mann ausging, sie stand in Kontrast zu seinem Alter, er war Mitte oder Ende zwanzig. Sein Habitus, also, entsprach ganz dem Protagonisten Luc in ‘Die Stunde, da wir fliegen lernen’, das Äußere habe ich eins zu eins übernommen. Jacques kam immer im selben langen schwarzen Mantel, im selben großen schwarzen Hut und hatte seinen schwarzen Belgischen Schäferhund bei sich. Jacques hat mich am Telefon realiter gefragt: "Es ist Ihnen doch recht, wenn ich den Hund heute mitbringe?" Wenn er kam und mich begrüsste, entstand unwillkürlich ein unsicheres Gefühl in mir - im Roman habe ich es an die Wirtin delegiert, bei der Luc arbeitet: Sie weiss einen Moment lang nicht, ob er sie anmachen will und sie verblödet genug ist, es zauberhaft zu finden, oder ob sie einfach nicht checkt, was da gespielt wird. Genau diesen Eindruck erweckte Jacques’ unglaubliche Liebenswürdigkeit in mir - sein Gemisch aus kindlicher Grazie und altväterischer Galanterie - ich wusste nicht, auf was er anspielte. Und ich kann mich erinnern, dass mein Sohn bemerkte: "Der spielt auf gar nichts an, er ist so, alles entspricht seinem Naturell."
Jacques hat vier Jahre nach M.s Unfall angefragt, ob er auf ein paar Tage in unser Ferienhaus dürfte, um einmal nach Herzenslust in den Bergen wandern zu können mit seinem Hund. Von einer dieser Wanderungen ist er nicht zurückgekehrt. Da ist der Roman also wieder deckungsgleich mit der Biografie: Auch Jacues ist an einer Geröllhalde gefunden worden, auch sein Hund hat überlebt ...
Monate später, als ich zum ersten Mal wieder in unserem Ferienhaus war, hat es mich umgetrieben, unvermutet auf seine Spuren zu stossen: Da stand plötzlich ein neues Déodorant im Gestell, ich nahm es zur Hand und schnupperte interessiert: "Wer von uns braucht denn auf einmal..." - bis mir klar wurde, dass Jacques’ Angehörige das Fläschchen damals beim Packen übersehen hatten. Ein anderes Beispiel: Unsere Thermosflasche war unauffindbar. Eigentlich war es keine Thermosflasche, sondern eine bauchige Kanne, ein sogenannter Isolierkrug. Ich habe jeden Schrank aufgemacht, sogar im Keller unten habe ich nachgeschaut und mich zur Vernunft gerufen: „Das gibt es doch nicht, dass ein Krug einfach verschwindet!“ - Plötzlich fiel meinem Sohn ein, dass Jacques einen Isolierkrug bei sich getragen hatte, just dieser Scherben wegen hat man ihn überhaupt gefunden.
Es waren also vereinzelte, letztlich äusserliche Parallelen, die ich beim Schreiben übernommen habe. Auch, dass Jacques sich kurz vor dem Unfall von seiner Freundin trennte. Damit hatte es sich, in Sachen ‚Abschreiben’: Ich habe weder die Freundin, noch irgendein Familienmitglied Jacques’ je kennen gelernt - sie leben alle nicht in der Deutschschweiz. Und doch, und doch ...
Gewiss hat die Romanfigur Luc etwas Unstetes an sich, wie Jacques es hatte. Auch dass Luc serviert in einem Restaurant, wie Jacques serviert hat. Es war im selben Masse absurd für beide. Es ist auch eine Tatsache, dass Jacques die Autowerkstatt von seinem Vater hätte übernehmen können. Bloss, ob Jacques’ Vater Lucs Vater ähnlich ist, weiss ich nicht. Ob Jacques noch eine Großmutter hatte wie Luc, weiss ich nicht, geschweige denn, wie ihre Beziehung zum Grossvater ist oder gewesen war. Jacques’ ganzes Umfeld also, war mir unbekannt. Ich habe etwa ein Jahr vor mich hin gearbeitet, wie in einem Tunnel drin, ich versuchte nur, dieses Umfeld zu entwerfen, um Luc langsam konturieren zu können. Ich sah einfach kein Licht. Ich habe nur immerfort geschrieben, in unzähligen Anläufen immer mehr Biographien und neue Situationen entworfen rund um Luc. Nur wusste ich nicht, wie ich sie je in eine Form bringen könnte, wie sich ein zwingender Zusammenhang ergäbe. Ich glaube auch, dass mich Schamgefühle zurückhielten, mir den toten Jacques gefügig zu machen für einen Text. Ich wollte nicht an den Freund meines Sohnes rühren, gewisse Bezirke der realen Person lieber aussparen, als sie dazu missbrauchen, meine Arbeit zu lancieren, also musste ich das Projekt konsequenterweise aufgeben - ich habe nach einem Jahr Arbeit sämtliche Entwürfe verschnürt und weggelegt. „Ein Jahr Trauer für Jacques“, habe ich mir gesagt, „irgendwie wird es richtig gewesen sein so, auch wenn kein Buch draus geworden ist. Ich habe gemacht, was ich offenbar machen musste."
Dann habe ich an etwas ganz anderem zu arbeiten angefangen. die Jahre vergingen - irgendwann einmal ging ich ins Kino, Altmanns Film 'Short Cuts' wurde gezeigt und plötzlich war ich elektrisiert: Aus scheinbar losen Fragmenten war vor meinen Augen ein subtiles Gemälde Amerikas im Entstehen - ich war beherrscht vom Gefühl, nicht eigentlich einem Film zuzuschauen, sondern mir stosse etwas ganz Elementares zu: die eigenen Arbeitsmöglichkeiten würden mir vorgeführt. Ich wohnte dem Beweis bei, dass es beim Erzählen nicht um Rahmenhandlung oder auch nur Kontinuität geht, sondern ...
Ja: Warum nicht darauf vertrauen, dass sich Geschichten aus den Figuren selbst konstituieren und aus ihren Verflechtung - oder sagen wir: dass aus dem Nebeneinander-Stellen von Geschichten ein Zeitpanorama entsteht?
Am nächsten Tag habe ich meine Luc-Entwürfe wieder hervor gesucht. Zu diesem Zeitpunkt lag das Unglück wesentlich weiter zurück, ich hatte innerlich Distanz gewonnen, Jacques, die reale Figur hinter Luc, war in dem Sinne ‘unwesentlich’ geworden. Die Neufassung habe ich dann in sehr kurzer Zeit geschrieben, ich glaube, es waren sechs oder sieben Monate. Ganz zu Beginn sagte ich mir: „jetzt brauche ich nur ein Konzept des Mosaiks - in welcher Abfolge könnten die Steinchen sich zum Bild fügen? Dieses Konzept habe ich brav entworfen, innerhalb von zwei Tagen, ich hatte ein unheimlich gutes Gefühl dabei, ganz Motto 'So kann mir ja gar nichts passieren, ich muss bloss noch dem Plan entlang schreiben.‘ Einziger Fehler: Dass ein Konzept und ich noch nie zusammen funktioniert haben! Es ging denn auch keinen Tag und das Schema war schon völlig im Eimer, dafür fing ich an zu blühen, oder sagen wir: Das Schreiben übernahm die Führung und riss mich weiter, die Figur der Freundin entstand, die Nonna, usw. ... Aber im Grunde genommen war es trotzdem das allererste Jahr, als ich nur Biographien, nur endlos Material ins Blinde hinaus geschrieben hatte, das mir half: beinah, wie eine erschriebene Familie, die mir nun den Rücken stärkte, alle waren ‘abrufbar’, ich konnte die Linse bald auf den und bald auf jenen richten, alle hatte ich wieder völlig präsent. Und die meisten waren eben nicht Personen, die ich realiter gekannt oder gesehen hätte, es waren genuine Figuren Jacques machte die Ausnahme.
L.H.: Im Roman dann der Luc.
M.B.: Luc, ja. Was auch noch ganz lustig war: ich wusste, dass dieser Jacques/Luc malen wollte, weil mein Sohn Objekte machte. Und jetzt fragen Sie mich ums Himmelswillen nicht, ob der Sohn das Modell abgegeben habe für die Romanfigur Benno. Da verrate ich lieber freiwillig, dass ich ihm eine Bildidee geklaut und sie farblich prompt eigenmächtig ausgemalt habe. Als Künstler würde M. das Blaue Bild in ‘Die Stunde, da wir fliegen lernen’ mehr als nur wider den Strich laufen - mein Sohn ist kein Abbild von und kein Modell für Benno. Vielleicht lässt sich mit diesem Bild-Détail übrigens etwas Grundsätzliches demonstrieren: Dass es nahezu unmöglich ist, pure Erfindung zu schreiben. Immer scheinen gewisse Nahtstellen auf zur Realität, ich würde meinen, dass sich jede erfundene Figur in gewissen Charakterzügen festmachen liesse an flüchtigen Eindrücken, die reale Personen ‘hinterlassen’ haben, der Zusammenhang braucht mir beim Schreiben nicht einmal bewusst zu werden. Aber kommen wir zurück auf meinen Sohn und Jacques: Sie haben im Gymnasium engen Kontakt gehabt, sich zwischendurch hin- und wieder gesehen, und unversehens kam Jacques und behauptete, er wolle nun Maler werden. Mir kam das vor, als wären Biografien heutzutage Klamotten, die jeder sich anprobieren und wieder ausziehen könnte: "Eigentlich studiere ich. Nein, eigentlich serviere ich. Nein, eigentlich kiffe ich. Nein, eigentlich reise ich.“ Und plötzlich also hat er gemalt, dieser zauberische Jacques, das wusste ich noch, eh das Unglück passierte. Denn unmittelbar nach Jacques' Tod ... Mein Sohn war gar nicht in der Lage, viel von Jacques zu erzählen. Vielleicht hat es gerade damit zu tun - ich meine, dieses Schweigen zu respektieren - dass ich bei der Niederschrift des Romans zu erfinden begann: Mein Luc sollte etwas ganz Neues tun - also fing er zu schreiben an. Das hat mich nicht nur als Person oder - wer weiss - als Mutter völlig entlastet. Es gab mir das Gefühl, als Autorin endlich mit einer wirklich literarischen Figur zu arbeiten. Der Einfall, Luc schreiben zu lassen, bewies mir sozusagen mit jeder Zeile: „Ich gehe frei um mit meinem Material, es hat nichts mehr zu tun mit Jacques.“ Vielleicht eine Woche oder zwei bevor das Buch herauskam, sagte ich zu meinem Sohn: "Du, ich möchte dir doch noch einmal sagen, dass du nicht irgend ein ungutes Gefühl zu haben brauchst - die Figur Luc ist überhaupt nicht mit Jacques identisch, sie hat sich zu etwas ganz anderem entwickelt, Luc schreibt nämlich, und die Angehörigen finden nach seinem Ausbleiben Texte von ihm und lesen sie sich vor...."
Der Sohn war einen Moment perplex und sagte dann: "Aber genau so war es doch! Jacques hat geschrieben - das habe ich dir bloss nie erzählt. Und sie fanden Texte in seinem Zimmer und haben Zeile für Zeile abgesucht, ob sich eine Spur drin fände, dass er sich umbringen wollte, oder irgend ein Hinweis auf Flucht. Und an der Beerdigung hat die Familie dann einen Text von Jacques verlesen lassen."
Das war einer der Momente, da ich mich selber fragte, ob nicht eine gewisse Eigengesetzlichkeit die Figuren regiert, bis sie agieren wie reale Menschen: ihrer inneren Natur gemäss.
L.H.: Es ist das erste Mal, dass sie auf diese Weise in Ihren Romanen eine männliche Figur zum Mittelpunkt machen.
M.B.: Ich glaube nein. Es gibt auch in 'Die Wortfalle' einen männliche Protagonisten, den Psychiater Pierre Gandolfi. Ich würde mich sogar fragen, ob nicht in 'Fuss fassen' Pedroni auch eine sehr zentrale Rolle einnimmt, und natürlich erst recht in 'Das Marmelspiel' - die beiden Arbeiten haben ja eine gewisse Korrespondenz. Pedroni ist übrigens eine positive männliche Figur. Dass ich für den letzten Roman einen jungen Mann zum Protagonisten gewählt habe, hat sich aus der Realität ergeben - vielleicht nicht nur im Sinne, wie ich es bereits erklärt habe - sondern auch, weil ich zwei Söhne habe. Ich denke, gerade deswegen beschäftigt mich die Thematik, oder sagen wir: Deswegen betrifft mich zentral, was in jungen Männern heute für Möglichkeiten angelegt sind und welche sich verloren haben. Und gerade das Unsicher-sein, wer sie selber denn heute sind, empfinde ich unwillkürlich als neue Möglichkeit für Männer. Sie hatten ja zum Teil gar nie die Chance, sich zu fragen, sondern mussten auf Teufel komm raus versuchen, dem Bild zu entsprechen, das ihnen vorgegeben war. Sie hatten also nicht nur ihre Vormacht-Tradition, sondern immer auch eine Chance weg.
Oder empfinden Sie selbst es nicht so, dass unsicher zu sein, wer Sie selber sind, unsicher zu sein, wer Sie werden könnten, Ihnen Lebensmöglichkeiten eröffnet? Das meine ich mit Chance. Die Frauen halten ihre Unsicherheit ja oft ein Leben lang aus, sie wollen oder müssen sich nicht établieren. Es bedeutet einen unheimlichen Kraftakt, nie in ein Bild von sich selbst zu flüchten, um zu sehen: "Ja, so ist das nun einmal, so bin ich." Ich denke, das macht Frauen auch politisch faszinierend - sie bleiben stets ein Unsicherheitsfaktor, selbst wenn sie sich äusserlich einbinden lassen in politische Parteien, sie können gegenläufige Positionen nicht nur verstehen, sondern sich ihnen innerlich annähern. Das bedeutet vor allem für die Schweiz, wo die Polit-Szene derart verhärtet ist, ein Potential. Im Grunde genommen sind es fast nur Frauen, die echt übergreifend politisieren. Wenn eine Sachfrage sie überzeugt, dann werden sie über Parteigrenzen hinweg miteinander zusammenarbeiten. Das können Männer häufig gar nicht. Ich vermute, weil sie eine andere, eine viel weiter zurück reichende Tradition von Gesinnungstreue haben - sie können es sich nicht leisten, sich zu verändern.
L.H.: Das ist häufig der springende Punkt...
M.B.: Und der springende Punkt bedeutet, dass sich CVP-Frauen zum Beispiel stark gemacht haben für den Schwangerschaftsabbruch, mit sachlichen Argumenten haben sie in den eigenen Partei-Reihen durchgepowert, dass ein NEIN nicht von vorneherein gegeben war, sie haben statt Glaubensgründen Glaubwürdigkeit verlangt: "Ja, heute müssen wir denken." Und: "Ja, wir sind katholisch, ja, wir sind zutiefst christlich, also sagen wir JA." Ohne diese Frauen hätte die CVP es kaum gewagt, den JA-Standpunkt offen zu diskutieren. Die Männer hätten sich gesagt: "Als CVP-ler kann ich mir ein JA gar nicht leisten". Der CVP-Bundesrat hat denn auch geglaubt, als Erstes seine Reserven den Damen gegenüber publik machen zu müssen ...
Kehren wir zur Unsicherheit zurück, die Frauen haben. Bedeutet sie nicht auch in der Familie Beweglichkeit zwischen den Generationen - nämlich, dass immer etwas fluktuiert und sich nicht verhärten kann? Es ist doch recht eindrücklich, dass im Grunde genommen Väter, wenn ihre Söhne in die Pubertät kommen, unverwandt ihren alten Standpunkt, ihre ewigen Ansichten, ihre übliche politische Einstellung verteidigen - die Mütter eigentlich nichts. Oder sagen wir: nur vordergründig, der Spur nach. Die eine oder andere haut auch schon mal auf den Tisch, oder sie eilt als Internationale Rotkreuz-Delegierte dem eigenen Mann zu Hilfe, aber im Grunde hört sie den Jungen zu und hakt später nach: "Du, erklär das noch mal, ich hab dich überhaupt nicht verstanden. Warum meinst du: ‘Drogenabhängige darf man nicht einfach vertreiben?' Was sollte man denn machen?" - usw. usw. Und allmählich wechseln die Mütter Lager und zwar über die Jungen, also Generationen-verschoben. Deswegen wirken Frauen auf mich persönlich wohl dynamischer, ihre Art zu politisieren scheint mir jünger, weil sie für die Einflüsse ihrer Kinder offen bleiben. Die Männer, die älteren, gehen davon aus, dass man die Jugend domestizieren und zur Kehrum-Tür bringen kann, was in Klarschrift bedeutet: man will sie ins eigene Polit-Lager ziehen. Wenn in unserer verkrusteten Politlandschaft, in dieser sehr konservativen Schweiz, überhaupt noch ein Wandel möglich ist, wird er vermutlich von den Frauen und von den Jungen ausgehen!
L.H. Aber dieser junge Luc, den Sie in diesem Roman geschaffen haben, der stirbt ja am Ende. Gut, Sie haben es erklärt, es kommt wahrscheinlich deshalb, weil er in der Realität eben gestorben ist.
M.B.: Das glaube ich nicht. Sowenig als ich glaube, Jugend an sich heisse schon, im Zug Richtung Zukunft zu sitzen. Luc hat den Aufsprung verpasst. Ich würde meinen, das eigentliche Kunstück im Leben wäre doch, möglichst vieles auszuprobieren, ohne deswegen seinen Zug zu verpassen. Er fährt ja Vielen vor der Nase weg.
L.H. Also er hat ihn auch verpasst?
M.B.: Ja, den Spurt zum Aufsprung hat Luc nicht geschafft, oder sagen wir: Da waren die Türen schon automatisch geschlossen worden. Bezeichnend ist sein Besuch bei Benno - der Freund selbst ist gar nicht zu Hause - Luc kann nur durchs Fenster ins zugesperrte Atelier blicken, und schlagartig wird ihm bewusst, dass er gar keinen Bezug mehr hat zur Arbeit des Freundes. Er kann auch nicht teilhaben an Bennos neuem Leben als Vater und Ehemann. Obgleich Gaby ihn ins Haus ruft und bewirtet, kann er mit der Frau des Freundes nicht reden, er versucht zu flirten mit ihr, wie er als Schulbub mit ihr geflirtet hat - Luc ruft nur noch ab, was einmal war und verunsichert die Frau wie gehabt, indem er ihr gesteht: "Ich hab dich immer nur geküsst, weil Du eine Spange hattest." Ihr kleines Kind interessiert ihn nicht, er kann sich nicht ein-denken in ihre Ehe mit Benno, geschweige denn, sich integrieren in diese junge Familie. Luc steht buchstäblich draußen und realisiert zum erstenmal, dass nicht nur Benno, sondern die Freunde überhaupt längst Beziehungen eingegangen sind, die entscheidender wurden als die Beziehung zu ihm.
Nicht wahr, es gibt eine Zeit im Leben, da flippen mehr oder weniger alle rum, es entstehen ganz spezifische Freundschaften - man schliesst sich zu Banden zusammen - bloss kommt eine Zeit, da diese Seilschaften in den Hintergrund treten und sich auflösen, oder abgelöst werden durch neue Formen der Beziehung. Die entstehen aus einem anderen Lebensgefühl heraus und haben auch andere Bestimmungen. Aber Luc ist immer noch bei den Seilschaften.
L.H. Wenn Sie sagen: "Er hat den Aufsprung verpasst" - den Aufsprung auf einen Zug zum Erwachsenwerden?
M.B.: Ja. Wann hört es denn auf, dass man etwas zum ersten Mal erlebt?
L.H. Das wäre doch gerade die Möglichkeit gewesen: zum ersten Mal versuchen, erwachsen zu sein.
M.B.: Sie haben ganz recht, nur muss man dazu bereit sein, auch Unangenehmes auf sich zu nehmen - im Falle Lucs hiesse es ‘Routine’. Sie verspricht den Zauber des ersten Males nicht mehr, sondern den Nicht-Zauber: die lange Durststrecke durchzuhalten, bis man es in der Arbeit zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hat. Luc versucht es ein bisschen in jener Szene, wo er im Restaurant den Tisch deckt und dabei mit den Bestecken jongliert. Es bereitet ihm sogar einen gewissen Spaß, dass er es unversehens schafft. Aber damit hat es sich auch schon. Ich denke, Lucs Hüpfen von Beruf zu Beruf hat auch mit mangelndem Selbstgefühl zu tun.
Es zeigt sich am Eklatantesten in einem ganz anderen Bereich: wie reagiert er denn auf Susannes Frühstücksbrief? Die Beziehung war überhaupt nicht kaputt, oder sagen wir: sie war nicht endgültig ausgelatscht. Aber Susanne war im ‘Aufbruch’. Bei Luc war noch Liebe da für sie, durchaus, aber er wollte diese Liebe gar nicht erst noch einmal zur Sprache bringen. Er hat stante pede zusammengepackt und sich aus dem Staub gemacht, weil er sich in Susannes Frühstücksbrief abgewiesen vorgekommen ist.
L.H.: Er hat nicht gekämpft.
M.B.: ... überhaupt nicht gekämpft hat er!
L.H.: In diesem Roman treffen die jungen Frauen die Entscheidungen: Lucs grosse Liebe, Leni, treibt sein Kind ab, Susanne trennt sich von ihm und Annemie ist nicht "barmherzig", sie gibt ihm und seinem Hund keine vorübergehende Bleibe, nachdem er aus Susannes Wohnung ausgezogen ist. Wo ist sein Platz?
M.B.: Ich glaube, das ist Lucs Ur-Frage - eigentlich findet er darauf überhaupt nie Antwort. Man könnte den Sachverhalt auch umdrehen und sagen: Eigentlich will er tunlichst nie einen festen Platz einnehmen, weil er sich dann eingeschränkt vorkäme, sozusagen ein- für allemal haftbar geworden. Auch wer sich endgültig in einer Beziehung festlegt, wie das sein Künstlerfreund tut, ist für Luc im Gefängnis gelandet. Ein Schandfleck, dass Benno, so unkonventionell er auch arbeitet und so wild er gewesen ist, nun Weib und Kind hat! Wie Krethi und Plethi. Das ist der eigentliche Horror für Luc, und gleichzeitig wird es zu seiner versteckten Sehnsucht. Er realisiert jählings, wo er selber angelangt ist: dass er herum wandert - sozusagen der ewige Jude, nicht? - ihm gehört nichts als die leere Hand. Gewiss heisst auch das nicht jeden Tag dasselbe für Luc. Sehr oft versteht er sich als ‘frei’, als ewig ‘jung und ungebunden’, in den übermütigen Momenten sieht sich Luc als echter Tausendsassa, dem die ganze Welt noch offen steht, keine einzige Möglichkeit vertan. Und andererseits realisiert er, dass schon alles gelaufen ist.
L.H.: Haben Sie mit dieser Figur einfach einen unreifen jungen Mann geschaffen, oder steht er für mehr, zum Beispiel für die sogenannte Generation X, die vor allem im Heute und Jetzt lebt?
M.B.: Ich würde meinen, das zweite sei der Fall. Auch in meiner eigenen Familie, bei meinen zwei Söhnen - mit der Tochter ist es nicht ganz dasselbe - hatte ich den Eindruck, dass etwas in ihnen seine Entsprechung in Luc hatte. Mittlerweile hat die wirtschaftliche Lage umgeschlagen, und es ist vielleicht ein Muss, ständig bereit zu sein neu anzufangen, ständig den Aufbruch in sich selbst wach zu halten. Wirtschaftsprognosen besagen, dass nichts feststehe mit einer Berufswahl, dass es ums lebenslange Lernen gehe, ums ständige Umpolen. Ich würde fast sagen: im Grunde genommen müssen die Männer heute zum ersten Mal mit gebrochenen Biographien rechnen, wie wir Frauen es immer schon mussten.
L.H.: Das stimmt. Denken Sie, wir müssen uns um die jungen Männer sorgen - haben sie ihr Zentrum verloren?
M.B.: Weil die Frau das Zentrum war? Also gar so weit würde ich nicht gehen - ich weiß noch nicht mal, ob wir uns Sorgen machen müssen. Sicher geht es im Buch nicht darum, dass ich ein moralisches Fragezeichen in die Welt setzen wollte. Ich denke bloß, dass die Kindlichkeit beim Mann heute lange, lange vorhält - aber die körperliche Reife von Generation zu Generation früher einsetzt, auch der Eintritt ins aktive Sexualleben wird vorverschoben, und andererseits scheint mir das Loslassen der Kindheit je länger je später zu erfolgen.
L.H.: Ist das nicht auch irgendwie von der Schule her bedingt? Viel mehr junge Leute gehen heute länger zur Schule, und so lange sie im Schulsystem drin sind, können sie nicht erwachsen werden. Es wird ihnen nicht erlaubt.
M.B.: Sicher. Nur würde ich als Gegenstück noch etwas anderes heran ziehen wollen: Die Erzählung 'Das dreißigste Jahr' von Ingeborg Bachmann. Das hiesse dann: Es gehört zum Jungsein überhaupt, den Eindruck zu haben, noch gelte nichts ernst. Man studiert, aber weiß nicht präzis, was damit anzufangen wäre. Man reist, aber sucht sich seinen Platz in der Welt nicht. Das obligate ‘Trampen’ quer durch die Kontinente, ist etwas ganz anderes, als was beispielsweise Sie und Ihr Mann gemacht haben: nach Australien reisen, um zu sehen, ob Sie bleiben könnten. Meine Kinder reisten auch durch Australien, sie haben gewiss auch erwägt, ob es möglich wäre zu bleiben für immer, aber es konnte ebenso gut nicht möglich sein ... Man kann auch Beziehungen eingehen auf diesem Level. Man lebt zusammen und lässt es drauf ankommen: Falls es funktioniert, ist es okay, falls nicht, geht man auseinander. Deswegen geht die Welt ja nicht unter, oder?
In der Novelle ‘Das dreissigste Jahr’ beschreibt die Bachmann allerdings einen ganz anderen Schreck: Das Erwachen. Die jähe Einsicht, dass die Jugend vorbei und nichts Gültiges geschaffen ist. Und doch ist der Alterspunkt erreicht, an dem man alle andern für ‘erledigt’, für ‘fertig’ erklärt hat ... Nageln Sie mich nicht fest auf dieser groben Interpretation der Novelle. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich auf den Spruch der 68er zu besinnen: ‘Trau keinem über dreissig.’
Ich möchte noch etwas anfügen zu Leni, die ihr Kind abtreiben lässt. Ich denke, dass ihre Ehe recht speziell ist, wenn auch weit verbreitet: Eine Art kongenialer Einsamkeit zu zweit. Eigentlich keine schlechte Basis, die Beziehung ‘läuft’ denn auch, obgleich das Sexualleben nicht klappt. Ich denke, all das war Leni voll bewusst und ihrem Mann auch. Wie er ihr nachschaut, wenn sie mit dem Wagen zu Luc fährt, oder er zumindest vermutet, sie fahre zu Luc - da hat er etwas Hündisches an sich: er schaut ja auch einer ‘streundenden Hündin’ nach: ...’, aber zum Frühstück ist sie wieder zu Hause’! Leni kann kein Kind bekommen von einem jungen Mann - ich denke, Luc hat nie erfasst, aus welcher Konstellation heraus sich ihm die Frau genähert hat: dass Not dahinter stand. Leni will ihren Mann nicht verlassen. Und ich glaube, sie sagt sich nicht nur aus Cleverness: "...dann hab' ich ein Abenteuer, und zu Hause bleibt zu Hause" - Leni liebt ihren Mann, kann aber ohne Mann im Bett nicht leben.
L.H. Hat ihr keine andere Dimension gefehlt?
M.B.: Phanatasie, ja. Erst Luc hat sie in ihr Leben gebracht, Leni ist nicht mehr jung, diese Dimension des Zauberns aus dem Nichts heraus, des Spiels mit Worten, nimmt sie völlig gefangen. Leni hat sich verliebt in Lucs Kopf, aber Kind kann sie keines haben mit einem Kindskopf. Das wäre Unsinn pur, statt Zaubern. Als LeserIn könnte man sich höchstens überlegen, ob der Ehemann nicht souverän genug gewesen wäre, dass Leni ihm hätte eröffnen können: "Ich bin schwanger von einem jungen Liebhaber - wollen wir beide nach so vielen gemeinsamen Jahren dieses Kind behalten?"
L.H. Sie hat einerseits die Freiheit gehabt, sich einen jungen Liebhaber zu nehmen, aber sie musste dann auch die Konsequenzen daraus ziehen - und sie war reif genug, es zu tun, nicht?
M.B.: Ja. Was für ein Satz, eigentlich: Reif genug sein, abtreiben zu lassen. Genau so mag Leni es empfunden haben: Als Trostlosigkeit. Mutterseelenallein. Sie hatte ja Luc nicht eingeweiht. Auch in dieser Beziehung also war sie im Off gelandet. Dass sich Leni dem Ehemann nicht anvertrauen wollte, mag an und für sich einleuchten, aber dass sie den Schritt auch mit Luc nicht besprochen hat, macht sie zur ‘selbstständigen’ Frau aus einer ganz anderen Optik: Leni ist ihrer Natur gemäss einsam.
L.H. Sie ist noch schattenhaft, glaube ich - ich sehe sie nicht ganz - sie ist ja eben nur ein Teil von Lucs Leben, nicht irgendwie als zentrale Figur ausgearbeitet, nicht?
M.B.: Nein, nein.
L.H.: Sind es nun die jungen Männer, die auf der Suche nach ihrer Identität sind, ähnlich wie vor noch gar nicht so langer Zeit die Frauen ihre Identität gesucht haben?
M.B.: Heute jedenfalls eher. Gerade, weil Beziehungen ja einen ganz anderen Stellenwert einnehmen. Auch, dass die Männer im Grunde genommen zum ersten Mal konfrontiert sind mit der Tatsache, dass sie verglichen werden. Dass auch sie einen Erwartungsdruck spüren in der Sexualität, in der Beziehung überhaupt, und dass die Frau keine vorgeschriebene Rolle mehr einnimmt. Wobei ich natürlich immer den Eindruck habe, wir reden nur von gewissen Kreisen. In der ‘Unterschicht’ - wenn man das Wort überhaupt brauchen darf - da hat sich nicht viel geändert. Auch politisch setzt ja die Rechte, diese ganz und gar konservative Bewegung im Land, voll auf die Nicht-Privilegierten. Auch junge Frauen, die, sagen wir: Gestelle einräumen müssen in der Migros, denken wohl nicht dasselbe wie Sie und ich, wenn wir von ‘Selbstverwirklichung in der Arbeit' reden. Was sollen diese Schwerarbeiterinnen denn darunter verstehen? Ein Leben lang Gestelle einräumen zu wollen? Das hiesse ja recht eigentlich, eine Misère in die Länge ziehen. Oder sagen wir: unter diesen Bedingungen kann der Lebenstraum wohl nur heissen: "Oh, wenn ich zu Hause bleiben könnte! Und ein Kind haben. Und der Mann würde für uns aufkommen."
L.H.: Also sind es viel eher die Privilegierten, die ihre Identität suchen.
M.B.: Und ich frage mich, ob es nicht nur via Bildung möglich ist, sich zu fragen wer man wohl sein möchte. Nur wer geschult ist, hat die Voraussetzung, wählen zu können wer und was er oder sie werden möchte. Vielleicht locken mehrere Wege aufs Mal - die Qual der Wahl. Oder sagen wir: Jedermann möchte sich Biografien anprobieren können wie Kleider. Aber wer bildungsmässig eingeschränkt ist und wenig Phantasie hat, der malocht still vor sich hin, sein Leben lang.
L.H.: ... oder muss fürs tägliche Leben einfach ‘malochen’, um Geld zu verdienen...
M.B.: Das eine schliesst das andere nicht aus! Luc hat seinen Lebensunterhalt durchaus verdient, aber er hat keine Karriere eingeschlagen.
L.H.: Er hat sich alles offen gelassen.
M.B.: Oder sich alles verschlossen, es ist ein Gemisch aus beidem. Sein Text ‘Der schönste Satz auf Erden’ (Anm. L.H.: Es handelt sich hier um einen Text, den der Protagonist Luc verfasste: Der Vorleber), wo er rekapituliert, wie selig er war, alles zum ersten Mal zu machen. Luc beschwört den Zauber des Anfangs. Das spüre ich natürlich auch, in allem, was ich zum ersten Mal mache: die Erregung beim Ausprobieren, mich Vortasten... Es gibt auch nichts Schöneres, als eine neue Sprache zu lernen und sein erstes Sätzchen zusammen zu stiefeln. Diese Freude, wenn man in der Lage ist zu sagen: "Guten Tag, wie geht es dir?" Und je tiefer man vordringt, umso mühsamer wird es, oder umso eher ist man entmutigt, weil sich die Distanz zur Perfektion abzuzeichnen beginnt. Thomas Mann sagt irgendwo: "Die Freude liegt im Halben" - Luc wollte in nichts über dieses Halbe raus. Da hätte ja die Plackerei angefangen, die mühselige Kleinarbeit, und vor allem die Enttäuschung über sich selbst. Ich schreibe nie so atemberaubend gut wie nachts, ins Kopfkissen. Da wächst sich jedes Wörtchen aus zu Weltliteratur, ich brauche ja nichts durchzulesen, nichts ist mir unmöglich. Sobald ich aber am PC sitze und in die Tastatur greife, schreiben meine Beschränkungen wieder mit - ein Jammer, dass ich sie auf dem Bildschirm zu lesen bekomme!
L.H.: Bereits in ‚Fuss fassen’ und auch im Kurzroman ‚Das Werk oder Doña Quichotte’ verwenden sie das Motiv der Teil-Identitäten, um die innere Zerrissenheit und die Auseinandersetzung der Figuren mit sich selbst zu zeigen. Auch Luc sieht sich und seine Großeltern als Teile von Doppelnaturen: Luc trägt eine alte Frau in sich, die Nonna einen jungen Mann und der Großvater eine junge Frau. Was hat Sie dazu bewogen, diese Figuren praktisch als gespaltene Persönlichkeiten zu gestalten?
M.B.: Ich empfinde Ihre Frage .... Nu, ich bin im Moment verblüfft, weil ich es überhaupt nie als gespalten empfunden habe. Ist es nicht Vielfalt? Ich würde denken, dass Lucs eigene Texte doch... Er schreibt über die Doppelanatur der Grossmutter, weil er sie an ihr am klarsten sieht und zu wittern glaubt, was sich in der alten Frau abspielt. Aber zugleich moniert ja Luc, dass wohl alle Leute sind wie Nonna. Und ich denke es eigentlich auch. Ich frage mich, wie sonst es denn funktionieren könnte, einander zu verstehen. Wäre da nicht ein viel breiteres Potential an Lebens-Möglichkeiten angelegt in der eigenen Person, wären wir gar nie imstande, uns in andere einzudenken. Dann würde strikt nur verstanden, was wir selbst erlebt haben.
L.H.: Also Sie denken, dass dieses Gespalten-Sein eigentlich ein Ganzes bedeutet?
M.B.: Ja, ich meine es zumindest. Auch wenn es als Beispiel überrissen sein mag, aber ich sehe es, wie der Plato-Text suggeriert - ist es im Gastmahl, wo er den Vergleich bringt, Liebespaare seien die Hälften derselben entzweigeschnittenen Frucht, jeder Teil erinnere die verlorene Ganzheit und stehe für das Bedürfnis, endlich wieder ein Ganzes zu werden? Meine Meinung ist eigentlich, dass Mann und Frau Teile des Menschen sind. Und im Mann sowohl als in der Frau, ist der verkümmerte oder abgetrennte Teil des Menschseins weiterhin da, im Gefühl. Eine Art Phantomschmerz. Dass wir beispielsweise in unserer Sexualität festgelegt scheinen, aber - auch da ist nichts so eindeutig, wie wir anzunehmen gelernt haben - der Gegenpol schwingt trotzdem beständig mit. Vielleicht liegt gerade darin das Einverständnis eines Paares begründet. Vielleicht gibt es deswegen zumindest Verständnis füreinander.
L.H.: Aber man muss auch sehen, dass Sie in diesem Roman dieses Gespalten-sein und das Spiegelverkehrte nur aus Lucs Perspektive erklären.
M.B.: Ja.
L.H.: Was bedeutet es dann, dass zum Beispiel die Eltern von Luc nicht auf diese Weise in Teil-Identitäten aufgespalten sind?
M.B.: Weil sie nur am Rande gestreift, nie ins Zentrum des Romans gerückt werden. Sie sind im eigentlichen Sinn Nebenfiguren.
L.H.: Und die Großeltern nicht?
M.B.: Nur die Nonna nicht. Sie ist für mich ein Teil von Luc, oder sagen wir: Sie spiegelt ihn. Und eigentlich erweitert sie mein Spiel der Doppelung um eine weitere Dimension: Nonna bringt das Element jung und alt durcheinander - sie lässt Luc nicht nur zweifeln, ob Mann immer Mann und Frau immer Frau ist - bei Nonna kommt sich Luc oft alt und ausgelaugt vor. Und eigentlich glaube ich, dass Luc, wenn er über Nonna nachdenkt, etwas ganz richtig erfasst: Sie hat tatsächlich etwas Junges und Jungenhaftes an sich. Luc moniert beispielsweise, wie anders Nonna ihn doch über Mexiko ausfragt, als seine Mutter oder sein Grossvater. Luc spürt, dass sie sich immerzu vorstellt, selbst auf Reisen zu gehen, selbst im Schlafsack zu übernachten, am Strand, vielleicht. Die Nonna trägt Lucs Sehnsucht nach Aufbruch in sich, sie möchte sich ein neues Leben heranholen. Und weil sie dazu rein körperlich nicht mehr in der Lage ist, soll Luc es an ihrer Stelle wagen. Deswegen muss er Nonna haarklein berichten, muss sie alles präzis nachvollziehen lassen, sie will jedes Détail verstehen. An einer Stelle mahnt Nonna übrigens vor der Flut, nachts, am Strand. Worauf Luc sie korrigiert mit dem Satz: "Aber du warst doch gar nie am Meer". Nonna gibt zur Antwort: "Aber ich kann es mir vorstellen."
Ja, ich selber werde im Grunde genommen je älter ich werde desto skeptischer, ob wir nicht gesellschaftlich zu gut konditioniert sind, uns immer nur als Frau und weiblich - oder aber als Mann und männlich - verstehen zu wollen und uns also einem gesellschaftlichen Diktat unterziehen. Das andere wäre sehr wohl in uns angelegt.
L.H. Bei den Eltern - Sie sagen zwar, sie sind Randfiguren - aber Sie haben ihnen diese Teil-Identitäten gar nicht gegeben, ich habe das so verstanden, eigentlich, dass sie innerlich fast tot sind, also sich nicht mit dem oder der anderen in sich selbst auseinandersetzen.
M.B.: Vielleicht könnte man sogar noch weitergehen und sagen, die Großeltern gäben als Paar auch nicht eben ein Abziehbildchen fürs Poesiealbum ab. Sie sind, banal gesagt, nicht unglücklich. Immerhin etwas! Sie gehen sich auf die Nerven, sie gehen nie ineinander auf. Aber trotzdem ist die Beziehung intakt, trotzdem empfinden sie durchaus noch etwas für einander. Sogar in den Auseinandersetzungen - auch Großvater merkt, wenn er zu weit gegangen ist - er weiss nur nie genau in was, aber er akzeptiert wortlos, dass es ‘in etwas’ war. Vordergründig klagt er Nonna zwar an, sie sei ein Feuerteufel, ein italienischer. Innerlich beschäftigt ihn, dass er sie wütend gemacht hat, sie ist ihm ganz und gar nicht egal geworden im Laufe der Jahre. Er verteidigt sich der Spur nach, aber im Grunde nimmt er Nonna ernst, ihr Tadel trifft ihn.
L.H.: Also es ist noch eine Beziehung da.
M.B.: Ja, etwas ist noch intakt in Sachen Verständigung. Luc erklärt es sich selber ja damit, dass es nun ‘überkreuz’ funktioniere: Das junge Mädchen im Grossvater und der junge Mann in der Nonna redeten jetzt zusammen, bloss die beiden Alten, die hätten sich nichts mehr zu sagen. Das junge Mädchen und der junge Mann, die schäkern zuweilen sogar zusammen, sozusagen spiegelverkehrt zur Jugendzeit. Oder der Grossvater - er muss ja jetzt haushalten lernen! - hört sich den Politsermon der Nonna an - sie ist ein feuriger Idealist, der dem Grossvater nur ein Kopfschütteln abnötigt. Und Nonna schaut dabei skeptisch zu, wie ungelenk er den Tisch deckt: "Wie ein junges Mädchen, so dumm hab ich mich allerdings nicht mal mit Fünfzehn angestellt.“
L.H.: Ich hab das so verstanden, dass er sich auf diese Art wehrt, Haushaltpflichten zu übernehmen.
M.B.: Das kann man durchaus so verstehen, aber er ist einfach ungeschickt, überfordert auch, wenn man so will.
L.H.: Sie haben gesagt, die Eltern sind Randfiguren.
M.B.: Richtig, da sind wir stecken geblieben. Oder sagen wir: Die beiden Ur-Alten haben sie an den Rand gedrückt. Sie also sind zum Teil noch intakt. Und die Jüngeren, die Eltern von Luc, die sind im Grunde genommen kaputt, beide. Und sie sind, glaube ich, an ihrer Nicht-Beziehung kaputt gegangen. Ihre unterschiedliche gesellschaftliche Herkunft wurde allmählich zur Divergenz, die nicht einmal mehr eine Art modus vivendi zuliess. Eigentlich sind beide nur gleich unglücklich in dieser Ehe, die kein Zusammenleben wurde. Da glaube ich übrigens, man könnte die Theorie wagen, dass - wenn eine Ehe gründlich genug zerrüttet ist - die Frau keine Lust mehr hat, sich mit dem Mann in sich zu identifizieren, und umgekehrt der Mann keine Lust, die Frau in sich zu sehen. Dann wird die Frau doppelt Frau, und der Mann doppelt Mann.
L.H.: Das ist ein sehr interessantes Konzept. Aber am Schluss, ich frage mich, können sie erlöst werden? Am Ende des Romans erscheint Luc ja für mich als Jesus-Figur. Besteht da ein direkter Zusammenhang. Ist er praktisch für sie gestorben?
M.B.: Für seine Eltern? Nein, das war nie in meinem Kopf. Ob sich etwas in diese Richtung verselbstständigt hätte im Roman, können Sie als Leserin besser beurteilen. Aber als Autorin hatte ich keinen Opfergedanken bei Lucs Tod.
L.H.: Warum haben Sie ihn dann als Jesus-Figur mit diesen ausgebreiteten Armen geschaffen?
M.B.: Ich habe es nicht gewusst. Ich wurde durch eine Rezension überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht. Ich bin mir demnach nicht sicher, ob es ein guter Schluss ist. Er hat sich ergeben, aus dem Bild selbst. Was ich eher sehe in Luc: dass er eine geschändete Natur ist - das war Christus auch. Eine hingemachte Kreatur, eigentlich.
L.H.: Der Vater und der Großvater werden von der Nonna ausdrücklich als "Ausgestopfte" bezeichnet. Von den männlichen Figuren, außer Luc -
M.B.: ...daran habe ich mich nicht mehr erinnert. Eben habe ich eine Erzählung abgeschlossen: ‚Die Ausgestopften’. Diese Parallele zu ‘Die Stunde, da wir fliegen lernen’ ist mir entgangen.
L.H.: Es ist ein ganz ausgezeichneter Ausdruck, man kann sich ein sehr gutes Bild machen von einem "ausgestopften" Menschen. Von den männlichen Figuren, außer Luc, scheint eigentlich nur der geistig behinderte Gottlieb, resp. Liebel zu leben, er freut sich an seinem Dasein. Warum haben Sie diese Figur geschaffen?
M.B.: Sie war jahrelang in mir drin. Schon meine Eltern hatten das Ferienhaus in Sigriswil und es gab einen Liebel im Dorf, ich habe ihn als Kind oft gesehen, damals hat er mich zum Teil geängstigt. Im Laufe der Jahre habe ich unmerklich Seite gewechselt ihm gegenüber: Ich empfand allmählich mütterlich. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Entweder ist er heute steinalt oder gestorben.
Der Sigriswiler-Liebel hat auch einen Schlitten nachgezogen im Sommer, ich weiß noch, wie es mich nicht nur amüsiert, sondern auch beeindruckt hat, seine gottergebene Einfalt, die sich in diesem Bild jählings auftat. Und dass Liebel im Dorf toleriert war und alle ihn kannten, und er gleichzeitig überhaupt nie dazugehörte - das hat mich beschäftigt. Also dieses Eingedrängt-sein, wenn man so will, oder sagen wir dieses Gespalten-sein: Dass Liebel einerseits etwas ausmachte am Dorf als Dorf, und andrerseits selbst keinen Zugang zum Dorf hatte. Er war in sich selber, in seiner eigenen Welt gefangen: Vielleicht, dass er auch gehalten war darin. Viel später hat mich an ihm berührt, was Nonna berührt hat, als Luc nicht nach Hause gekommen ist. Alles und alle geraten ausser Kurs, und Liebel lebt unverwandt weiter. Er beweist Nonna die unglaubliche Kraft des Lebens zu sich selbst, es scheint an sich zwecklos, nichts was wir drüber zu denken vermögen, stimmt, und doch ist Liebel noch da, und ein gewisser Trost geht von ihm aus.
L.H.: Er freut sich am Täglichen, am Lebendig-sein.
M.B.: Ja, das macht ihn recht eigentlich aus. Er hat natürlich auch Ängste, massive Ängste sogar, er kann sich mit der Vernunft nicht helfen. Als der schwarze Hund beispielsweise an ihm hochspringt, nicht? Diese absolute Panik, dieses Sich-verdrehen aus lauter Angst. Der Hund meint es gut.
L.H.: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass - abgesehen von seinen Ängsten - er sich so täglich freut auf diese Weise? Und sonst ist eigentlich niemand im Roman, dem man diese Freude anmerken kann am Lebendig-sein. Oder gehe ich hier zu tief, sehe ich mehr als eigentlich da ist?
M.B.: Nein, nein. Ich glaube, dass das ganz Kreatürliche immer eine Freude ist. Liebel hat ja etwas beinah Pflanzenhaftes an sich. Ich empfinde es so, und es löst in mir selber Lebensfreude aus, ich kenne solche Pflanzen-Zustände durchaus. Auch, dass sie ständig bedroht sind zu kippen oder gestört zu werden: durch intellektuelle Anspannungen, durch Ereignisse, durch Arbeitsdruck. Todesangst kennen wir auch alle - bloss meine ich nicht die Panik Liebels, als der Hund kommt und er sich bedroht glaubt - ich meine unsere rein gedankliche Todesangst, wenn wir uns der eigenen Endlichkeit bewusst werden, dem eigenen Tod entgegen sehen, und doch empfinden wir dabei unsere Lebendigkeit, wir vermöchten ja ohne Leben gar nicht an den Tod zu denken. Gerade diese Konstellation macht unsere Todesangst beklemmend und theoretisch zugleich. Das kennt Liebel nicht. Wenn ihm nichts wehtut, wenn er in seinem Skianzug nicht schwitzt, wenn der Hund ihn nicht anspringt, so ist Liebel glücklich, wie der Hund Pizza auch.
L.H.: Sie haben "pflanzenhaft" gesagt.
M.B.: Ja, "pflanzenhaft" ist mir lieber, allein schon wegen der Konnotation - aber ‘pflanzenhaft’ beschreibt den Zustand auch präziser.
L.H.: Ich habe am Anfang dieses Gesprächs festgestellt, dass die jungen Frauenfiguren Entscheidungen treffen, als autonome Figuren auftreten. Es scheint jedoch, dass die ältern Frauen, wie zum Beispiel die Figur der Mutter und die der Nonna, aus Lucs Sicht sehr beengt sind durch ihre Ehen. Gibt es gar keine Hoffnung für die älteren Frauen auf eine Freiheit innerhalb einer Beziehung?
M.B.: Für Lucs Mutter würde ich es verneinen. Auch in Lucs Augen hat sie keine Chance, es irritiert ihn geradezu an ihr, dass sie nicht wenigstens erwägt, auszubrechen. Was die Grossmutter anbelangt bin ich überzeugt, dass sie Freiheiten hat. Sie "fliegt" ja auch. Sie hat nach Lucs Auffassung beinah anarchische Charakterzüge - und in einer Szene versieht er Nonna mit magischen Kräften. Er stellt sich vor, dass sie ihren roten Schal ausspannt wie Vogelschwingen und plötzlich von der Baumspitze herunter redet. Nonna imponiert Luc ja zum Teil allein schon, weil sie trotz ihrer Hinfälligkeit Kraft zeigt, eine ungebrochene Vitalität. Ich empfinde die Figur höchstens eingeschränkt durch ihr Alter, aber nicht wesentlich. Deshalb kann ich Ihre Frage, was die Nonna anbetrifft, nicht ganz nachvollziehen. Gewiss, ihr Haus mit dem riesigen Garten ketten sie an - das kann man sehr wohl als Einschränkung nehmen - aber andererseits sind Haus und Garten zugleich ihr Reich. Da herrscht sie, vielleicht so, wie nur Frauen zu herrschen verstehen. Nonna beschreibt es selbst: sie kenne alles in ihrem Garten. Und in der Tat weiß sie alles, spürt unwillkürlich auch, was sich unter der Erde tut, es überträgt sich auf Nonna: der Frühling kommt. Sie hat einen Zugang zu ihrem Reich, den niemand ihr streitig machen kann, und sie wehrt sich ja auch gegen das ‘Ingenieur-Denken’ ihres Mannes. Es imponiert ihr zwar, gerade weil es ihr verschlossen bleibt - Nonna kann nicht denken wie Grossvater. Aber sie hält dagegen mit ihrem ‘Garten-Denken’ und verteidigt es: „Ach, Karl. Immer hast du recht. Habe ich unrecht deswegen?“ Nonna ist eigentlich am Punkt angelangt, sich zu sagen: "Er hat seine Welt, ich habe die meine." Für mein Dafürhalten wiegelt Nonna nicht ab, sie gewichtet.
L.H.: Ja, ja. Also, es ist mehr die Mutter, die eingeschränkt ist, die hat es nicht geschafft, nicht wahr, frei zu werden?
M.B.: Nein, sie bleibt gefangen. Man könnte beinah sagen: weil sie eine Rechnerin ist. Wenn sie den Mut hätte, Don Carlos zu verlassen, müsste sie ja auf eigenen Füßen stehen. Höchst unbequem! Besonders für eine Frau ohne Beruf und mit dem Standard-Satz: „Cashemere, c’est pour la vie.“ Lucs Mutter scheint zu dieser Ehe verdammt, weil sie nie auf Komfort verzichten will. Für mich jedenfalls, scheint es auf der Hand zu liegen, dass sie des Vermögens wegen bei Lucs Vater bleibt. Wahrscheinlich ist sie seit dem Hochzeitstag nur ‘geblieben’ - es ermöglicht ihr die Selbstbelügung und zugleich die Demütigung Don Carlos’. So schwärmt sie doch von ihren Freundinnen, die es geschafft haben, die arbeiteten und Karriere machten - natürlich waren sie samt und sonders alleinstehend. Das ist ja Teil der ganzen Litanei von Lucs Mutter: dass sie einmal falsch gewählt habe.
L.H.: Aber die jungen Frauen in diesem Roman haben es geschafft oder werden es schaffen, freier zu sein? Bezahlen sie diese Freiheit durch persönlichen Verlust, wie zum Beispiel Leni, die ihre Schwangerschaft unterbrechen lässt, oder Susanne, die sich vom unreifen Luc trennt, oder Annemie, die eben ihre Gefühle hinter einem Panzer versteckt, um nicht zu leiden?
M.B.: Auf die Annemie-Figur möchte ich gerne etwas näher eingehen, Sie haben ja gleich zu Beginn eine Frage gestellt in Zusammenhang mit Annemie. Ich finde, Ihre Interpretation der Figur entspreche nicht meinem Gefühl, dem entlang ich geschrieben habe. Sicher, Annemie verschanzt sich in ihrem Gefühlspanzer, aber die Figur scheint mir vieldeutiger angelegt. Vor allem würde ich meinen, Annemie sei verletzt worden.
L.H.: Von wem?
M.B.: Ihr Freund hat sie kürzlich verlassen, fies bis mies, offenbar - Luc wird schon aggressiv, wenn er nur drüber nachdenkt. Aber er ist sich nicht bewusst, dass er Annemie selbst nie wahrnimmt als Frau. Es ‘passiert’ ihm, ihren outfit ironisch zu mustern, aber Luc ist sich nicht im Klaren, dass Annemie’s Verhältnis zu ihm ein anderes sein könnte, als seines zu ihr. Und es ist eben anders. Annemie ist im Grunde fasziniert von Luc, er kann differenziert urteilen wie eine Frau, kann sich weich und verletzlich zeigen, aber er missbraucht Annemie. Übrigens seit der Gymnasialzeit. Sie verwahrt sich nicht eigentlich dagegen, dass Luc in ihrer Wohnung schlafen und mit seinem Hund ein Weilchen bei ihr hausen würde. Sie verwahrt sich dagegen, einmal mehr die Dumme zu sein, Motto: "Jetzt läuft’s mal wieder schief mit deinen Weibern, also fällt dir stante pede Annemie ein, dein guter Kumpel, amen." Was eigentlich abläuft in Annemie, oder gar, wie es sich anfühlt, zum Kumpel gestempelt zu werden, das kümmert Luc keinen Deut - just das ist es, was Annemie weh tut. Und demütigt. Besonders in der Sequenz, wo sie dieselbe Geste macht, von der Luc nach seiner Reise stundenlang gefaselt hatte, wie ursprünglich und ergreifend dieses Liebeszeichen gewirkt habe.
L.H.: Das war die Szene...
M.B.: ... in Mexiko, zwischen zwei alten Frauen: Die eine hatte der andern die Hand auf die Schulter gelegt, und die andere ihre Wange an die Hand geschmiegt. Nun schmiegt also Annemie ihr Gesicht an Lucs Hand - als gestisches Zitat, sozusagen - er erkennt es mitnichten. Luc assoziiert ja überhaupt nichts Zärtliches mit Annemie. Weil sie eine andere zu sein hat für ihn, sie ist sein Haudegen, wahnsinnig klug, zum Kotzen tüchtig - alles, was er selbst nicht ist. Also muss er ihr flugs noch etwas auf den PC schreiben, das ihr beweist, wie viel brillanter er wäre. Ich denke, da ist auch jemand verletzt worden: Lucs Macho-Stolz, beispielsweise. Als Gegenstück dazu empfinde ich das Kapitel, wo Annemie sich vorstellt, wie sie schreiben wird über ‘Den vergesslichen Engel’ von Klee, ganz allmählich rutscht sie ab in die Beschreibung ihres unbewussten Kinderwunsches: ‘Ein einfacher, unbeholfener Mensch bräuchte es bloss zu sein, nur ein Menschlein.’ Annemie beschreibt zwar noch immer den Engel, der sich schüchtern in seine Flügel einschlägt, sie schreibt auch über ihn, wenn sie Luc, den Vergesslichen, beschreibt. Sie geht nicht einmal vor sich selbst so weit zu sagen: "Ich möchte ein Kind von Luc."
L.H.: Die beiden älteren Frauenfiguren in 'Die Stunde, da wir fliegen lernen', die Mutter von Luc und die Nonna, sind wichtig für den Protagonisten Luc, sie haben jedoch keine zentralen Rollen. In ‚Die Wortfalle’ steht die Protagonistin Otti an der Schwelle zur Frau mittleren Alters, ich denke sie ist in den Wechseljahren, ein wichtiger Schritt für Frauen. Auch die Figur Hetti aus der Kurzgeschichte 'Lady Macbeth wäscht sich die Hände nicht mehr', jetzt ja auch ein Theaterstück, ist nicht mehr jung. So hin und wieder treten also in Ihren Texten auch ältere Frauen auf. Was reizt Sie an der Figur der älteren Frau?
M.B.: Vieles! Erstens werde ich selber älter und was mich als Autorin daran interessiert, ist: zu registrieren, wie es de facto vor sich geht, was es jetzt schon heisst und noch zu heissen beginnen wird. So frage ich mich zum Beispiel: Was bringt es mir wohl für neue Möglichkeiten, alt zu werden - ich meine ‘neue Möglichkeiten’ in diesem Zusammenhang absolut gesetzt, also: Welche neuen Sichtweisen werden sich mir auftun? Was wird mir erst möglich zu schreiben dank - sagen wir mal: meiner Lebenserfahrung? Was, durch das Zusammenleben, das lange, mit meinem Mann? Was, durch das Zusammenleben mit unseren Kindern? Ermöglicht mir meine Vergangenheit etwas zu sehen, das ich vorher nicht sah, es gar nicht sehen konnte, weil ich involviert war und nicht erfasst habe, was mir zustiess? Und zweitens denke ich, dass mir allmähliche Verschiebungen bewusst werden: Was bedeutet denn zum Beispiel nach sechzig ‘körperliches Abenteuer’? Sport hat in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert, dass praktisch jeder sich trimmt oder zumindest joggt. Auch Frauen trainieren, dass einem Hören und Sehen vergeht - einfach toll. Das finden ja auch alle, es wird geschwärmt von Lebensgefühl, von Abenteuer und was der Herrlichkeiten mehr sind. Bloss scheinen wir ein neues Tabu zu haben: Sind die Alten nicht vom selben Lebensgefühl erfasst, wenn sie es beispielsweise schaffen, ihren gewohnten Weg mit einer Krücke zu bewältigen, oder ihre täglichen Einkäufe am Rollator zu besorgen? Das scheint nichts mit Sportlichkeit zu tun zu haben und nichts mit Trimmen. Das gilt noch nicht mal als ‘Körpergefühl’. Da haben wir alle nur Angst davor: "Was würde aus mir, wenn mein Körper nicht mehr funktionierte wie gewünscht, wenn ich nicht einmal mehr imstande wäre, alles, was ich immer getan habe, gleicherweise zu tun?" Frage: Ist denn nun Bungi-Jumping das grössere Abenteuer oder altwerden? Es ist keine rhetorische Frage. Ich vermute nur, es braucht mehr Mut, sich ohne wenn und aber aufs Alter einzulassen, als sich 50 Meter in die Tiefe sausen zu lassen - vor allem dauert es länger.
In ‚Die Stunde, da wir fliegen lernen’ kommt das alte Fräulein Pasch vor. Sie insistiert übrigens, nicht mit Frau angesprochen zu werden - ihr Intimleben binde sie keinem auf die Nase. Luc sieht ihr vom Restaurant aus entgegen, er bewundert, wie unbeirrt sie ihren Kurs hält und am Stock doch sorgsam Schritt vor Schritt setzen muss. Fräulein Pasch hält ihren Zeitplan Tag für Tag ein, wie ein Ührchen. Luc sieht die Maîtrise, die Fräulein Pasch erlangt hat im Umgang mit ihrem Gebrechen. Er selbst hat noch nicht mal Maîtrise im Umgang mit seiner Vollkraft. Er wird mit sich selbst nicht fertig, und das hinfällige Fräulein kommt mit sich und der Welt zurecht. Sie ist Luc eigentlich - und er empfindet es durchaus so - Fräulein Pasch ist ihm auf der ganzen Linie überlegen.
L.H.: Was sie eigentlich auch sein sollte, kraft ihres Alters.
M.B.: Die Frage ist bloss, ob sie überlegen ist dank längerer Kampferfahrung oder dank der Unbekümmertheit, sich zu blamieren? Ich vermute nämlich, das könnte das eigentliche Abenteuer des Alters sein: Frei zu kommen von seinen gesellschaftlichen Ängsten, sich einen Teufel zu scheren, wie und was die anderen von einem denken. Um ganz persönlich zu werden: Mich wundert, wer ich dann wäre? Würde ich mich politisch neu ausrichten, politisch zumindest profilierter denken als heute? Welche Beziehungen würde ich von einem Tag auf den andern abbrechen und welche ganz bewusst suchen? Wen würde ich ohne Rückhalt zu lieben wagen? Kurz und gut: Vielleicht machen wir uns die falschen Sorgen, punkto Alter.
Die bösartige Umpolung von dem, was ich eben sagte, wäre wohl der Witz: "Wie spannend, Alzheimer zu bekommen, da lernst du jeden Tag neue Leute kennen". Luc schreibt einen Text, wo der Begriff ‘an Kindesstatt kommen’ allerdings etwas anderes heisst: Der Kreis schliesst sich, alles geht wieder ineinander über, wie bei der Geburt. Luc löst auch die Begriffe männlich und weiblich auf in diesem Kreislauf, er beschreibt, wie er selbst ein uraltes Weiblein in sich getragen habe als Säugling. Im Laufe der Jahre seien das Bübchen und das Weiblein aufeinander zugewachsen - sie wieder rüstiger, er stetig kräftiger geworden, aber erst im Zenith würden sie beide genau gleich alt sein und sich innerlich die Waage halten. Von da weg würde er immer älter und hinfälliger und die Frau immer jünger und kindlicher werden, bis sie als Säugling schliesslich ein Greis namens Luc wäre.
Tatsächlich trifft man Lucs Text ja in der Realität bestätigt: Auf einer Säuglingsstation und im Alters-Pflegeheim herrschen parallele Zustände körperlicher Abhängigkeit. Und im Roman sieht Luc sozusagen die Nach-Zenith-Bewegung bei seiner Grossmutter: Nonna ist in gewisser Weise schon hinfällig. Luc tut es leid, ihre kranken Füße samt obligatem Pflaster zu sehen, er realisiert auch, dass Nonna an und für sich nicht mehr ganz ‘auf dem Damm’ ist. Aber sobald sie zusammen reden, spürt Luc ihre Jugendlichkeit, die sich im Kopf holt, was der Körper nicht mehr leisten kann. Da ist es wieder: das Kopfabenteuer, auf das ich hoffe! Eigentlich nimmt es im Alter zu, weil man unerschrockener denkt.
L.H.: Man hat weniger zu verlieren?
M.B.: Ich zweifle, ob es nicht sogar umgekehrt ist: dass man mehr zu gewinnen hat. Nehmen wir an, die Enge im Denken würde aufgegeben - sie hat ja immer mit dem Selbstbild zu tun, das man nicht loslassen kann. Dann hiesse der Standardsatz der Frauen meiner Generation nicht länger: "Mein Gott, ich hab doch nicht etwa männliche Seiten in mir!", sondern er würde zur sachlichen Frage, und was ein Leben lang tabuisiert blieb, könnte endlich zu Tag gefördert werden. Dann, allerdings, müssten wir unser Selbstbild um-malen, und unter Umständen würde auch unserer Sexualität davon tangiert. Am Beispiel der Männer lässt sich die Tragweite dieses gesellschaftlichen Tabus beinah deutlicher ablesen: die männliche Angst vor eigener Homosexualität, oder nur schon vor homoerotischen Regungen. In der Schweiz ist es Männern derart eingebrannt, dass sie sich gar nicht erst anfassen. Im Süden Europas dagegen herrschen andere Sitten, da gehen auch Männer Arm in Arm wie Frauen, sie umarmen sich auch in aller Öffentlichkeit. Zur mitteleuropäischen Verkrustung gehört der Sprach-Reflex: "Mein Gott, das würde mich widern“. Stimmt es deswegen? Haben sogenannt ‘normale’ Männer tatsächlich keinerlei Gefühlsregungen fürs eigene Geschlecht? Aber natürlich haben sie! Deswegen ja ihre massiven Ängste. Ich vermute, erst mit fortschreitendem Alter kann sich bei Schweizern überhaupt eine gewisse Gelassenheit der Frage gegenüber, dem eigenen Selbstbild gegenüber, einstellen. Dann weicht die anerzogene Panik einer inneren Freiheit, auch tabuisierte Gefühle zuzulassen.
L.H.: Könnten Sie sich also vorstellen, einen Roman zu schreiben, in dem die alte Frau eine zentrale Rolle spielt?
M.B.: Das könnte ich mir gut vorstellen.
L.H.: Werden Sie es tun?
M.B.: Ich weiß immer nur schemenhaft, was ich schreiben werde. Eigentlich gerate ich erst durch den Schreibvorgang selbst in die Thematik hinein, sozusagen von Satz zu Satz tiefer. Manchmal nehme ich einen liegen gelassenen Faden wieder auf, eine Idee, die ich in einer vorherigen Arbeit nur angetippt habe. Offenbar verselbstständigt sich einiges im Unbewussten - wie das Beispiel der ‘Ausgestopften’ vorhin zeigte. In dieser Erzählung ist das Wort Nonnas, ihr Mann sässe da wie ein "Ausgestopfter", zum eigentlichen Thema geworden: Eine Frau - es ist eindeutig eine ältere Frau - geht ins Naturhistorische Museum, betrachtet die ausgestopften Tiere und kehrt dann nach Hause zurück. Als sie die Tür aufmacht, überfällt sie der Eindruck, ihr Ehemann in der Sofaecke sitze ausgestopft hinter seiner Zeitung, vielleicht laufe auch zu Hause nur ein Tonband, wie in der Abteilung Vögel im Museum: er rede gar nicht wirklich. Die letzte Konsequenz ist dann, dass die Frau sich fragt, ob ihr Mann nicht erleichtert wäre, wenn sie selbst ausgestopft im Salon sässe.
L.H. Weil sie noch lebt?
M.B.: Und gegen den Ehe-Alltag rebelliert. Sie realisiert, auf was ihr Mann deswegen immer verzichten musste. Liesse er sie ausstopfen, hätte er endlich das Gegenüber, das er wollte. (Zitat): "... Liebe ohne Worte. ( ) Womöglich in einem Rock, vielleicht gar mit übereinandergeschlagenen Beinen, endlich kämen die Fesseln zur Geltung. Und damit nicht zu sehen wäre, dass mir Glasaugen eingesetzt worden waren, drückte mir der Präparator das Kinn leicht gegen die Brust - so würde ich mich schämen, in Ewigkeit; allerdings könnte ich auch lesen, was ich ewig verpasst habe zu lesen, ja, man legte mir ein aufgeklapptes Buch in den Schoss, Liebeslyrik.“
L.H.: Nun habe ich noch eine ganz andere Frage. Ich möchte auf das Motiv des Spiegels zu sprechen kommen: Bei seinem Auszug aus Susannes Wohnung überlegt sich Luc, wem in Zukunft das Spiegelbild gehören würde, d.h. er denkt über seinen möglichen Nachfolger nach. Im Kurzroman ‚Das Werk oder Doña Quichotte’ hält die Protagonistin Anna ihrem Mann einen Spiegelscherben vor, der den Konturen ihres Gesichts entspricht. Sie möchte, dass er sich in diesem Spiegel und damit in ihr, spiegelt…
M.B.: Nein, dass er sich in ihr sieht.
L.H.: …dass er sich in ihr sieht?
M.B.: Na ja gut: dass er sie zur Kenntnis nimmt wie sich selbst.
L.H.: Was bedeutet dieses Spiegelmotiv?
M.B.: Ach, wenn Sie doch einen Germanisten fragen wollten!
L.H. Sie sagen: „.. dass er sich sieht“. Was kann er sehen?
M.B.: Sich selbst!
L.H. Anders, als er sich sonst sieht, wenn er sich in einem normalen Spiegel spiegelt?
M.B. Die Umrisse des Spiegels entsprechen exakt Annas Kopf. Wenn Stefan hinein blickt, sieht er sich selbst entgegen und wird gleichzeitig Teil des Bildes. Natürlich ist es einfacher, zu sagen: er spiegelt sich, und richtig ist es auch. Es führt nur wesentlich weiter, zu sagen: er sieht sich. Man müsste sogar sagen: er sieht sich in Annas Kopf. Meine Idee war, wenn ich mich richtig erinnere - der Text liegt ja jahrelang zurück - die Idee war, dass Anna ein ironisches Autoportrait kreiert, wo sie an Stelle des Gesichts einen Spiegel einsetzt. Sobald Stefan das Bild betrachtet, erscheinen ergo seine eigenen Gesichtszüge im Spiegel. Damit kann Anna ihrem Mann sinnfällig machen, dass sie ihn einbezieht in ihre Arbeit, dass er Teil ihrer Bilder wird, wenn er sie überhaupt betrachtet.
L.H. Annas Gesicht ist ein Teil des Kunstwerks, mit dem sie sich ihrem Mann darstellt. Er soll sich also nicht nur in ihr, Anna, spiegeln, sondern in ihr als Hausfrau. Es ist ja eine ästhetisierte Hausfrau, die sie gemalt hat.
M.B.: ...die Doña Quichotte...
L.H. ...ja, möchte sie, dass er sich in ihr spiegelt und sie sieht, auch als verhinderte Künstlerin? So hat sie sich ja dargestellt.
M.B.: Sie stellt sich dar als eine, die nirgends und bei niemandem als Malerin ‘durchgeht’. Aber Anna malt ja das Bild trotzdem. Sie malt also ihre eigene Schreckensvision! Sobald der Mann sich drin erblickt, würde er sich selber abstossen. Dann würde er, wenigstens auf einen Augenblick, verstehen was es heisst, sein eigenes Gesicht permanent entstellt zu sehen.
L.H. Aber er kann es nicht.
M.B.: Nein. Er will es vor allem nicht. Ich denke, dass sich Eindenken zu wollen in die Partnerin oder den Partner, eigentlich schon Liebe-machen ist. Es ist ein aktiver Akt, sich in sein Gegenüber einzufühlen, um es auf einen Augenblick total zu verstehen. Von da weg kann man sich nie mehr gleich heraus halten wie vorher. Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Wenn Ihr Mann versteht, für Augenblicke haargenau versteht, was für Ansprüche Sie an sich selbst stellen, dann kann er mit diesen Ansprüchen nicht mehr gleich umgehen, wie zu Zeiten, als er einfach zuhörte, was Sie arbeiten wollen. Da hätte er vielleicht fragen können: "Heisst das, daß Du von acht bis 12 nicht erhältlich bist? Muss ich selber kochen?" - oder was der schönen Organisationsfragen mehr sind. Aber wenn er tiefer geht, wenn er verstehen will - vielleicht gar nicht die Arbeit selbst, die Sie machen, das ist an sich unwesentlich - aber den Anspruch, den Sie dabei haben an sich - das heisst in letzter Konsequenz, was Sie aus Ihrem Leben machen möchten. Meistens geht es ja um etwas ganz Irrationales.
Annas Mann argumentiert aber immer auf strikt rationaler Ebene. Würde sie ihm sagen: "Ich möchte Bilder malen, damit ich berühmt werde", könnte er’s einigermaßen checken. Und erst recht, wenn sie sagte: "Ich möchte Bilder machen, die sich verkaufen, damit ich mein Geld selber verdienen kann" - das sind lauter reale Gründe. Und Stefan kann sich sagen: „Viele Wege führen nach Rom. Ich, der Ehemann, habe den Weg als Vertreter eingeschlagen, sie den Weg als Malerin - alles okay." Aber wenn es um etwas ganz anderes geht? Wie kann denn verstanden werden, dass jemand etwas machen will, ohne ein festumrissenes Ziel angeben zu können, ausser vielleicht, dass es keinem Zweck dienen wird?
L.H. Eben, er versteht sie absolut, wenn sie Kunsthandwerkerin ist. Wenn sie Künstlerin ist - das versteht er nicht.
M.B.: Und sie unterwandert das Verständnis beharrlich. Anna fügt sich dem Diktat des Mannes nur scheinbar, sie klemmt sich zwar gutwillig hinter die Marionetten-Fabriktation, Motto ‘Dann eben! Mit Puppen ist er wenigstens einverstanden.’ Aber über kurz oder lang flippt sie in der Arbeit aus, ihre eben noch leicht verkäuflichen Objekte werden gigantischer und je länger je verrückter, und auf einmal ist Anna wieder versessen statt fleissig und will nicht mehr, was doch just vereinbart wurde: dass das Heimatwerk ihre Arbeiten verkauft. Also könnte man sagen: Auf Schleichwegen landet Anna immer wieder im ursprünglichen Konflikt.
L.H. Sollten wir den Männern den Spiegel vorhalten, damit sie uns verstehen?
M.B.: Im Roman erweist es sich ja als müssig. Es genügt eben nicht, den Spiegel ins eigene Bild zu komponieren. Ich weiss nicht einmal, ob es vom richtigen Verständnis des Begriffs ‘Beziehung’ ausgeht, dem Partner einen Spiegel vorhalten zu wollen. Beziehung ist für mich eigentlich eine fortgesetzte Bildzertrümmerung. Oder sagen wir: Es bedeutet ein Leben lang für beide, sich in der Vergangenheit ein falsches, ein halbherziges Bild vom Partner gemacht zu haben, ihn jetzt aufs Neue kennen lernen zu müssen und zusammen von vorn anzufangen. Schön wär’s! Der Winterschlaf ist billiger zu haben. Ich frage mich übrigens, ob die Zeiten des Stillstands nicht auch als richtig, sozusagen als Naturphänomen der Beziehung selbst, zu akzeptieren sind. Es gibt keine konstante Entwicklung, man kann die Zeiten sogenannter Harmonie noch nicht einmal willentlich kopieren, manchmal kommt es mir höchstens zyklisch vor, wie die Schwankungen in der Natur: Ebbe wechselt mit Flut, beispielsweise, oder die Zeiten der Brunft wechseln mit Zeiten des Sich-meidens. Frage ist eigentlich, ob die Partnerschaft stark genug ist, die beständigen Wechsel hinzunehmen - oder ob eine Hälfte ausbricht, um mit einem neuen Partner, einer neuen Partnerin auf Bildersturm zu gehen.
L.H. ... oder sie müssen lernen zu akzeptieren, dass es die Winter- oder Brachzeit eben gibt.
M.B.: Ja, auch eine gewisse Unängstlichkeit gehört dazu, eine Art getrost bleiben, dass Neues aus Altem spriessen wird.
L.H. Abschließend möchte ich Sie eigentlich nur noch fragen: Haben Sie ein Projekt in Arbeit?
M.B.: Ja, ich bin an einem Erzählband. Und zwar hat das auch mit meiner gesundheitlichen Situation zu tun. Ich kann nur kurze Arbeitszeiten durchhalten - höchstens ein paar Stunden am Tag - das zwingt mich unwillkürlich zur kurzen Form. Es liegen etwa 110 Seiten im Entwurf vor für einen Roman - die fragmentarische Geschichte meiner Vorfahren. Es müssen in sich geschlossene Portraits werden, die Splitter eines Ganzen sind, und ich sehe, dass mich das im Moment physisch und psychisch überfordert. In einen Roman einzusteigen bedeutet ja, weit über ein Jahr voll absorbiert zu sein mit Schreiben, da darf es zu keiner grösseren Unterbrechung kommen, sonst geht nicht nur der eigentliche Impetus verloren - man riskiert auch gleich, den Überblick auf die Figuren-Konstellation zu verlieren. Ich kann aber höchstens verzettelt arbeiten, alle paar Tage ein paar Stunden. Erzählungen sind leichter überschaubar. Da kann ich mir sagen: Es reicht, heute die eine kleine Episode zu Ende zu schreiben und morgen nehme ich die nächste in Angriff, oder eben übermorgen.... Sicher ist eine psychische Komponente mit im Spiel, dass ich mir im Moment gar nicht erst zutraue, eine lange Arbeit durchhalten zu können, immer fürchte ich, gesundheitliche Mishaps könnten mich aus allem wieder heraus reissen. Ich kann die übliche, eiserne Arbeits-Disziplin keine Woche lang durchhalten. Das irritiert mich. Immerhin geht es mir schon besser, es fängt schüchtern wieder zu blühen an, vielleicht ist die Brachzeit überhaupt vorbei.
