Vater konnte kein Wort Italienisch. Und doch herrschte bei uns Zweisprachigkeit, auf gut Deutsch. Vielleicht, weil Mutter aus einem Guss war: tatkräftig, schweizerisch, aus bester Familie. Und Vater war zur Hälfte italienisch, zur Hälfte österreichisch und im Grossen und Ganzen unehelich.
Sobald ich reden konnte, versuchte ich mich als Übersetzerin zwischen den häuslichen Fronten. Hätte ich mich je entschieden für die eine oder andere Sprache, so würde ich heute vermutlich nicht schreiben. Aber Vater war ein Revolutionär, der sich nicht zur Handlung bringen konnte. Das weite Feld der Wirklichkeit hat er Mutter geräumt: sie hat uns erzogen, sie hat für uns Zukunftspläne gemacht, sie hat die Familie zusammengehalten. Und Vater saß regungslos am Schreibtisch und drehte Buchseiten. Er hat sein Leben verlesen, wie andere es vertrinken. Ganz still hat er dagesessen und trotzdem die ganze Familienwirklichkeit in die Luft gesprengt. Oder ist Lesen etwas anderes als Rebellion gegen die Realität? Wenn ich schreibe, zettle ich jedenfalls Widerstand an – da bin ich ganz sicher.

Maja Beutler



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