Vorträge und politische Publikationen | ||||
Ohne Träume tritt die Zeit an Ort
1985 |
Ich habe drei heute erwachsene Kinder. Aber ich begann zu schreiben, als sie noch in den Kindergarten gingen. Mein Gewissen war eigentlich ein Hautausschlag. Es juckte mich andauernd. Öffentliche Anerkennung ist zwar keine schlechte Salbe nur hilft sie nie lang.
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Referat vom 14. August 1985 zur Vorlage des neuen Ehegesetzes, gehalten am Wissen Sie, was eine Hausfrau ist? Die italienische Filmregisseurin Lina Werthmüller hat es in einem Interview gesagt: „Sie ist die Dritte Welt des Mannes.“ Eigentlich sitzen wir also heute zusammen, um über ein bisschen Entwicklungshilfe zu diskutieren. Hoffen wir, dass sie kommt, im September. Bescheiden genug haben wir ja gefordert. Es fällt mir auf, dass die ganz jungen Frauen sich wieder viel weniger eigenständig zeigen als noch die 25- oder 30jährigen. Sie planen eine Karriere der Spur nach, halbbatzig, das heisst, sie richten sich innerlich schon darauf ein, dass sie ihr Selbstwertgefühl nicht aus dem eigenen Beruf ziehen werden, sondern aus ihren Partnerschaften. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ausser Schaumschlagen nichts läuft, nichts mehr. Oder sehe ich vielleicht zu schwarz und zu einseitig? Tatsache ist jedoch, dass meine Generation zurückgepfiffen ist. In der SRG, wo ich als freie Mitarbeiterin tätig bin, sind bei der letzten Reorganisation die beiden Chefsessel einfach verschwunden, die von Frauen besetzt waren. Man hat gespart, natürlich, auch in anderen Abteilungen. Aber vor allem hat man sich keine Minute auseinandergesetzt mit der Frage, ob nicht wenigstens EINE Frau noch mitmischen sollte an der Spitze. Die Zeit der Alibiberufungen von Alibifrauen ist ganz eindeutig zu Ende. Auch in den Parteien. Der Fall Leni Robert in Bern ist sogar ein Beispiel dafür, wie es einer Frau geht, die sich ihr politisches Revier nicht ausstecken lassen will. Ich denke, dass er ein Signal darstellt, das ganz unabhängig von der Partei uns allen gegolten hat. Frauen sind willkommen, und gern hat man sie auch wenn sie nicht ganz Ernst machen - für den Krimskrams. Aber Grundsatzpolitik, also das eigentlich Schöpferische, das will man nicht preisgeben. Es ist eben nicht nur die angespannte Wirtschaftslage, die uns Frauen zurückschlägt. Es kommt mir vielmehr vor, als würde eine geradezu reaktionäre Ungeduld um sich greifen bei den Männern. Sie haben es satt, sich zu allem übrigen Elend auch immer noch mit den Frauen herumzuschlagen. Und Angst haben sie auch vor uns, es wird Lawinenverbauung betrieben, beinah überall mit den gleichen Worten: „Was wollt Ihr eigentlich noch? Ihr habt doch Eure Chance gehabt und die Narrenfreiheit obendrein. Was hat es der Gesellschaft gebracht? Nirgends ist es besser geworden, weder in der Politik noch in der Wirtschaft oder Kunst wir haben nur überall neue Probleme, sogar bis in die eigene Familie hinein.“ Richtig. Darum treffen wir uns ja heute. Wir wollen ein neues Eherecht. Vielen Männern erscheint dies als böswillige Quittung für ihr grosszügiges Laissez-faire. Oder haben Sie schon irgendwo gehört, dass es auch für die Ehemänner manche Ungerechtigkeit korrigiert? Gerade in diesem Sinn müssen wir selber uns auch endlich akzeptieren. Ganz. Warum fällt es uns beinah noch schwerer als den Männern? Ist es vielleicht so, dass wir ganz im Geheimen auch das Gefühl haben, wir müssten ‚besser’ sein? Ist es vielleicht so, dass wir gar nicht richtig wagen, von den Altären herunter zu springen, die man unserer Weiblichkeit, und vor allem unserer Mütterlichkeit, errichtet hat? Ich kann nur von meinen ganz persönlichen Schwierigkeiten reden, die ich habe um zu leben, wie ich lebe. Ich muss meine Schreibarbeit immer aufs Neue verteidigen vor mir selbst, allein schon die Zeit, die ich dafür aufwende. Ich habe drei heute erwachsene Kinder. Aber ich begann zu schreiben, als sie noch in den Kindergarten gingen. Mein Gewissen war eigentlich ein Hautausschlag. Es juckte mich andauernd. Öffentliche Anerkennung ist zwar keine schlechte Salbe nur hilft sie nie lang…. Was tat und tue ich denn so Monströses am Schreibtisch? Ich höre nicht auf, die Vision von einem eigenen Lebensentwurf zu haben, ich höre nicht auf, ihn langsam und allein aus mir hinaus zu schreiben. Die Kinder verlangten nie, dass ich damit aufhöre, sowenig wie mein Mann. Aber immer ist da der Eindruck, andere Frauen verlangten es, ganz fremde und bekannte, die auf meinen Absturz warten. Vor allem aber die eine, ganz vertraute Frau: meine Mutter. Sie ist vor 15 Jahren gestorben, aber ich habe sie längst in mir drin. Auf eine Formel verkürzt könnte man sagen: Ich erfüllte das Pflichtenheft meiner Familie gegenüber nie so, wie es mir tradiert wurde. Geht es Ihnen anders? Besser? Oder glauben Sie auch immer noch in einem Herzwinkel an das uralte Rezept ‚keine eigenen Ansprüche keine eigenen Vorwürfe’? Es stimmt ja: Es könnte ein Kind etwas vermissen, auch wenn es vielleicht mehr Anregung bekommt und weniger abhängig ist; es könnte etwas passieren in der Familie. Allerdings könnte in JEDER Familie etwas passieren, und es passiert auch in jeder Familie etwas. Aber wenn man berufstätig ist, ohne dass eine finanzielle Notlage es bedingt, kann man nichts auf die leichte Schulter nehmen und nichts zudecken wie andere mit dem Trostwort: „Das gehört eben zur Pubertät.“ Ein dummer Streich, eine Schlamperei, ein schulischer Misserfolg alles wird zum Feuerzeichen an der Wand. Sie wissen doch, wie das spielt: Keine massive Kritik nirgends, keine offenen Angriffe nur harmlos geseufzte Sätzchen. Eines kennen Sie bestimmt: „Es leidet eben immer etwas darunter, wenn die Mutter nicht zu Hause ist.“ Reden wir doch einmal von den Frauen, die gar nicht anders können, als den Lebensunterhalt für ihre Kinder zu verdienen. Wer ist denn solidarisch mit ihnen? Ich habe gesagt: Manchmal hätte ich den Eindruck, ausser Schaumschlagen laufe nichts, nichts mehr. Kein einziger, ernst zu nehmender Vorstoss für Tagesschulen, geschweige denn Ferienhorte. Ich glaube, dass wir auch das Nächste noch sagen müssten: Wir lassen die berufstätigen Mütter auf verlorenem Posten mit ihrer dauernden Überbelastung. Und vor allem lassen wir sie auf verlorenem Posten mit ihrer Mütterlichkeit. Tagesschulen sind gewiss kein Allerweltsheilmittel, gewiss nicht. Aber sie wären ein Schritt auf die Chancengleichheit der Mütter zu. Es möchten es nämlich alle gut machen. Wir sind Realistinnen wir fordern das Unmögliche. Ich denke, dass die Gleichberechtigung nicht vollzogen ist, wenn Frauen den gleichen Lohn haben wie Männer, und wenn auch mittelmässige Frauen Chefpositionen besetzen wie Männer. Die Gleichberechtigung ist in meinen Augen erst vollzogen, wenn man eine Frau auch unterschwellig nicht mehr daran erinnern wird, dass sie eigentlich zu wählen hätte, ob sie arbeiten will oder eine Familie haben. Haben Sie sich schon überlegt, dass kein Mann sich entscheiden muss? Ich frage mich, warum es sogar noch immer läuft, in unserer Gesellschaft, dass ein Familienvater sich damit brüsten kann, nirgends zurück zu stehen und das Wort ‚nein’ nicht zu kennen weder für Parteiämter noch für Vereinschargen; weder für Verbandsarbeit noch für Berufsbelastungen. Er kann sein ganzes Familien- und Gefühlsleben gewissermassen an die Ehefrau delegieren, und weder Nachbarn noch Freunde werden deswegen auch nur spitze Bemerkungen machen. Warum fragen sie nie ein Kind, ob ihm etwas mangle, weil der Vater jeden Abend eine Sitzung habe und am Sonntag Akten aufarbeite? Warum wird keine Familienvater in der Partei zurückgepfiffen mit dem Satz: „Es leidet eben immer irgend etwas darunter, wenn der Vater nicht zu Hause ist“? Ich glaube: Nicht nur, weil es verbreitet ist im ganzen Land und eben schon immer so war. Aber das gesellschaftliche Ansehen, das ein Mann erringt, ist für die ganze Familie miterrungen. ‚Schaffen für Zwei’ kann sich lohnen für alle bei einem Mann. Zumindest seine Ehefrau ist mitdekoriert, wenn er ganz zuoberst auf der Erfolgspyramide den Handstand macht und bengalisch beleuchtet wird. Ich möchte sie jetzt einmal ausdrehen, diese Beleuchtung, oder alles ins Gegenteil verkehren: Wie es nämlich zugeht, wenn die Ehefrau sich beruflich und gesellschaftlich deutlich profiliert. Dann jagt sie dem Mann den Konflikt seines Lebens ins Haus. Seine Freunde werden zwar nichts sagen und ihm nur die Hand etwas länger drücken. Sie wissen es, wer in dieser Ehe Schuld hat und wer nicht. Die befreundeten Frauen, hingegen, die werden es ihm sagen: „ Es ist wirklich grosszügig menschlich ist es von dir, wie du sie einfach so machen lässt. Das täte nicht jeder, wirklich nicht. Weiss sie es überhaupt?“ Ich nehme an, diejenigen unter Ihnen, die ein Ratsmandat haben, wissen es. Wenn Ihr Mann Sie an öffentliche Anlässe begeleiten muss, wo SIE bengalisch beleuchtet werden, so wird man witzeln - liebevoll, natürlich ihn irrtümlich als ‚Mister Thatcher’ begrüssen und dann schallend lachen. Man wird ihn fragen, was es denn für ein Gefühl sei, als gewöhnlicher Stimmbürger eine so berühmte Frau zu haben? Ob es nicht manchmal etwas kühl werde, im Schatten? Aber wenn wir etwas verändern wollen in der Gesellschaft, auf die echte Gleichberechtigung zu, dann MÜSSEN wir es verantworten. Es braucht auch eine neue Vision von der Ehe, und wir können sie nicht im Alleingang finden. Wir müssen es unserem Partner zumuten, dass auch er keine Vorbilder mehr hat und sich selbst neu verstehen muss. Wir können ihm die Freiheit nicht ersparen, dass er auch keine tradierte Rolle mehr spielen kann. Er muss eine wirklich GANZE Persönlichkeit werden, die eine andere GANZE Persönlichkeit gernhaben kann und nicht nur eine ‚Ehehälfte’, die von ihm abhängig ist. Ich weiss: Erst sehr selbstsichere Männer sind heute schon Feministen. 40 Jahre Wüste vor uns aber wir träumen wenigstens zusammen mit Männern, und sie brauchen unsere ‚Vision von der Zukunft’ genauso dringend wie wir selbst, um nicht den Weg des geringsten Widerstands zu gehen: zurück ins Exil auch die Männer haben sich Jahrhunderte lang daran gewöhnt und ich glaube, jetzt sind sie schlechter ausgerüstet für dieses langsame Vorankommen, immer nur Schrittchen für Schrittchen, sie sind die unerhörten Anstrengungen nicht gewohnt, die nichts zeigen vom Erreichten, aber doch geleistet werden müssen. Im Glauben auf etwas, das es noch gar nicht gibt: die Gesellschaft von morgen. Vielleicht werden wir sie in unserer Generation gar nicht betreten. Diese Parallele bringt mich auf ein Gedicht von Kurt Marti es heisst UND MARIA, und es zeigt, was für eine politische Arbeit Erziehen eigentlich sein könnte: Eine visionäre Angelegenheit, auch vom Umsturz der Gesellschaft es ist UNSERE Angelegenheit: und maria konnte kaum lesen und maria konnte kaum schreiben und maria durfte nicht singen noch reden im bethaus der juden wo die männer dem mann-gott dienen dafür aber sang sie ihrem ältesten sohn dafür aber sang sie ihren töchtern den andern söhnen von der grossen gnade und ihrem heiligen umsturz.
Wenn wir selber aber gar keinen richtigen Traum haben von einer andern Welt und einer andern Gesellschaftsordnung als der heutigen, dann tritt die Zeit an Ort in unserem Haus, dann muss sie sogar uns zuliebe an Ort treten. Denn die Kinder dürfen ja nichts Neues oder anderes denken als wir selber denken. Am liebsten würden wir ihnen die Tür verriegeln. Nicht, damit sie in Sicherheit bleiben vor dem Leben aber damit sie uns wenigstens noch ein Weilchen Gesellschaft leisten, und dann noch mal ein Weilchen … Alleinsein ohne Traum, der über die eigene Person hinaus weist, ist die totale Verlassenheit. Wissen Sie, wie viele verlassen sind? Als Schriftstellerin denke ich, dass die Literatur, die Frauenliteratur, heute auf diese spezifische Traumnot antworten müsste. Im Grunde kann sie es nur mit den Politikerinnen zusammen. Ich hab gesagt, dass Literatur und Politik oft dasselbe sind: Spiegelbilder, wechselseitige. Ingeborg Bachmann hat in ihrem Roman Malina beschrieben, was passiert, wenn eine Frau einen Teil von sich selbst hinrichtet den rein weiblichen. Sie hat ihn so lange zensuriert bekommen und selbst in Frage gestellt mit dem männlich rationalen Teil, bis die Frau verschwand. In einer Wand. Der Roman endet mit folgenden Worten. Ein stillstehen, kein Alarm, keine Sirenen, es kommt niemand zu Hilfe, der Rettungswagen nicht und nicht die Polizei, es ist eine sehr alte, eine sehr starke Wand, aus der niemand fallen kann, aus der nie mehr etwas laut werden kann. Es war Mord. Vielleicht ist er gerade an sehr erfolgreichen Frauen in Wirtschaft und Politik zum Teil schon verübt. Jetzt funktioniert ihre Hälfte also nahtlos zwischen Männern. Aber wir reden an eine Wand, sooft wir an ihre Solidarität appellieren. Ich meine damit auch: an die Solidarität mit sich selbst. SIE werden uns nicht helfen, an der Utopie zu arbeiten. Sie würden uns wohl heute sehr sachlich und einleuchtend darlegen, dass das Wichtigste erst einmal ist, wirklich an die Macht zu kommen. Ist es das? Dann brauchen wir nur eine Art Rekrutenschule fürs Ränkespiel plus einen Strategieplan. Ich glaube aber, dass wir über die Macht hinaus denken müssen: was wir wollen damit, was dann kommt. Vor ein paar Jahren hat man im Berner Stadttheater Die tragische Historie vom Doktor Faustus inszeniert, von Christopher Marlowe. Dieser Faustus wird nicht vom Fegefeuer errettet wie bei Goethe. Und doch hätte er die Macht dazu gehabt, in den eigenen zwei Händen hat er sie gehalten: das Zauberbuch, mit dem alles möglich wurde, der Traum der Träume. Man geht also nicht zugrunde am Pakt mit dem Teufel, aber man geht zugrunde an der Kleinheit seiner Träume. Auch heute noch aber hoffentlich nicht wir Frauen. |
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Die Sprache ist eine Hebamme
1994/95 |
Mit 83 jahren schdarb mein Grossvater unter dem Namen Julius. Er schbrach zu mir habe nur keine angst. Wenn ich vorgester noch in der Schdube gedanst habe ist es nicht ein Schlimer Tot.
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Die Sprache ist eine Hebamme Im Wintersemester 1994/95 hatte Maja Beutler einen Lehrauftrag an der Theologischen Fakultät Zürich. Titel ihrer Veranstaltungsreihe: Die Sprache ist eine Hebamme
VIERTE VORLESUNG, 16. Dezember 1994 Nach der ersten Vorlesung haben mir einige sogenannt ‚freie ZuhörerInnen’, angemeldet, dass sie den Kurs zwar regelmässig besuchen, aber die Schreibübungen nicht mitmachen würden. Warum nicht? Weil sie dazu nicht in der Lage seien, sie könnten nämlich nicht wirklich schreiben. Aha. Die Frauen haben zu gut aufgepasst in der Schule. Da bringt man uns als Erstes bei, dass wir von Natur aus nur gerüstet sind, das Richtige falsch zu schreiben. Ergo müssen wir das Gewandte ohne Nachdenken beherrschen, um gut zu schreiben - die Maske über unserer Nacktheit. Philipp, eines meiner Kinder, hat Ende der ersten Klasse, also mit siebeneinhalb Jahren, über seine Grosseltern geschrieben. Er musste es in einer Fremdsprache tun, hochdeutsch nämlich. (Text verteilen) Als ich lebte in meiner zeit da blötzlich wurde meine Grossmutter krangk und schdarb. Dan hatte ich noch ein Grossvater der gab uns jeden Montag 1 Frangken wenn wir zu im schlafen durften, er hatte Freude und wir hatten Freude. Doch mit 83 jahren schdarb mein Grossvater unter dem Namen Julius. Er schbrach zu mir habe nur keine angst. Wenn ich vorgester noch in der Schdube gedanst habe ist es nicht ein Schlimer Tot. Beim Tot war ich nicht dabei. Ich hate es bald vernomen. Velte extra Schule für die berdigung. Ich hab in und sie noch Heute nichd veressen droz den schönen Dinge di ich noch vor mir haben kann. Die Eingangsformel, ‚als ich lebte in meiner Zeit’ zeugt davon, dass die Märchen in seinem Kopf zu leben anfangen, sobald er schreibt. ‚Es war einmal’, oder ‚in der Zeit, da das Wünschen noch geholfen hat’ schwingen mit es wird nur etwas ganz Neues draus. Auch die Formulierung ‚er starb unter dem Namen Julius’ ist für mich beinahe ein Zitat als wollte das Kind eine Amtsformel persiflieren: Sie lässt anklingen, dass der Bub durchaus weiss, dass der Grossvater für andere Einer unter Vielen war, man muss ihn mit Namen vorstellen. Dass es ein ‚zu grosser’ Name war, ein befremdlicher, hat Philipp auch gewusst. Aber dass mein Vater ein Leben lang schwer getragen hat am Fremdsein, am Gefälle zu allen unwillkürlich Eingemeindeten und Angepassten, das wusste das Kind nicht, es war ein sprachlicher Zufallstreffer, zu schreiben ‚er starb unter dem Namen Julius’. Sicher stimmt es weder grammatikalisch noch faktisch, und vielleicht hat der Satz nur gerade mir bewusst gemacht, was ich nie konsequent zu Ende zu denken wagte: Welche Spannungen mein Vater auszuhalten hatte und ob er auch daran zugrunde gegangen war. Wissen Sie noch, was ich Ihnen über Adjektive sagte: dass sie im Grunde verwässern: ‚Am Anfang war das Wort’, gegen ‚am Anfang war das richtige Wort’, das schöne Wort’, …’das wahre Wort’, ‚das schuldlose Wort’ …Die Aussage wird mit jedem nur möglichen Adjektiv eingeschränkt. Kinder schreiben fast durchwegs biblisch - ohne Adjektive. So, wie sie zeichnen: Figuren ohne Beiwerk, aber mit Händen und Füssen. Ein kaum eingeschultes Kind verfügt noch gar nicht über die Möglichkeit, sprachlich zu dekorieren. Was am Text berührt, ist aber der merkwürdig weite Atem, das Einholen ganzer Lebenszusammenhänge in einen Satz. Meine Grossmutter Marianna Maroni war mit ihren Eltern als dreizehn jährige zu Fuss von Villa d’Alegno in Oberitalien nach Hausen im Oberhasli eingewandert. Sie hat also nur noch drei Schuljahre Zeit gehabt, um einigermassen Deutsch schreiben zu lernen. Es haben sich nur gerade drei Briefe von ihr erhalten. Zwei hat sie im Laufe der Jahre ihrem Sohn Julius geschrieben, und da beschriebt sie sich im einen selbst: Bin jedenfalls überhaupt nicht, wie ich sein sollte, ich weiss das ja selbst am besten. Mit diesem Satz entschuldigt sie sich für ihre Angst, zum ersten Mal meine Mutter zu treffen: diese Tochter aus guter Familie, der Marianna weder gesellschaftlich noch bildungsmässig das Wasser reichen konnte. Zudem war Grossmutter Marianna ledig geblieben und hatte zwei uneheliche Kinder. Julius und Julia. Sie schrieb: Wenn man soviele Jahre unten fast wie ein Einsiedler lebt, ist es nicht zu verwundern, meine ich. Hoffe, vor dem Frühling oder Sommer werde es nicht dazu kommen. Ich gewöhne mich sehr schwer zu Leuten, wo man sich schinieren muss.
(Text verteilen) Meine Liebe! Habe Ihren lieben Brief erhalten, wofür ich danke. Es freute mich ungemein, dass ich Sie kenne, und dass Sie einmal gekommen, auch nicht so gar erschreckt seid ob unserer Einfachheit. ich habe Sie auch in mein Herz geschlossen, werde Sie lieben wie meine Kinder auch. Nur bedaure ich Sie, dass Ihre Verwandten wegen einer Heirat nicht einverstanden sind. Nun, die Zukunft ändert oft sehr viel. Wollen's Gott überlassen. Hoffe, er werde alles zum besten führen. Wenn Ihr zwei gut zusammen, ist für allezeit das beste. ich wenigstens wünsche Euch ein recht grosses Glück. Nun bitte zürnen Sie ja nicht, dass ich so lange auf Antwort warten liess. Hans war eben krank. Der erste Tag ausser Bett hatte er sich so arg verbrüht. Viel Pflege hat's erfordert, seit weiss wann sind wir nicht mehr aus den Kleidern gekommen, jetzt geht's ihm besser. Habe ihn sehr bedauern müssen weil er meinte, er müsse sterben. Das möchte er eben noch nich Juli hat von Zürich eine Karte geschickt, er hat glaub ich Langezeit. Muss Ihnen noch besonders danken für die guten Trauben. Die glücklichen Gesichter von Hans und Alfred hätten Sie sehen sollen, das ist herzerhebend. Solche Leute sind eben die Ärmsten. Zum Schlusse beste Grüsse von Mutter und Julia.
Hans, der im Brief erwähnt wird, ist ein taubstummes Kind, das Marianna gleich nach seiner Geburt in Pflege genommen hat. Das mag Sie interessieren als eine frühe Form radikaler Frauensolidarität: Hans war nämlich das uneheliche Kind einer achtzehn jährigen Nachbarin. Marianna war offenbar der Meinung, die solle ganz im Gegensatz zu ihr selbst springen können, trotz Fehltritt, ‚Recht auf Leben für eine achtzehn jährige’, also. Alfred ist Mariannas Cousin, der gratis im Untergeschoss, um nicht zu sagen im Keller lebte, er war leicht debil, aber im Stand, sich zweimal im Jahr zu waschen: pünktlich zu Ostern und zu Weihnachten. Im Übrigen hat Alfred leichte Taglöhnerarbeit im Dorf verrichtet, um sich über Wasser zu halten. Zwischenfrage: Sind Sie immer noch der Meinung, dass Sie nicht schreiben können, was Sie zu sagen haben? Philipp hat ein Jahr Deutschunterricht genossen, Marianna drei.
(Text wird verteilt) Hochverehrter, lieber Herr R. Was haben Sie uns wieder für eine Freude gemacht! So viele und so gute Sachen! Das gibt für lange Zeit eine Bereicherung zum Abendbrot der Kinder. Heinrich Peter, der immer vor Aufregung zappelt, wenn ein Paket kommt, hat erraten von wem das Paket kam und natürlich gleich von der Schokolade abbekommen. Ich danke Ihnen, lieber Herr R., von Herzen für die Gaben und für die Freude, die Sie uns allen damit machen! Denn mein Mann bekam auch einiges mit ins Büro, da er Schokolade so gerne isst. immer Ihre ergebene Nini Rascher.
Auf was für eine Briefschreiberin können Sie hier sprachlich schliessen? Der Text ist nicht nur korrekt, er spiegelt auch eine gewisse intellektuelle Gewandtheit und ein gesellschaftlich lockeres, aber streng respektiertes Formbewusstsein. Wirkt der Brief nicht gewinnend zivil? Was finden Sie sonst noch heraus, anhand des Textes? (Diskussion) Haben Sie selbst sich nicht schon ähnlich nichtssagende Dankbriefe abgepresst, oder sie zumindest bekommen? Ich, jedenfalls, fand mich in vertrauten Tönen aufgehoben. Etwas steifleinen, das Ganze, gewiss.
Hochverehrter, lieber Herr Reichsführer. Was haben Sie uns wieder für eine Freude gemacht! So viele und so gute Sachen! Das gibt für lange Zeit eine Bereicherung zum Abendbrot der Kinder. Heinrich Peter, der immer vor Aufregung zappelt, wenn ein Paket kommt, hat erraten von wem das Paket kam und natürlich gleich von der Schokolade abbekommen. immer Ihre ergeben Nini Rascher.
Ich weiss nicht, ob es Ihnen ähnlich geht wie mir: Der Brief verwirrt mein Verständnis, weil er in so vollkommen geläufiger, freundlicher Form daherkommt. Man muss sich beinah zwingen, nicht unwillkürlich in die Falle zu laufen. Es vollzieht sich also für einen Augenblick, was sich unter dem Naziregime für so viele vollzogen haben könnte: dass alles gar nicht so schlimm sein kann, wie es ist, allein schon, weil es berichtbar bleibt. Der Inhalt an sich dass Nini Rascher nämlich von den Menschenversuchen in Dachau berichtet, die ihr Mann über Ostern gemacht hat wird weniger schnell erkannt, als die sprachlich gewohnte Form. Die monströse Aussage kann nur mit Anstrengung überhaupt in unser Bewusstsein treten. Die Form bietet ihre Hilfe an, den Inhalt zu verdrängen. Auch der Schlächter von Dachau klingt durchaus nicht wie ein Schlächter. Auch nicht wie ein Terrorist. Es schreibt ein ehrgeiziger Arzt in geordneten Verhältnissen und guter Position einen ganz alltäglichen Brief. (Text verteilen)
Hochverehrter Herr Reichsführer, darf ich mich vor allem für Ihren Brief vom 13. 6. vielmals bedanken! Ich habe mich sehr über Ihr grosses Interesse gefreut, das Sie, hochverehrter Reichsführer, an den Versuchen und deren Resultaten nehmen. Ich danke für die Anregungen, die Sie mir in diesem Brief geben. Nun habe ich noch eine Bitte: Darf ich im Sektionsraum im KL die einzelnen Sektionspräparate fotografieren, um die seltene Bildung der multiplen Luftembolie festzuhalten? Meine Frau hat in diesem Sinne schon an SS-Sturmbannführer Dr.Brand geschrieben. Ich bin mit den ergebensten Grüssen und Heil Hitler Ihr dankbar ergebener S. Rascher. Ich habe Ihnen in der letzten Vorlesung geraten, Sie sollten sich des Kirchen-Jargons möglichst nicht bedienen, weil er ein Versteck sei, jeder Jargon sei es. Nach der Lektüre von Simon Raschers Brief bekam ich ein gestörtes Verhältnis zu meinen eigenen medizinischen Unterlagen. Ich habe sie wie es uns nach geltendem Recht zusteht herausverlangt für mein Buch ‚Fuss fassen’. Der Schock war, wie rasch ich in der Krankengeschichte von der Patientin zum Krankengut mutierte, eine Art Versuchskaninchen, das observiert wird, ich las Raschers Jargon: (Text verteilen)
1.12. Beginn der Strahlentherapie Einstellen des Pendelfeldes. Zunächst wird ein Isodosenplan für ein 7x10 cm2 Feld gewählt. Start mit 7x7 cm2, Schutz Schilddrüse mit Wachsmoulage. 3. 12. Zwischenkontrolle. Die Patientin wird ein weiteres Mal auf dem Bestrahlungs-Tisch nachkkontrolliert was die Einstellung anbelangt. Hat vorübergehend Spannungsgefühl verspürt. 10. 12. Subjektiv: Leichte Schluckbeschwerden. Rezeptiert: Novalgin, flüssig. 12. 12. Subjektiv: grosse Schluckbeschwerden, Schmerzen in Zunge und li. Wange, leichte Nausea. 14.12. Subjektiv: Patientin Schluckbeschwerden und Erstickungsangst (während Nacht) 16. 12. Subjektiv: schlechter Allgemeinzustand, erschwerte Nahrungsaufnahme, Schmerzen. Objektiv: weisse, abstreifbare Beläge, neben der Zahnreihe weisse Schleimhautreaktion (Achtung: Streustrahlung???)
Befassen wir uns mit Ihrem. Das alte und neue Testament sind für mich literarische Anthologien, die über Jahrhunderte hinweg entstanden sind. Für Sie bedeuten sie etwas anderes und Sie vermögen dank Ihrer Studien wesentlich vielschichtiger zu lesen und zu verstehen als ich. Bibeltexte erschliessen sich also im selben Mass, wie man ihren kulturellen Hintergrund und den historischen Kontext erfasst. Aber sie würden uns nicht immer aufs Neue beschäftigen, wenn sie nicht eine so besondere literarische Qualität besässen: Jeder einzelne Satz vermag ohne Adjektiv mancherlei zu bedeuten. Und doch ist er keine Gewähr, für gar nichts. Die Evangelien, beispielsweise, haben über Jahrhunderte herhalten müssen für den unermüdlichen Antisemitismus. Und von wem und für was alles hat sich der Satz einspannen lassen: Ich bin gekommen, das Schwert zu bringen. Es hat für mich etwas Furchtbares, dass Sprache alles mit sich machen lässt, dass sie tatsächlich kein An- und für-sich ist, sondern im Wechselspiel zwischen Zeit, Politik und LeserInnen steht. Es hat etwas Trostloses an sich, dass die Evangelien weiter die Evangelien sind, obgleich mit ihnen ein Meer an Unglück über die Welt hereingebrochen ist. Nicht durch die Evangelien selbst, natürlich nicht. Aber selbst die Evangelien waren und sind ohne Gewähr. Nina Rascher und ihr Mann waren Christen. Vermutlich Predigtgänger. Zu Ostern und Weihnachten zumindest, wenn sich der tumbe Vetter Alfred in Hausen aufgerafft hat zur Ganzkörperwaschung jeder hat auf seine Form gehalten. Es gehört so manches zusammen, im Leben. Der Dachau-Vivsektor Rascher hat gewiss nicht in den Evangelien gelesen, bevor er gemordet hat, das meine ich nicht. Es war nur eben so, dass Regime und Kirche sich vertragen haben in seinem Herzen. Aber Rascher hatte ein Gefühl für Fehler und hat sich dafür entschuldigt nach bestem Wissen und Gewissen. (Text verteilen)
Brief Dr. Sigmund Rascher an den Lagerkommandanten Weiss, Dachau, 10.10.42 Am 28. September wurde mir der russische Kriegsgefangene Chronitsch, geb. 24. 5. 1920, zu Versuchszwecken übergeben.Es handelte sich um einen Russen, welcher exekutiert werden sollte. Da mir vom RF SS befohlen wurde, für gefährliche Versuche zu Tode Verurteilte zu nehmen, wollte ich bei diesem Russen einen Versuch vornehmen, bei dem mit absoluter Sicherheit anzunehmen war, dass die VP den Versuch nicht überleben würde. Ich meldete Ihnen damals: ‚Sie können sich darauf verlassen, dass der Russe den Versuch mit Bestimmtheit nicht überleben würde und zu dem befohlenen Termin tot sei.’ Entgegen jeder Annahme überstand der betr. Russe 3 Versuche, die bei jedem anderen tödlich ausgelaufen wäre. Entsprechend dem Befehl des RF SS, dass solche VPs, die zum Tode verurteilt sind, aber lebensgefährliche Versuche überstehen, zu begnadigen, bitte ich entsprechende Schritte vornehmen zu wollen. Es tut mir leid, dass durch unsere falsche Annahme nun Schreibereien entstehe. Die christlichen Kirchen haben nach dem Krieg nie Gericht gehalten über sich selbst. Bis auf den heutigen Tag steht aus, dass sie sich damit auseinandersetzen, wieso es Anhänger des Christentums waren, die den Holocaust zu verantworten haben. Unser Glaubensgeschäft funktionierte vor, während und nach dem Krieg wie eh und je. Ja, ich weiss, es gab den Kreis um Niemoeller. Und Bonhoeffers gab es zu Hauf’. Ich möchte nur Ihre Kraft zur Skepsis dem Kirchlichen gegenüber stärken: Es ist kein Garant für Mut zur Eindeutigkeit und eo ipso kein Garant für Widerstand gegen totalitäre Regimes. Bleiben Sie subjektiv und persönlich haftbar für das, was Sie verkünden und das, was Sie verschweigen. Es gibt keinen einzigen Text, der jederzeit für alle dasselbe heissen würde. Er wird sich brechen am politischen und sozialen Umfeld, und er wird sich brechen an den ganz persönlichen, ganz privaten Biografien. Mit anderen Worten: Seien Sie stark genug, ein Leben lang unsicher zu bleiben, was ein Wort heisst. Was, zum Beispiel, soll ich davon halten, dass die zehn Gebote sich nicht an Frauen richten? ‚Du sollst nicht begehren nach deines Nächsten Weib’ erst dieser Satz macht sichtbar, dass ich mit dem ‚du’ nicht mitgemeint bin Frauen und Kinder rangierten für die gläubigen Juden unter Vieh und Besitz. Eigentlich zeugen die zehn Gebote sprachlich bis heute von der patriarchalen Struktur der jüdischen und christlichen Gesellschaften. Frage: Wie wehre ich mich als Frau gegen die permanente sprachliche Auslöschung sie hat Tradition seit Tausenden von Jahren, sie ist ein Politikum. Religiös untermauert. Es zeigt sich auch in unseren Brieftexten. Bei Marianna Maroni sowohl als bei Nini Rascher: Beide Frauen sprechen von ihrer Rolle, die sich erst aus dem sozialen und religiösen Kontext verstehen lässt: ‚Ich bin überhaupt nicht so, wie ich sein sollte’, Marianna stellt sich an den Pranger, weil es zu den Ächtungen des Christentums gehört, was sie gelebt hat: uneheliche Kinder zu gebären, noch dazu nicht vom selben Mann. Sie hat sich als Christin selbst verurteilt. ‚Wer lange ganz unten gelebt hat’, hat eine Frau zu sein, die den Mund nicht mehr auftut, aber mit ihrem Einsatz für eine andere, und zwar 18jährige Frau, zeigt Marianna den Dörflern, was ihr selbst zugestossen ist wegen fehlender Solidarität. Glauben Sie, wir blättern in einem persönlichen Ehebericht aus dunklen Zeiten? Ich sage absichtlich nicht ‚zum Glauben’. Dr. Sigmund Rascher hatte auch einen, nein: zwei hatte er. Genau wie seine Frau, die sich stark gemacht hat für medizinische Experimente im Lager Dachau. Zweifel ist von den beiden keiner bezeugt. Aber Reue. Reue innerhalb des einen, unumstösslichen Glaubens, den der Lagerkommandant kannte und teilte, wie alle andern, die mit dem Lagerarzt zu tun hatten und ihre Hand hoben: Vor dem Reichsführer SS. Ein etwas merkwürdiger Abschluss, ausgerechnet für die letzte Vorlesung vor Weihnachten. Und doch ist es vielleicht passend, uns hier nicht in der allgemeinen satten Versöhnlichkeit einzurichten: Kein Erlöser ist geboren worden, damit unsere Linke nicht weiss, was die Rechte tut. Ich möchte gerne, dass Sie bis zum 10 Januar einen kleinen Text schreiben würden. Ja, alle. Berichten Sie mir von Ihrer Grossmutter. Es darf ganz knapp sein, nicht länger als der Philipp-Text, und versuchen Sie’s ohne Adjektiv. 'Es tut mir leid, dass durch unsere falsche Annahme nun Schreibereien entstehen.' |
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Cap Launch UNO
2002 |
In letzter Zeit zeigt sie einen fatalen Hang zum Fremdgehen, die humanitäre Hilfe: sie sitzt den Armeen hinten auf, wie früher die Marketenderinnen.
Lesebeispiel (de|fr|en): |
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Die Vereinten Nationen lancieren den humanitären Aufruf 2002
Die Vereinten Nationen haben am 19. November 2002 zusammen mit anderen Hilfsorganisationen traditionsgemäss ihren humanitären Spenden-Aufruf lanciert. Es wurden drei Milliarden US-Dollars gefordert, um den Opfern der weltweiten Krisen und Konflikte zu helfen. Der sogen. CAP-Launch fand diesmal in Bern satt, was für die Schweiz als neues Mitglied der UNO eine Ehre war. Ort des Cap-Launch war der Nationalratssaal im Bundeshaus Bern. Die Zeremonie wurde von der UNO gemeinsam mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) organisiert, Maja Beutler war eine der RednerInnen. (Deutsch|Französisch|Englisch) CAP - LAUNCH OF THE UNITED NATIONS HUMANITARIAN APPEALS 2002 Meine Damen und Herren, Entschuldigen Sie die lapidare Anrede. Aber ich glaube, gemeinsam die Zukunft zu planen ist eine Aufgabe, die hierarchische und nationale Unterschiede in den Schatten stellt. Es geht ja nicht einfach darum, bei den Regierungen Geld für humanitäre Hilfe locker zu machen die wird von überhaupt niemandem bestritten. Warum das so ist, hätten uns allein schon die Berichte aus den drei Konfliktregionen bewiesen. Der Nimbus, der die humanitäre Hilfe seit Henri Dunant umgibt, kann sich nur halten dank der professionellen, engagierten Arbeit im Feld. Vielleicht darf gerade ich das hier sagen - vielleicht bin ich sogar deswegen eingeladen worden zu reden - weil ich als Schriftstellerin nicht zum humanitären Business gehöre und nicht in politische Seilschaften eingebunden bin. Ich sitze von Berufs wegen zwischen Stuhl und Bank, da verliere ich die Bodenhaftung nicht und habe eine etwas andere Sicht: Auf das nämlich, was unter den Tisch fällt. Beispielsweise die Tatsache, dass Regierungen nach innen und aussen zugleich politisieren - man müsste ihnen auch zu Hilfe eilen, damit sie nicht zwischen die eigenen Fronten gerieten. Wie sieht das im Polit-Alltag aus? High income Länder sprechen zwar Mittel für humanitäre Hilfe, aber gleichzeitig bauen sie mit Exportrisikogarantie Staudämme in der 3. Welt. Zu Hause bringen sie tausend Personen-Jahre-Arbeit - im Entwicklungsland aber nimmt die Flutung Hunderttausenden ihr Stückchen Land weg und macht sie zu Vertriebenen. Fazit: Sie werden nicht im Stand sein zu überleben ohne humanitäre Hilfe. Eine ganz andere Frage ist, ob sich das Ja einer Regierung zu humanitärer Hilfe nicht als politisches Kuckucksei entpuppt - dann nämlich, wenn diese Regierung anfängt, sie in Eigenregie zu leisten. Der deutsche Dichter Bertold Brecht hat geschrieben: Die Hälfte dieser Menschheit lebt einzig vom löchrigen Gedächtnis der andern Hälfte. Das ist so ziemlich vorbei. Heute müsste es eher heissen: Die Hälfte der Menschheit geht einzig am löchrigen Gedächtnis der andern Hälfte zu Grunde. Schade nur, dass Sie und ich wissen, dass auch das Zahlenverhältnis nicht mehr stimmt: Nur gerade ein Sechstel der Menschheit lebt in high income Ländern, und im Allgemeinen gelingt es ihm recht gut, diesem Sechstel, die anderen fünf Milliarden Menschen, zu vergessen. Ich weiss von was ich rede, ich muss vor der eigenen Tür wischen: Allem Krisengerede zum Trotz gehört die Schweiz noch immer zu den reichsten Industrienationen und ist noch immer einer der wichtigsten Finanzplätze. Aber, meine Damen und Herren, was für ein Stress! Eine Engländerin in Blumenhütchen hat mich kurz nach dem 2. Weltkrieg gefragt, ob es wahr sei, dass in der Schweiz so unglaublich viel gearbeitet werde - wann mein Vater in seiner Druckerei denn anfange, am Morgen? Als ich sagte: At seven o’clock, madam, entfuhr dem Blumenhütchen ein denkwürdiger Satz: It’s ever so uncivilised! Die Heilsarmee-Majorin Rosmarie Häfeli leistet seit über 20 Jahren humanitäre Hilfe in Haiti - ich weiss, dass wir hier nicht über Haiti reden und schon gar nicht über die Heilsarmee ich bin nur der festen Überzeugung, beides gehöre zum heutigen Thema. Das muss mit meiner Sicht zwischen Stuhl und Bank zusammenhangen. Majorin Häfeli sitzt auch dort, vom humanitären Business aus gesehen. Sie behauptet übrigens, der grösste Stress seien ihre Urlaubspausen in der Schweiz. Was seien wir doch für ein wehleidiger, bornierter Haufen von Ahnungslosen. Pardon, kämen wir denn nie zur Welt? In Haiti wate man in den Slums bis zu den Knöcheln im Kot, seit dem Embargo sei sie in ihrer Station kein Wochenende mehr sicher, nicht erschlagen zu werden wie Père Joseph, er habe die Schlüssel zum Bohnenvorrat auf sich getragen aber in der Schweiz verstehe kein Mensch von was sie überhaupt rede: in Haiti töte einer, um nicht vor Hunger zu krepieren. Heisst es nicht immer, die Welt sei ein globales Dorf? Johannesburg und Port-au-Prince liegen nur geografisch auf einem andern Kontinent, in Wirklichkeit sind es zwei Namen eines einzigen globalisierten Elends. Vor ein paar Wochen ist auf eine Freundin von mir geschossen worden. Sie war Mitglied der Schweizer-Delegation am Weltgipfel in Johannesburg. Nachts stieg im Hotel ein Dieb durchs Fenster - als die Freundin erwachte, hat er gefeuert. Nein, der Überfall war nicht im mindesten politisch motiviert. Touristinnen sind eine Art Bodenschatz, den es rasch zu schürfen gilt, sonst steigt er ins Flugzeug. Mit wie unterschiedlichen Ellen doch gemessen wird in ein- und demselben Land: Sucht in der Schweiz ein Mensch nämlich um Asyl nach, ist er nicht nur mit dem Schreck davon gekommen er ist zumindest entwurzelt. Aber sogar, wenn er schwerst traumatisiert wäre, kann er nicht mit seiner Aufnahme in die Schweiz rechnen - dazu müsste er politisch verfolgt sein. Wie beweist man, dass ein Trauma von politischer Verfolgung herrührt? Folternarben sind dafür kein Beweis. Erstens könnten sie selbst-beigebracht sein, und zweitens muss geklärt werden, ob im Ursprungsland Misshandlungen nicht etwa an der Tagesordnung sind. It’s ever so uncivilised. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist, meine Damen und Herren? Dass die Aufnahme-Prozedere in sämtlichen high income Ländern vergleichbar sind. Vielleicht müsste die Heilsarmee Majorin ihren Unwillen über die Schweiz also ausweiten: Die ganze 1. Welt will nicht zur Welt kommen, gerade das macht ihr ja am meisten Angst: sich eines Tages nicht mehr abschotten zu können. Baut man so die Zukunft? Vielleicht müssten wir dazu erst einmal aufhören, die eigene Geschichte zu verklären. Ich greife die Schweiz als Beispiel heraus, weil sie mir am Nächsten ist: Wir brauchen nur ein, zwei Jahrhunderte zurück zu blättern, dann ist die Schweiz eines der ärmsten Länder ganz Europas. Ich glaube, all die jungen Schweizerinnen und Schweizer, die humanitäre Einsätze in der 3. Welt leisten, wissen gar nicht, dass sie auf ihre eigenen Vorfahren treffen: Die Schweiz des 19. Jahrhunderts hat in allen Belangen einem heutigen 3. Weltland entsprochen. Kinderarbeit war an der Tagesordnung. Ohne humanitäre Hilfe hätte die Schweiz schwerlich überlebt: 1817 herrschte bei uns eine so gewaltige Hungersnot, dass nicht nur alle Nachbarländer und England geholfen haben - auch der russische Zar Alexander I. hat zur Linderung der Not 100 000 Rubel rollen lassen. Was mich persönlich am meisten beschäftigt ist aber die Tatsache, dass die Schweiz noch vor hundert Jahren ein Auswanderungsland par excellence war. Jede Wohngemeinde zahlte Kopfprämien für Bürger, die sich zur Emigration entschlossen. Warum erzähle ich das alles überhaupt? Weil ich glaube, dass die Schweiz ein gutes Beispiel dafür ist, dass man die Hoffnung nicht sinken lassen darf: Verhältnisse können sich ändern. Oder eine Spur pointierter gesagt: Die Schweiz war einmal vergleichbar mit dem heutigen Sahel. Vielleicht hat Heilsarmee Majorin Rosmarie unsere Floskeln über humanitäres Engagement deswegen so besonders auf der Latte. Sie mag allerdings auch nicht übers Evangelium fackeln: Haiti sei mit Beten nicht geholfen, vonnöten seien Bohnen als Eiweisslieferant und ein bisschen Industrie als Arbeitsplatz. Das Erste könne sie via Patenschaften kaufen, das Zweite müssten die Amerikaner wollen, aber die wollten nicht und basta, ginge eben alles vor die Hunde. Nach Ostern fehlten regelmässig Kinder beim Appell, die seien ohne Schulsuppe nicht mehr über die Runden gekommen. Den anderen drohe dasselbe über Weihnachten, vielleicht seien sie bis dahin verdummt an den chronischen Hungerödemen. Als ich Majorin Rosmarie vor 15 Jahren kennen lernte, hatte sie die Schule schon vergrössert: Dank Patenschaften aus Europa und den Staaten kamen statt 30 schon 700 Kinder zu Bohnensuppe und Alphabet. Die Begabtesten unterrichteten jeweils die Jüngeren. Sie denke möglichste wenig drüber nach, was das alles nütze, sagte die Majorin. Nütze denn das Evangelium der Welt? Wo sehe man, ob die Liebe Gottes nütze? Basta: Jemand müsse in Port-au-Prince einfach tun was sie tue. Die meisten Mädchen fänden zwar nie Arbeit, also könne man 2 und 2 zusammenzählen: sie müssten den Strich machen. Und die Buben würden sich mit Überfällen und Dealen über Wasser halten, nein, was sie mache, nütze nichts, sagte Rosmarie Häfeli, trotzdem sei es, was es sei. Meine Damen und Herren, vielleicht ist der erste Stein zum Haus von morgen dieses unscheinbare ‚trotzdem’. Nur darauf können die Helfer im Feld jederzeit bauen: ‚trotzdem’. Martin Luther King hat schöner oder einprägsamer gesagt, was humanitäre Hilfe bedeutet: Aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung hauen. (Maja Beutler) Veuillez excuser ma façon peu protocolaire de m’adresser à vous. Il me semble que devant une tâche si importante que celle de construire ensemble un avenir, des distinctions hiérarchiques et nationales doivent s’effacer. Car en fait il ne s’agit pas simplement d'obtenir des gouvernements qu'ils libèrent de l'argent pour une aide humanitaire personne ne conteste l’aide humanitaire. À eux seuls, les rapports provenant des trois régions de conflits démontrent pourquoi il en est ainsi. Le prestige dont jouit l'aide humanitaire depuis Henri Dunant ne peut se maintenir que grâce au travail professionnel et très engagé qui se fait sur le terrain. Peut-être suis-je autorisée à dire cela, peut-être est-ce même pour cette raison que j'ai été invitée: parce qu’étant écrivain, je ne suis imbriquée ni dans le monde des affaires humanitaires ni dans celui des affaires politiques. Ma profession me place entre deux chaises: je garde le contact au sol et je vois le mieux ce qui tombe sous la table. Ainsi, par exemple, je vois au ras du sol les conséquences du fait que les gouvernements ont des politiques extérieures et intérieures contradictoires on devrait de toute urgence les aider à ne pas complètement se fourvoyer. Par quoi cette situation se traduit-t-elle dans la vie politique de tous les jours? Par exemple, des pays à haut revenu construisent, avec une garantie de risques d’exportation, un barrage dans le Tiers-Monde, ce qui assure aux pays à haut revenu des années de travail à un millier de personnes. En même temps, dans le pays en développement concerné, les submersions de régions entières privent des centaines de milliers de gens de leur lopin de terre et les chassent de chez-eux pour le restant de leur vie. Résultat: ces centaines de milliers de personnes ne pourront survivre que grâce à une aide humanitaire. L'on peut se demander aussi - dans un tout autre ordre d'idée - si l'aide humanitaire accordée par un gouvernement n'est pas en fait un cadeau de dupe, spécialement si ce gouvernement commence à dispenser lui-même cette aide. Ces derniers temps, elle manifeste une tendance fatale, cette aide humanitaire, à dévier de ses objectifs: comme autrefois les vivandières suivaient les armées, l'aide humanitaire pratiquée par les gouvernements succède à leurs opérations militaires et en fait partie intégrante. Vous rappelez-vous les nouvelles surréalistes diffusées par les médias à propos de ce qui se passait en Afghanistan? Après les bombes, c'était des casse-croûte que l'on larguait du ciel par palettes! Une comédie humanitaire du plus mauvais goût: non content de bombarder la population civile, on l'obligeait encore à courir entre deux attaques dans les champs truffés de mines pour aller chercher ses rations alimentaires. Difficile de trouver plus macabre. Peut-être tout au plus la rapidité avec laquelle le monde a passé sur ces événements, invité qu'il était à applaudir la chute des voiles à Kaboul. À présent, ils commencent à revenir, ces voiles, mais CNN est déjà ailleurs: pour nous appeler à soutenir une guerre en Irak. Qui dans ces conditions pourrait bien vouloir encore se rappeler les gens qui meurent de faim en Éthiopie ou au Mozambique?
Je sais de quoi je parle, et je peux m’en prendre à moi-même. En dépit de toutes les jérémiades sur la crise, la Suisse continue à faire partie des nations industrielles les plus riches et elle est toujours l'une des places financières les plus importantes. Mais, Mesdames et Messieurs, quel stress! Une dame anglaise, qui portait un petit chapeau à fleurs, m'a demandé un jour, peu après la deuxième guerre mondiale, s'il était vrai que l'on travaillait autant en Suisse et à quelle heure mon père commençait ses journées dans son imprimerie le matin. Je lui répondis: At seven o’clock, Madam (À sept heures, Madame). Alors le petit chapeau à fleurs laissa s'échapper ces mots mémorables: It’s ever so uncivilised ! (Quel manque de culture!) Le major Rosmarie Häfeli de l'Armée du Salut travaille depuis plus de vingt ans dans l'aide humanitaire en Haïti. Je sais que nous ne sommes pas ici pour parler de Haïti et encore moins de l'Armée du Salut toutefois je suis persuadée que ces deux sujets ont un rapport avec le thème à l'ordre du jour. Cette conviction doit être liée à ma position, que j'évoquais plus haut, à savoir de me trouver entre deux chaises. Le major Häfeli aussi est assise entre deux chaises, du point de vue du monde des affaires humanitaires. Elle prétend du reste que c'est durant ses périodes de congé en Suisse qu'elle est le plus stressée. Et de vitupérer contre ses concitoyens: Quelle bande d'ignorants pleurnichards et bornés sommes-nous donc? Pardon, ne pourrions-nous pas ouvrir un peu les yeux? En Haïti, dans les bidonvilles, on patauge dans la boue jusqu'aux chevilles, et, depuis l'embargo, Rosmarie n'est plus du tout sûre, dans son dispensaire, à la fin de la semaine, de ne pas être elle aussi assommée, comme le Père Joseph qui avait gardé sur lui la clef du grenier à haricots - mais en Suisse, personne ne comprend de quoi elle parle: en Haïti on tue pour ne pas crever de faim! N'entend-on pas toujours dire que le monde est un village global? Les villes de Johannesburg et Port-au-Prince ne se trouvent que géographiquement sur des continents différents: en réalité ce sont les noms d'une misère globalisée unique. It’s ever so uncivilised (Quel manque de culture!). Mais savez-vous, Mesdames et Messieurs, ce qu'il y a de plus grave? C'est que des procédures d'admission comparables peuvent être observées dans tous les pays à revenu élevé. Peut-être que le major de l'Armée du Salut devrait étendre à d'autres pays son indignation contre la Suisse et dire que l'ensemble de ce qu'on appellera le Premier monde (les pays nantis) refuse d'ouvrir les yeux sur le reste du monde? C'est cela précisément qui fait peur à ces pays: ne plus pouvoir un jour s’isoler, se retrancher du monde. Est-ce bien ainsi que l'on peut construire l'avenir? Il faudrait éventuellement, pour faire face à nos responsabilités, que nous commencions par cesser d’idéaliser notre propre histoire. Je prends l'exemple de la Suisse parce que c'est celui qui m'est le plus proche: point n'est besoin de remonter bien loin dans le temps un à deux siècles suffisent: la Suisse était alors l'un des pays les plus pauvres d'Europe. J'ai l'impression que tous les jeunes Suisses, hommes et femmes, qui travaillent dans le Tiers-Monde, ne se doutent pas du tout qu'ils rencontrent sur place leurs propres ancêtres: la Suisse du 19e siècle correspondait dans tous les domaines à un pays du Tiers monde actuel. Le travail des enfants y était normal. Sans aide humanitaire, la Suisse aurait difficilement pu survivre. En 1817, le pays fut frappé par une famine telle que non seulement nos voisins et l'Angleterre nous aidèrent, mais que même le tsar de Russie Alexandre I fit envoyer 100 000 roubles pour atténuer notre détresse. Mais, ce qui me préoccupe le plus personnellement est le fait que la Suisse était encore il y a une centaine d'années un pays d'émigration par excellence. Toutes les communes versaient des primes à ceux de leurs citoyens qui décidaient d'émigrer. Vous vous demandez pourquoi je vous parle de tout cela? C'est parce que je pense, Mesdames et Messieurs, que la Suisse est un excellent exemple montrant qu'on n'a pas le droit de désespérer. Les conditions peuvent changer. Ou pour dire les choses de façon plus accentuée: la Suisse était autrefois comparable au Sahel d'aujourd'hui. Il n'est pas impossible que ce soit pour cette raison que le major Rosmarie ne peut plus supporter la rhétorique tissée autour de l'aide humanitaire. L'évangile même n'est plus d'une grande utilité au major de l'Armée du Salut Rosmarie Häfeli: à quoi peuvent bien rimer les prières en Haïti? Ce dont les gens ont besoin, c'est de haricots, source de protéines, et d'un peu d'industrie qui permette de travailler. Quant aux haricots, elle peut encore en acheter, grâce à des parrainages, mais pour ce qui est de l'industrie, il faudrait que les Américains soient d'accord, mais ils ne le sont pas, tant pis, advienne que pourra! Après les jours de Pâques, des enfants manquaient régulièrement à l'appel. Privés de la soupe aux haricots des jours d’école, ils n'avaient pas survécu! Et la même menace pèsera sur les autres à Noël, à moins que d’ici-là ils soient abêtis par les chroniques oedèmes de la faim dont ils auront souffert. Lorsque j'ai fait la connaissance du major Rosmarie il y a quinze ans, elle venait d’agrandir l'école: grâce à des parrainages d'Europe et des Etats-Unis, c'étaient déjà 700 enfants, et non plus 30 comme au début, qui venaient dans la semaine pour la soupe aux haricots et pour apprendre à lire et à écrire. Les plus doués enseignaient aux plus jeunes. L'officier de l'Armée du Salut me dit qu'elle évitait de se demander à quoi cela servait. Est-ce que l’évangile servait au monde? Et comment voyait-on si l'amour de Dieu servait à quelque chose? Basta, quelqu'un devait bien faire ce qu'elle faisait à Port-au-Prince. La plupart des jeunes filles ne trouveraient en fait jamais de travail. Parions qu’ elles seront obligés de faire le trottoir. Les garçons s'en sortiraient par des agressions et trafics divers. Non! Vraiment! Ce qu'elle faisait ne servait à rien, me dit Rosmarie Häfeli, pourtant: il fallait bien le faire. Mesdames et Messieurs, il se peut que la première pierre de la maison de demain soit ce ‘pourtant’ apparemment insignifiant. Effectivement, ce sont ces ‘pourtant’, et eux seuls, qui permettent aux coopérants de construire, patiemment, le monde à venir. Martin Luther King on s'en souvient - avait trouvé les mots justes pour exprimer la signification de l'aide humanitaire, il disait d'elle qu'elle consiste à sculpter une pierre d'espérance à partir d'une montagne de désespoir.
Ladies and Gentlemen, Please excuse my addressing you so informally, but planning the future together is, I feel, a task that leaves no room for hierarchical and national distinctions. It is not merely a matter of persuading governments to part with funds for humanitarian aid no-one would dispute humanitarian aid. One only has to read the reports from the three conflict regions to understand why. The excellent reputation which humanitarian aid has enjoyed ever since Henri Dunant rests squarely on the shoulders of those at grassroots level, the professional, dedicated men and women who toil in the field.
Take, for example, the way governments play at politics at home and abroad. They too need our help, they need to be nudged in the right direction to prevent them from being caught between their own firing lines. What does this mean in terms of everyday politics? High-income countries, for example, do indeed part with funds for humanitarian aid, but at the same time they part with export risk guarantees to build dams in the third world. At home, an ERG guarantees thousands of man-years of work. In the developing country, on the other hand, hundreds of thousands are driven off their small holdings by the need to flood whole regions. The result: these hundreds of thousands are turned into displaced persons who can no longer survive without humanitarian aid. Quite a different problem is whether the government’s willingness to give humanitarian aid might not turn out to be a political cuckoos’ egg, once the government invents its own rules to play by. Of late, humanitarian aid has shown adulterous tendencies: like the camp-followers in the wake of 17th century mercenary bands it travels hard on the heels of armies. In other words: humanitarian aid by governments has become a corollary of their military involvement. Even more macabre is the speed with which the world forgot this farce. Instead, there was rejoicing at the lifting of veils in Kabul. Now the veils are slowly reappearing, but CNN has moved on and is busy getting us conditioned to war in Iraq. Amidst all these goings-on, who is in the mood to spare a thought for the starving in Ethiopia or Mozambique? The German playwright Bertold Brecht once wrote: Half the world’s population lives of the defective memory of the other half. Forget it. Nowadays one should say: Half the world’s population goes to ruin because of the defective memory of the other half. Mind you, we all know that even these figures are grossly inaccurate by now: A mere one-sixth of humanity lives in high-income countries, and this one-sixth is, generally speaking, perfectly capable of forgetting the five billion people who make up the other five-sixths. I know what I am talking about: I see it here at home. Despite all the talk of crises, Switzerland is still one of the world’s richest industrial nations and continues to be one of the world’s most important financial centres. But, ladies and gentlemen, think of the stress this involves! Shortly after World War Two an English lady wearing a pretty hat asked me if it was true that the Swiss worked so incredibly hard. At what time in the morning did my father start work in his printing factory? When I replied, "At seven o’clock, madam," the lady in the pretty hat uttered a memorable sentence: “It’s ever so uncivilised!” Major Rosmarie Häfeli of the Salvation Army has been administering humanitarian aid in Haiti for over 20 years. I know we are not talking about Haiti here, nor indeed about the Salvation Army, but I am firmly of the opinion that both are relevant to the topic we are addressing today. This must have something to do with my between-two-stools-grassroots perspective. Major Häfeli’s place is under the table, too, as seen from the perspective of humanitarian business management. She claims, by the way, that the worst stress she suffers is when she is on vacation in Switzerland. What a clueless bunch of blinkered moaners we are will we ever wake up to the rest of the world? In the slums of Haiti people wade up to their ankles in filth, and since the embargo, not a weekend has passed without her wondering whether she, too, won’t be clobbered to death like Father Joseph because she carries the key to the bean storehouse on her person - but in Switzerland nobody has the faintest idea what she is talking about, namely that in Haiti people kill each other to avoid dying from starvation. Are we not constantly being told that the world is a global village? Johannesburg and Port-au-Prince may be on different continents geographically, but in reality they are both synonyms for the same globalised wretchedness. A few weeks ago, a friend of mine was shot at. She was a member of the Swiss delegation to the World Summit in Johannesburg. One night a thief crept into her hotel room through the bathroom window, and when she woke he shot at her, narrowly missing her head. The crime was not in the least politically motivated. Women Tourists are simply a kind of natural resource which must be exploited at once before it gets on a plane and flies off. In Switzerland the media responded with the pithy comment: Swiss delegate escapes with no more than a fright. What does this really mean? I always thought it meant that there was a happy ending. Now I know that escaping with no more than a fright means: being unable to sleep without a light, being unable to ignore any unidentifiable noise, never being able to enter a dark room. On her return home, my friend was met at the airport by a trauma specialist. How different are the standards applied within one and the same country: a foreigner seeking asylum in Switzerland will certainly not have escaped with no more than a fright, he or she has at the very least been uprooted. And yet, even if this person suffers from severe trauma, he or she cannot count on being granted asylum, unless he is the victim of political persecution. How does one prove that a trauma is caused by political persecution? Even signs of torture are in themselves no proof. Firstly they could have been self-inflicted, and secondly the authorities must ascertain whether maltreatment isn’t a perfectly normal thing in the person’s country of origin. It’s ever so uncivilised. But worst of all, ladies and gentlemen: the procedures for processing asylum seekers are more or less the same in all high-income countries. Perhaps the focus of the Salvation Army major’s indignation should be extended beyond Switzerland: the entire industrialised world is hiding its head in the sand. What frightens it most is this very factor: that one day it may no longer be able to hide from reality. Is this how one builds the future? Perhaps we should start by looking at our own history from a less rosy perspective. I shall use Switzerland as an example, since I know it best: We need only turn the pages of history back one or two centuries to discover that Switzerland was one of the poorest countries in Europe. I wonder if any of those young Swiss engaged in humanitarian work in the third world are aware that, in those regions, they are being confronted with their own forebears? In all respects, 19th-century Switzerland corresponded to a modern-day third world country. Child labour was the norm. Without humanitarian aid Switzerland would hardly have survived: in 1817 our country suffered a famine of such dimensions that not only our neighbours and Great Britain came to its aid. Tsar Alexander I of Russia himself donated 100,000 roubles to alleviate our suffering. What I find remarkable, though, is this parallel: one hundred years ago people were leaving Switzerland in droves. Every community paid a per capita premium for every citizen who decided to emigrate. Why am I telling you this? Because I believe that Switzerland is a good example of why one should not lose hope. Conditions can change. Or, to put it more bluntly: Switzerland was once comparable to the present-day Sahel. Perhaps this is why Major Rosmarie Häfeli is so allergic to our hollow phrases about humanitarian involvement. Mind you, she cannot bear twaddle about faith and the gospel either: it is no good praying for Haiti, she says. What they need is beans as a source of protein and a little industry to provide jobs. Beans Major Rosmarie can buy, thanks to sponsorships, but when it comes to establishing industry, the USA must be willing to help. They aren’t, so everything goes to the dogs. After each Easter break, she says, a number of children won’t turn up for roll-call: without their daily soup rations at school they haven’t managed to survive. As for the others, they either face the same fate over Christmas, or by then their brains will have been addled by chronic nutritional oedema. When I first met Major Rosmarie 15 years ago, she had just enlarged the school. Thanks to sponsorships from Europe and the USA, the number of children receiving bean soup and elementary schooling had increased from 30 to 700, and the brightest pupils were now teaching the younger ones. So what does she achieve? Major Rosmarie says she does not like to think much about it. Of what use is the gospel? How can one tell whether the love of God is any use? But never mind: someone simply has to do this job in Port-au-Prince. Most of the girls will never find work, so you can bet your bottom dollar they’ll finish up as prostitutes. The boys are likely to survive by robbery and dealing. No, says Rosmarie Häfeli, there is no point in what she is doing, but that’s the way it is, and it has to be done, nevertheless. Perhaps, ladies and gentlemen, this simple ‘nevertheless’ is the first brick towards building tomorrow's house. For the grassroots workers in the field, this ‘nevertheless’ is the only thing to rely on. Martin Luther King has said more elegantly and more succinctly than I what humanitarian aid is all about: the act of hewing a stone of hope out of a mountain of despair.
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Predigt an den Solothurner Literaturtagen
2003 |
ich frage mich, wieso sich das Jahrtausendealte Gerücht noch immer halten kann, Religion sei schon an und für sich etwas Positives. Nichts hat auch nur annährend soviel Elend und Blut über die Welt gebracht, wie religiöse Überzeugungen.
Lesebeispiel: |
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Predigt an den Solothurner Literaturtagen 2003
Ich möchte meinem Gottesdienst eine Textstelle aus dem Alten Testament zu Grunde legen. Sie steht im Buch des Propheten Jeremia und ist überschrieben mit 'Trostwort an Baruch'. Baruch ist der Schreiber des Jeremia, und er seufzt über sein eigenes Dasein und das Schicksal Israels: "Wehe mir: Der Herr häuft noch Kummer auf meinen Schmerz. Der Herr antwortet ihm: "Siehe, was ich gebaut, ich reisse es nieder, und was ich gepflanzt, ich reisse es aus.
PREDIGT:
Liebe Mitsuchende, Was heisst das nun für Sie ganz persönlich? Sitzen Sie auf der Kirchenbank wie auf einem Pulverfass, oder vertrauen Sie darauf, die Bibel habe trotzdem Recht? Die Frage ist nur, ob Gott immer derselbe ist, in der Bibel. Dazu muss ich Ihnen eine Episode erzählen: Ein Freund von uns war in Bern Musiklehrer am Gymnasium Neufeld. Im letzten Frühling ist er an einem Herzinfarkt gestorben. Zu seinem Andenken wollten die Schülerinnen und Schüler ein Konzert veranstalten mit lauter Lieblingsstücken des Lehrers. Ich halte das für etwas Wunderbares: Dass die jungen Leute ihrem Lehrer für sein Leben danken mit der Auferstehung seiner Arbeit. Aufs Programm kamen moderne Komponisten und der Psalm 110 für drei Chöre und basso continuo von Heinrich Schütz - ein Komponist des 17. Jhdts. Drei Tage vor dem Konzert starteten die USA und Grossbritannien ihren Feldzug gegen den Irak. Und schlagartig hörte der Text des Psalms auf, historisch zu sein, er wurde zur weltpolitisch aktuellen Aussage. Die jungen Sängerinnen und Sänger fürchteten, im Publikum werde Tumult ausbrechen ob der infamen Kriegshetze. Der 110. Psalm Davids beginnt nämlich mit den Worten: Es spricht der Herr: Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich hinlege deine Feinde als Schemel für deine Füsse.
er zerschmettert Könige am Tage des Zorns, er hält unter den Heiden Gericht, dass es voll wird von Leichen… Ein protestantischer liberaler Pfarrer, der lange Jahre Mitglied der Schulkommission Neufeld war, hat in aller Eile einen Kommentar verfasst, der als Handzettel im Publikum verteilt wurde: Der 110. Psalm sei tatsächlich ein zutiefst problematischer, ja, ein geradezu ‚unmöglicher’ Text. Aber seiner Ideologie werde innerhalb der Bibel selbst widersprochen. Gott werde nicht eine grosse Schlacht tun, er werde auf der Seite der Opfer zu finden sein. Ich frage mich, ob da unterschwellig nicht einfach das Alte Testament gegen die Evangelien ausgespielt wird, fast so, als wäre der Rächer-Gott im christlichen Neuen Testament zum Erbarmer geworden. Die Kreuzzüge sind allerdings im Namen Christi geführt worden, die Conquistada Südamerikas und die Inquisition nicht minder. Ich komme nicht, Frieden zu bringen auf Erden, sondern das Schwert? Der englische Dichter Percy Bisshe Shelley, der 1822 in Rom gestorben ist, hat geschrieben: Dies ist die einzige Vorhersage Christi, die unbestreitbar eingetroffen ist. Vielleicht verletzt Shelleys Feststellung Ihre religiösen Gefühle. Dann, allerdings, hätte Ihr Glaube Platz in der privaten Erbauungsecke, dort muss er sich nie verändern. Und du begehrst Grosses für dich? Begehre es nicht. Denn siehe, ich bringe Unheil über alles Fleisch, aber dir gebe ich dein Leben zur Beute, allerorten wohin du gehst. Was hören Sie persönlich aus diesem Spruch? Dass Gott damit befasst ist, ob und wie oft Sie ihn lobpreisen? Hören Sie gar heraus, dass er Sie beobachtet, um sich ein Strafregister Ihrer Verfehlungen anzulegen? Wenn wir gemeinsam beten und gemeinsam Bibeltexte lesen, so hören wir deswegen noch lange nicht denselben Text und beten nicht dieselben Gebete. Unser Charakter mischt mit. Es ist fast so, als riefen hier alle im Chor ‚ICH’ - aber jedes Ich ist ein anderes. Versuchen Sie doch zu Hause einmal aufzuschreiben, was ‚ICH' - diese Weltmacht mit drei Buchstaben alles bedeutet, nur gerade in Ihrem persönlichen Fall. Es ist lächerlich schwierig, Sie brauchen das Wort ICH zwar jeden Tag, ohne drüber zu stolpern, und doch verändert es sich hinterrücks und stirbt ab, ohne dass Sie es überhaupt merken, das ICH Ihrer Jugendzeit kann bloss nicht mehr gemeint sein, wenn Sie mit 50 ICH sagen. In Johannes 11, Vers 4, heisst es: Diese Krankheit führt nicht zum Tode, sondern sie dient zur Ehre Gottes. Man kann es auch bescheidener ausdrücken. Ein italienischer Schneider, den ich vor 25 Jahren im Spital kennen lernte, hat mir beim Bestrahlen gesagt: Man wird nicht ein anderer, wenn man krank ist, Signora, es tritt nur immer klarer zu Tage, wer man ist. Die einen sind Soldaten und die anderen Kanonenfutter. Ach, der Mensch! Diesen Satz hat mein Vater immer geseufzt, wenn er verstand, was nicht gesagt, was aber plötzlich durchsichtig geworden war: die Erbärmlichkeit religiöser Buchhaltung. ‚Herr, setze deine Naturgesetze ausser Kraft für mich, das habe ich von dir zugut’. Unterschwellig hat meine Nachbarin auch gleich preisgegeben, was sie ein Leben lang vom Leiden anderer gehalten hat: Der Sünde Lohn. Liebe Mitsuchende, ich zögere, mich selbst als Christin zu bezeichnen, ich bin nie sicher, ob ich der Nachfolge gewachsen bin. Was bedeutet sie denn, für meine Zukunft? Ich kann zwar der Passionsgeschichte Jesu in der Kirche zuhören oder nicht zuhören aber sie wird sich so oder so an mir vollziehen. Vielleicht ganz anders und in winzigem Massstab aber ich muss den eigenen Karfreitag bestehen, ehe Ostern kommt. Vielleicht ist es dann ein Trost, dass Jesus in seiner Verlassenheit auch nach dem Vater gerufen hat. Nur gibt es auch die andere, fast würde ich sagen die nicht-private Auferstehung: die der politischen Umstände, die Jesus zerbrochen haben. Abertausende werden auch heute, am 31.Mai 2003, denunziert, wie Jesus denunziert worden ist, Abertausende werden von ihren Nächsten verraten, wie Jesus verraten worden ist, Abertausende werden von einer Besatzungsmacht gefoltert und hingemordet wie Jesus seine Passion ist Alltag geworden in unserer modernen Welt. Ich frage mich, was unter diesen Umständen heissen soll, die Menschheit sei erlöst? Dann hören Sie sich den Text des Flugblattes an, das in den späten Sechzigerjahren in einem Priesterseminar von Lissabon auftauchte. Es handelte sich um eine polizeiliche Suchanzeige: WANTED PERSON Zweckdienliche Angaben werden erbeten zur Festnahme des Jesus Christus, angeklagt wegen Verführung, anarchistischer Tendenzen, Verschwörung gegen die Staatsgewalt. Besondere Kennzeichen: Narben [an Händen und Füssen]. Angeblicher Beruf: Zimmermann Nationalität: Jude. Decknamen: Menschensohn, Friedensfürst, Licht der Welt. Ohne festen Wohnsitz. Der Gesuchte predigt Gleichheit und Freiheit aller Menschen, vertritt utopische Ideen und muss als gefährlicher Aufrührer bezeichnet werden. Hinweise bitte an jede Polizeistation.
Und wiederum sah ich all die Bedrückungen, die unter der Sonne geschehen, sah die Tränen der Unterdrückten fließen, Und niemand tröstete sie. Da pries ich die Toten, die längst Gestorbenen, glücklicher sind sie als die Lebenden, die jetzt noch leben, und glücklicher als beide der Ungeborene, der noch nicht geschaut hat das böse Tun, das unter der Sonne geschieht. Die Heilsarmee Majorin mag nicht über Bibeltexte fackeln: Was die Kinder brauchten seien Bohnen, um Eiweiss zu bekommen, und wirklich helfen würde Haiti nur etwas Industrie. Aber da müssten die Amerikaner erst einmal investieren und die wollten nicht also aus und basta. Nach den Osterferien fehlten regelmässig Kinder beim Appell, die seien ohne Schulsuppe verhungert. Den anderen drohe dasselbe über Weihnachten, ach, unzählige seien bis dahin verdummt an ihren chronischen Hungerödemen. Sie dürfe nicht drüber nachdenken, sagt die Majorin. Was nütze ihr Ausharren eigentlich? Andrerseits sage sie sich, Aufgeben nütze erst recht nichts. Und was überhaupt heisse nützen? Basta: Jemand müsse in Port-au-Prince weiter tun, was Père Joseph getan habe. Die meisten Mädchen fänden zwar nie Arbeit, also könne man 2 und 2 zusammenzählen: sie müssten den Strich machen. Und die Buben würden sich mit Überfällen und Dealen über Wasser halten, nein, was sie mache, nütze nichts. Aber es sei, was es sei, das immerhin dürften Père Joseph und sie für sich in Anspruch nehmen. Liebe Mitsuchende, hat Jesus Christus genützt? Oder aufersteht er nur immer aufs Neue und wird wieder verraten und hingemacht, und Maria Magdalena harrt aus, dass der Stein immer aufs Neue vom Grab gerückt wird?
(Orgelspiel) 3) LESUNG aus dem Neuen Testament: (Lektor) Erster Johannesbrief 3, 11-15: Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, dass wir einander lieben sollen nicht wie Kain von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug. Und warum erschlug er ihn? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht. (Orgelspiel) 4).LESUNG. Kurdisches Kampflied aus dem 8. Jhrdt. Vor Christus:
Du aber erhebe dich! |
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Inspiration Liebe
1997 |
Trat mein Mann ins Zimmer, hielt ich reflexartig die Arme übers Blatt und bekam Herzjagen. Mein Körper machte mir die zweideutige Situation eindeutig: mein Mann hatte mich in flagranti ertappt. Ein Blatt Papier als Liebhaber? Lesebeispiel: |
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Das Netzwerk schreibender Frauen forderte Maja Beutler 1997 auf, einen Artikel für die Verbandszeitschrift zu schreiben.
Plötzlich fragte sie mich, was die Liebe sei. Ich erwiderte aus dem Stegreif: (Werner Kraft über Else Lasker-Schüler). INSPIRATION LIEBE 1983 habe ich für Radio DRS ein Feature über den deutschen Schriftsteller Walter Mehring gemacht. Er konnte zu diesem Zeitpunkt kaum noch schreiben, er sprach nur pausenlos von seinem Werk, das nicht abgeschlossen sei. Aber Mehring war ein greisenhaft fragiler Mann, gallig geworden ob all den Jahren im Exil, verbittert von politischen Klüngeleien und den Ungereimtheiten des Literaturbetriebs. Auch das Hildchen strapazierte Mehrings Gleichmut, obgleich sie Schauspielerin gewesen war, „das immerhin will ich dir zugute halten - aber dein Niveau, Hildchen!“. Aber Mehrings Antwort hatte an einen Zusammenhang gerührt, der mir peinlich war. Eine Liebes-Bewandtnis schien es mit meinem Schreibakt nämlich zu haben: Trat mein Mann ins Zimmer, hielt ich reflexartig die Arme übers Blatt und bekam Herzjagen. Mein Körper machte mir die zweideutige Situation eindeutig: Mein Mann hatte mich in flagranti ertappt. Ein Blatt Papier als Liebhaber? Beim Schreiben geriet ich in einen Zustand, den ich - schon um seiner selbst willen - immer aufs Neue wollte, eine Art Orgasmus im Kopf. Dass sich der Text beim nüchternen Durchlesen als Wechselbalg entpuppen könnte, wusste ich zwar diffus. Aber im Schreibrausch glaubte ich unverdrossen, etwas Grossartiges zu schaffen. Am Morgen danach... Leider nein: Da stand auf den Zeilen, was ich niemals geschrieben hätte. Also ging die verdammte Plackerei los: mich in unzähligen Arbeitsgängen an das einmal ‘Gesehene’ heran zu schreiben, und wenn es tags darauf nicht auf der Zeile stände, so spiegelte es sich mir doch wider im Rausch - beim Durchlesen würde es allmählich schattenhaft erkennbar werden... Cool, dass ich diese romantisierende Passage in die Vergangenheitsform gesetzt habe. Heute halten sich meine Schreibräusche nämlich im Rahmen: Schriftliche Blaukreuz-Phase. Eine Altersfrage, nehme ich an, möglicherweise auch mehr Professionalität. Seltsam nur, dass die nüchternen Plackereiphasen sich dehnen, ich sehe den Unterschied zwischen Vision und Resultat immer schärfer, ich schrecke vor dem Schreibtisch zurück, aus Feigheit, natürlich, aus Angst, die Kraft zu verlieren. Wolfang Hildesheimer hat in den 8oer Jahren ein gewichtiges Presse-Communiqué erlassen: Für eine derart verfuhrwerkte Welt ohne Zukunft weigere er sich, weiterzuschreiben. Ein Roman koste ihn vier Jahre Leben, bei solchen politischen Zuständen reue ihn die Zeit dafür. Gegockel, aber apart. Als Autorin imponierte mir, was für ein Rauschen im Blätterwald der angedrohte Liebesentzug auszulösen vermochte. Ergreifend ernst. Taktvoll wurde die Frage nirgends gestellt, ob Hildesheimers Entschluss ein Missverständnis der eigenenen Arbeit zugrunde liegen könnte. Es wurde auch nicht gefragt, ob Literatur nicht ‘Sinn für das Unsinnige’ voraussetze und à fonds perdus geschrieben werde. Wie die Liebe, die famose, geliebt? Ich weiss nur, dass für mich beides ineinander verschwimmt: ich ‘sehe’ eine Person, die realiter nicht vorhanden ist, auch wenn ich sie umarmen kann. Sie will so unverdrossen geglaubt sein, wie mein ungeschriebener Text - den ‘Erfahrungen am Morgen danach’ zum Trotz. Allerdings verschwimmen mir auch die Konflikte. Während meiner Krebserkrankung habe ich einen Dialog geschrieben: Die eigene Vernunft senkelt mich als Autorin: ....Irgend jemand in dieser Familie führt die andern an der Nase herum? Richtig. Und vielleicht ist es noch ein bisschen mehr. Vielleicht ist es Betrug. Nein, kein Seitensprung. Viel undurchsichtiger und stiller. Immer nur hinter der Stirn und auf Papier. Ganze Lebensläufe, ganze Existenzen hast du durchlebt. Und niemand konnte einen Finger drauflegen. Keine Tatsachen - Imagination. Du hast Figuren erdacht, jedes Härchen einzeln hast du ihnen erdacht, jede noch so minutiöse Gefühlsveränderung hast du ihnen erdacht. Was für ein Zeitaufwand. Grösser als irgendwann für ein Kind. Und ausgerechnet du hast das Gefühl: ‘Ich werde an der Nase herumgeführt von meiner Familie’. Weil sie überlebt, wenn du stirbst? .... Else Lasker-Schüler schrieb in Jerusalem kaum noch. Eines ihrer letzten Worte soll gewesen sein: „Mit mir geht es zuende, ich kann nicht mehr lieben."
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‚Blick durchs Fernglas’
Zum Tag der Kranken 2002 |
Er fragte, ob mein Mann für Finken schwärme, dass ich nie Schuhe an den Füssen hätte.
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Blick durchs Fernglas In Zürich heisst das Kantonsspital Kantonsspital, auch in Basel ist es kein Haar besser. So hat Onkel Robi nach 92 Jahren Gesundheit nicht gleich verstanden, was Krankwerden heisst. Keine zehn Tage nach der Darmoperation erklärte er, jetzt sei fertig Stägeli uf Stägeli ab, entweder werde sein Bauch innert 24 Stunden wieder hergestellt oder der Chefarzt persönlich segne das Zeitliche - unter dem Serviettli im Nachttisch liege der Revolver griffbereit. In Bern wären derartige Irrtümer undenkbar, da heisst das Kantonsspital 'Die Insel'. Klarer könnte nicht ausgesteckt werden, was Kranksein bedeutet. Den italienischen Schneidermeister Pedroni habe ich erst beim Bestrahlen kennen gelernt. Er weigerte sich höflich, in Bademantel und Spitalhemd im Wartezimmer zu sitzen, er fühle sich in Anzug und Krawatte krank genug. Ein paar Tage später erklärte er dem Arzt, Schmerzen könne er besser tolerieren als Frömmler, die seine Krankheit zur Strafe umfunktionierten. Pedroni lächelte und deutete mir, ich solle eine Spur aufrechter sitzen: es wirke gesünder. Ein paar Tage später fragte er, ob mein Mann für Finken schwärme, dass ich nie Schuhe an den Füssen hätte? Signor Pedroni brachte mir nach und nach jede Freiheit bei, die mir die Krankheit liess. Aber vielleicht ging es um Wesentlicheres. Er blieb mitten im Korridor stehen und fragte, ob mich nie Neid ergreife? Nicht auf die Gesunden, nein, er denke nur, wenn einer käme und sagte, ,deine ganzen drei Jahre Leiden haben einen Sinn, sie werden die Menschheit erlösen' ... Schnell fügte Pedroni an, von Gott zu reden heisse, sich zu verkleiden. Sogar das Wort Schicksal schlottere fremd am Leib. „Sagen wir: ,Ich habe Angst', Signora, dann ist der Stoff exakt zugeschnitten und es geht drum, die richtige Fasson zu finden." Am Tag, als die Strahlentherapie bei mir abgebrochen werden musste, sagte Pedroni, ich solle aufpassen mit Reden: Tumore bombardieren, Zellen aushungern - das Kriegsvokabular erkläre den Körper zum Aufmarschgebiet medizinischer Heerscharen. Spüre ich nicht etwas anderes? In mir drin? Er rede nicht von der Seele, er fühle es körperhaft. Eine Einheit, vielleicht, oder doch das Verlangen danach, nein, ein Heimweh sei's. Jetzt ist die Kieferchirurgie auf Geschoss J untergebracht, ein Patient zieht den Infusionsständer quer durchs Raucherzimmer, wo sich alle zusammenrotten, die selber schuld sind. Aber vielleicht, dass den Architekten gegraust hat vor christlichen Rache-Schwaden, wie einst Pedroni: Der einzige frei zugängliche Balkon liegt vor dem Raucherzimmer. So landet der Patient samt Infusionsständer draussen, in den rauen Winden der Freiheit. Er kramt sein Fernglas aus dem Bademantel und nimmt es hoch. Nach einer Weile setzt er es ab und schiebt die Glastür einen Spalt breit auf: "Möchte jemand durchblicken? Die Aipen." Alle schütteln den Kopf. Der Patient gibt freimütig zu, dass man sowieso nicht ins Wallis sehe. Wäre ja gelacht, wenn er als Walliser glaubte, von der Insel aus... Item, er sage sich immer, wenn er oben auf den Alpen wäre, die er bei klarer Sicht im Glas halte, dann könnte er frei hinunter ins Wallis blicken. Alle schweigen. Sorgsam schiebt der Patient die Tür hinter sich zu. |
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Kindheit
ein Theaterstück für drei Überlebende 1976 |
Wenn der Vorhang über ‚Kindheit’ fällt, ist keiner so leibhaftig da, wie dieses unsichtbare Kind.
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Kindheit, ein Theaterstück für drei Überlebende Es fällt mir auch im Rückblick nicht leicht, die Aufführung zu rezensieren. Ich stehe noch immer unter dem Eindruck, einem Kriegsstück beigewohnt zu haben, obschon Schlachtszenen fehlten und auch kein Hilfeschrei zu hören war. Es wurden nur Niederlagen gezeigt, alle lautlos und beschwiegen. Vordergründig ist das Stück handlungsarm: Zwei ältliche Partner zelebrieren die com-me-il-faut-Ehe auf der Bühne, die Stimmen werden kaum je gehoben, ein gefügiges Mädchen ist zwischen den beiden und scheint in die Bilderbuchgemeinschaft zu passen. Jeder meint es gut mit jedem, und alle lächeln sich freundlich zu. Wo liegt der dramatische Zündstoff in dieser belanglosen Familiensituation? In einem Geschehnis, das auf der Bühne nicht gezeigt wird, das auch zeitlich weit zurückliegt, wenn der Vorhang hochgeht. Aber jedes Wort, das gesprochen wird, jedes Wort, das in der Luft hängt, alles, was geschieht und nicht mehr aufzuhalten ist, geht von diesem einen Ereignis aus: Ein Knabe stirbt. Der Autor streift also mit dem Thema die Grenze des Sentiments, und das allein lässt Er lässt, stark vereinfachend, alle drei Überlebenden zerbrechen, freundlich lächelnd. Der Vater kämpft nicht, keinen Augenblick, er liest. Er liest im Stehen und Gehen, er liest vor dem Schlafen und gleich beim Erwachen, er liest noch über den Tellerrand weg. Das weite Feld der Wirklichkeit gehört ganz der Mutter. Sie verliert sich im Vergleichen ihrer Kinder, sie erzieht ununterbrochen, sie ist pausenlos am Korrigieren und will immerzu das Beste. Das Mädchen verschattet unter dieser aufsässigen Liebe, es verstummt und wird seinen Ersatz in Träumen suchen! Drehpunkt in seiner Entwicklung mag die Ballonszene sein: Da versucht das Kind, noch einmal zu handeln und die Weichen selber zu stellen. Es beschliesst, sich den toten Bruder mit einem Geburtstagsgeschenk zum Verbündeten zu machen. Das Mädchen erscheint auf der Bühne mit einem, roten Luftballon, Der Vorhang fällt über dem Warten des Kindes auf Antwort. Es ist schade, dass der Autor auch in der Milieu- darstellung nicht frei ist von Übertreibungen. Vor allem die Mutter zeigt karikierend bürgerliche Züge. Und könnten gesellschaftliches Gefälle und eheliche Enttäuschungen nicht subtiler gezeigt werden? In ‚Kindheit’ ist die Frau jeden Tag aufs Neue gezwungen zu sagen, dass nur sie Suppe löffeln kann ohne zu schmatzen. Und allmorgcndlich lässt der Autor sie einen Kalenderzettel heranterreissen und laut vorlesen, immer mit dem Nachsatz: «Jaja, der hat schon recht. Der schon.» |Im Grossen und Ganzen also ein recht zwiespältiges Theatererlebnis. Die Rezensentin fragt sich sogar, ob sie nicht zu viel Zeit verloren hat, es sich anzusehen.' |
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Immergrün
1993 |
„Du verwechselst mich doch nicht“, fragt Ruth eine Spur zu sachlich, „ich bin Odette“. Ich lasse die Hände sinken: Odette? Was wird da gespielt?
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Immergrün (Veröffentlich in der Anthologie ‚… und auf einmal bin ich alt’, 1993) Im Traum wird die Türfalle behutsam niedergedrückt. Die Tür springt zum zweiten Mal auf: Ruth. Was heisst Ernüchterung? Mit einem einzigen Blick erfasse ich: welk geworden, unser Zauber. Und wie Ruth die Handtasche an sich presst: eine Spur altjüngferlich. Wirken wir jetzt beide so? Unwillkürlich lächle ich und gehe Ruth die paar Schritte entgegen: „Liebe, eben hat Odette mir die Augen geöffnet - geht es bergab mit uns?“ Ruth zwinkert. Einen Augenblick will mir das Herz stillstehen: ‚Sie weiss nicht wirklich, wer ich bin’. Aber da reisst Ruth schon die Arme auf und ruft: „Natürlich.“ Ach, wie sie mich umhalst. „Ist ja gut“, flüstere ich, „jaaja, Ruth, wir Zwei.“ Gleich löst sich Ruth und streicht mir übers Haar: „Du verwechselst mich doch nicht“, fragt sie freundlich, „ich bin die Älteste, Mirjam, du erinnerst dich natürlich.“ |
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Politisches Fragespiel
1998 |
Sind Sie dankbar, dass der Eidgenossenschaft durch Napoleon eine neue Verfassung übergestülpt wurde? Oder haben Sie nicht realisiert, dass wir bis heute in einer Verfassung paradieren, der ein ausländisches Schnittmuster zu Grunde liegt?
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Politsches Fragespiel
2. Ist Ihnen bewusst, dass 1798 in der Schweiz nicht inländische Vorstellungen von Freiheit zum Tragen gekommen sind, sondern die Ideale der französischen Revolution? Sind ‘liberté, égalité, fraternité’ deswegen weniger schweizerisch? 3. Trifft es Ihren Nationalstolz, dass ganz Europa erfasst war vom selben Verlangen nach Gerechtigkeit? Oder beruhigt es Sie, dass die Schweiz von Europa mitgeprägt ist? 4. Sind Sie dankbar, dass der Eidgenossenschaft durch Napoleon eine neue Verfassung übergestülpt wurde? Oder haben Sie nicht realisiert, dass wir bis heute in einer Verfassung paradieren, der ein ausländisches Schnittmuster zu Grunde liegt? 5. Empfinden Sie es als Makel, dass die Eidgenossenschaft nicht fähig war, sich im Alleingang zu erneuern? Oder kommen Sie zum Schluss, dass es auch heute Druck von aussen braucht für Reformen? 6. Ist für Sie die Gründungs-Idee Schweiz verwässert worden durch europäische Gedankenströme und darf nicht ständig weiter verwässert werden? Heisst das in Klarschrift, dass nur die Schweiz von 1291 Ihre Schweiz ist? Gehören Sie überhaupt dazu, wenn Ihr Heimatort 1291 ‘zum Ausland’ gehörte? 7. Hat nicht Friedrich Schiller das Rütli erst zum Rütli gemacht, das Sie so gerne beschwören? Stört es Sie nie, dass unser Nationaldrama ‘Wilhelm Tell’ von einem Deutschen geschrieben wurde? Sagen Sie sich zum Trost, dass auch die Bibel kein Schweizerwerk ist, oder haben Sie deswegen mit reinem Gewissen gegen das Kulturprozent gestimmt? 8. Erfüllt es Sie mit Zuversicht, dass nationale Grenzen auch vor 1798 existierten, aber die revolutionäre Zeitströmung davor nicht Halt machte? Oder ist Ihre Sorge, dass die Schweiz sich auch heute nur territorial abzuriegeln vermag, das globale Denken aber trotzdem Einzug hält? 9. Welchen Stellenwert weisen Sie in diesem Prozess der Armee zu? 10. Was halten Sie für das wichtigere Vorbild bei der Ausgestaltung des Bundesstaates von 1848: Frankreich oder die Vereinigten Staaten? 12. Wie erklären Sie sich in diesem Zusammenhang, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger es vor 2 Jahren abgelehnt haben, den Kindern von Gastarbeitern die Einbürgerung zu erleichtern, die in der Schweiz geboren, hier zur Schule gegangen und sich ohne Unterbrechung hier aufgehalten haben? Gehen Sie zurück zu Frage 6. 13. Wie reagieren Sie auf den Ausdruck ‘moderner Bundesstaat’: denken Sie unwillkürlich, es sei von der heutigen Schweiz die Rede? Enttäuscht es Sie, dass das letzte Jahrhundert gemeint ist? 15. Warum nicht? Könnten Sie Ihre Gründe auf einen Zettel schreiben, ohne die Formulierung ‘die da oben’ zu brauchen? Wer regiert Ihrer Ansicht nach die Schweiz, dass kein demokratisches Recht dagegen hilft? Oder hat Politik ihr Recht verloren, weil wirtschaftliche Entwicklungen über die Zukunft der Schweiz bestimmen? 16. Sind Sie der Meinung, heute hätte die Schweiz es sogar leichter, wenn die direkte Demokratie nach 1848 nicht weiter ausgebaut worden wäre? Verunmöglicht es uns den Beitritt zu Europa? 17. Wie erklären Sie sich denn, dass die Schweiz auch der UNO nicht beigetreten ist, obgleich damit kein einziges demokratisches Recht in Frage gestellt worden wäre? Bevor Sie aus dem ‘gesunden Volksempfinden’ heraus antworten, überlegen Sie sich, ob Beitrittsgeld sparen nicht jener Punkt in der politischen Rechnung war, den unsere Kinder teuer bezahlen werden. Wenn Sie nämlich recht haben und die Schweiz von globalen Wirtschaftsentwicklungen abhängt, so wäre es umso dringender, die Wirtschaft weltweit zu ordnen. Kennen Sie ein anderes Gremium als die Uno, das dazu überhaupt in der Lage sein könnte? 18. Ging der Satz ‘Sie haben sich im Kriege schlau gedrückt und drücken sich nicht minder schlau im Frieden’ nach der 1. UNO-Abstimmung der Schweiz durch die ausländische Presse? 19. Hat es die Vorwürfe aus dem Ausland gebraucht, um Sie nachdenken zu lassen, ob wir vom 2. Weltkrieg nicht tatsächlich profitiert haben? Oder war Ihnen längst klar, dass die Schweiz nie vorher zu den reichen Ländern zählte? 20. Wann war die letzte Hungersnot im Tessin? Lassen Sie sich helfen: es war im 20. Jahrhundert. 21. Wissen Sie, bis wann Kinderarbeit in der Schweiz an der Tagesordnung war? Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde es üblich, wenigstens Kinder unter zwölf Jahren davon auszunehmen. Die Arbeitszeit der andern betrug 12 Stunden und begann morgens um 5 Uhr. 22. Geht Ihnen je durch den Kopf, dass Sie sich nur ein gutes Bild der Schweiz des 19. Jahrhunderts machen können, wenn Sie heutige Berichte über Länder der 3. Welt lesen? 23. Haben Sie vergessen, dass die Schweiz noch Anfang des 20. Jahrhunderts ein Auswanderungsland par excellence war und jede Wohngemeinde Kopfprämien zahlte für Bürger, die sich zur Emigration entschlossen? Verändert das Ihren Blick auf heutige Wirtschaftsflüchtlinge, die in der Schweiz Zuflucht suchen? 24. Halten Sie uns für zu tüchtig, um je wieder arm zu werden wie unsere Urväter waren? Wieso besingen und beschwören wir sie an jedem 1. August, wenn uns schon die Aussicht schreckt, unsere Kinder müssten auf das schweizerische Niveau vor dem 2. Weltkrieg zurückstecken? 25. Worauf gründen Sie Ihren Glauben, die Schweiz müsse nur glauben an sich, um ein reiches Land zu bleiben? Haben Sie vergessen, was uns selbst in der Schule nie verschwiegen wurde: dass wir keine Bodenschätze haben? 26. Haben Sie nie den Eindruck, geschichtliche Rache sei nur ein anderer Ausdruck für wirtschaftliche Konsequenzen? Besteht für Sie kein Bezug zwischen der Verelendung der 3. Welt und der Krise auf dem Arbeitsmarkt der 1. Welt? Mit den Löhnen welcher Länder stehen unsere Arbeitskräfte denn in Konkurrenz seit der Globalisierung? |
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Brauchen die Berner jetzt Dolmetscher, um mit Bernern zu reden?
1985 |
Man muss in den Fragen mindestens die Spinner weglassen, um nicht Arschlöcher zur Antwort zu bekommen.
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Brauchen wir Berner jetzt Dolmetscher,
BRAUCHEN WIR BERNER JETZT DOLMETSCHER, UM MIT BERNERN ZU REDEN? Ich bin zwar Übersetzerin, rein ausbildungsmässig, aber ich würde mir nicht zutrauen, der Stadt das Wort «Zaffaraya» auszudeutschen, dem Gemeinderat den Begriff «Kollegialität», oder den Zaffarayanern «staatsbürgerliche Pflichten». Ich weiss nur, dass ich im Übersetzeralltag rund um die Welt am besten brauchen konnte, was rund um die Welt verpönt ist: Fehler zu machen. Ganz bewusst. So musste ich in Rom einmal dolmetschen, als eine Kühlanlage installiert wurde. Dem Schweizer Ingenieur fiel als erstes auf, dass bereits ein Ventil zertreten am Boden lag. Er brüllte die zwei römischen Techniker an: «Und mit so einer Equipe soll man zusammenarbeiten? Welcher Spinner hat die Präzisionsteile auspacken lassen, bevor wir da waren?» Ich habe, ebenfalls brüllend, übersetzt: «Schon ein Ventil in Stücken. Wie können wir auf Termin fertig werden? Was schlagen die Kollegen vor?» Kurz und gut: Man muss in den Fragen mindestens die Spinner weglassen, um nicht Arschlöcher zur Antwort zu bekommen. Auch in der Version deutsch-deutsch. Es hat mich in den letzten Wochen am meisten frappiert, mit welcher Gehässigkeit Urteile abgegeben wurden. Und immer war schon Stellung bezogen, wenn man über Lösungen hätte beraten müssen. Ich meine, nicht nur zwischen Gemeinderat und Zaffaryanern, sondern auch zwischen Bürgern und Bürgern. Sogar in der Presse ist man selten über die Stimmungsmache hinausgekommen. Es sind Gewinner- und Verliererpunkte aufgelistet worden, als ob ein städtischer Wettkampf in Gang wäre und die Leserschaft nur über den neusten Spielstand informiert sein müsste. Schade. Manchmal wünschte ich mir Journalisten, die dem Leser, im Gegenteil, seinen Horizont wieder etwas weiter aussteckten und ein bernisches Ereignis in die richtigen Proportionen zum Weltgeschehen brächten. Vielleicht bedeutet auch dies politisches Engagement, weil es ein Klima der Sachlichkeit schafft. Oder denke ich zu privat, vielleicht sogar zu mütterlich-pragmatisch? Ich kann es mir zuhause, in einem Familienstreit, eben nie leisten, nur Zensuren zu erteilen oder die Schuldigen zu küren. Ich muss mich, im Gegenteil, damit befassen, wie wir weiter mit einander leben können, ohne schamrot zu werden vor einander. Das heisst unter anderem auch, dass ich nicht nur meiner eigenen Meinung Rechnung tragen kann, sondern auch fremden, und sei dieses «fremd» rein generationenmässig. Mein Vater, zum Beispiel, kann überhaupt nicht verstehen, warum ich mich mit Zaffaraya befasse: Was wollen diese Jungen noch alles? Er hat seinerzeit im Generalstreik vermittelt und uns also an den Fingern aufgezählt, was seither alles erreicht wurde in unserem Land. Auf eine einprägsame Formel gebracht: In der bürgerlichen Schweiz sind heute die Forderungen der russischen Revolution weitgehend verwirklicht - nur haben wir keine Diktatur in Kauf nehmen müssen dafür. Allerdings behauptet mein Jüngster: Trotzdem sei die Arbeit als solche hier kein Massstab geworden; es zähle nur das Geldverdienen - gerade das habe die Zaffaraya-Affäre erhärtet: Diese jungen Leute hätten nämlich versucht, sich selber durchzubringen mit untauglichen Mitteln, zugegeben aber ohne der öffentlichen Fürsorge auf dem Sack zu liegen. Wie habe man es ihnen gelohnt? Nur mit Bürgern zweiter Klasse wage man so umzuspringen. Was heisse heute eigentlich «Heimat»? Ich könnte einmal mehr anfangen mit meinen geistigen Aufräumarbeiten: meinem Jüngsten von AHV-Beiträgen reden, von Steuern, von der illegalen Landnahme. Trotzdem klebt die Frage «was heisst heute eigentlich Heimat» weiter an mir. An meiner ganzen Generation: Wir sind zwar finanziell wesentlich weiter gekommen als unsere Eltern, aber mit unserem Heimatgefühl in Bern stimmt etwas nicht mehr ganz. Oder anders herum gesagt: Es hat auch je länger desto mehr mit unserer finanziellen Situation zu tun, Arbeit ist kein Massstab. Erinnern Sie sich an Frau Muster? Ihre Geschichte stand nicht in Zusammenhang mit Zaffaraya im «Bund» zu lesen, sondern schon Anfang Oktober. Frau Muster hat, als Witwe, fünf Kinder grossgezogen und nebenbei immer gearbeitet. So musste sie nie einen Rappen öffentlicher Unterstützung in Anspruch nehmen. Das war ihr Stolz. Als sie 59 Jahre alt war, wurde sie entlassen, weil die Firma in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war. Mit Fr. 735 - Witwenrente kann man in Bern aber nicht mehr leben, heutzutage, man müsste schon bei der Fürsorge anstehen und stempeln gehen. Frau Muster hat es vorgezogen nach Spanien zu zügeln. Da kann sie zwar die Sprache noch nicht und kennt niemanden. Aber die Südländer gelten als warmherzig und gastfreundlich. Frau Muster wird bei ihnen wieder sein, wer sie in Bern einmal In Zaffaraya unten ist viel geredet worden von mehr Menschlichkeit, vom Eingehen aufeinander. Sogar, wenn es Chaotengewäsch war: Hat es nicht präzis mit Frau Muster zu tun? Und mit unserer eigenen Angst vor der zunehmenden Heimatlosigkeit in Bern? Es steht eine Rezession vor der Tür, und Zaffaraya ist ein Symbol. Erst für die Jungen. Aber vielleicht würden wir Bürgerlichen dem Gemeinderat etwas weniger inständig gratulieren zu seinem Mut, bei 25 jungen Leuten durchzugreifen, wenn wir über die eigene Nase hinaussehen könnten. Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen, ist bei uns genauso schlecht ausgebildet wie beim Gemeinderat: Er wagt deswegen nicht, Fehler zu machen, bewußte. Vielleicht müsste er einmal in der alten Chronik blättern, um schwarz auf weiss zu sehen, dass ein schlauer, innenpolitischer Schachzug die Regierung nicht Glaubwürdigkeit kostet. Schon im 15. Jahrhundert musste der Rat nämlich staatspolitische Klugheit über das Recht stellen. Damals haben junge Leute derart über die Stränge geschlagen, dass die heutigen Demonstranten sich wie Lämmer ausnehmen dagegen. 1477 gründete eine wüste Horde sogar eine «Gesellschaft vom thörichten Leben» und versetzte damit die ganze Schweiz in Aufruhr. Die unbequemen «Thoren» zogen im Februar 1477 auf Bern zu. Der Rat zog 3000 Mann Truppen zusammen, beschloss aber, sie den Jungen nicht entgegenzuschicken und die Stadt auch nicht zu verbarrikadieren. Erst wolle man einmal verhandeln. Die Chronik berichtet, dass die Jungen in der Nähe von Burgdorf schliesslich zusicherten, in Bern niemanden zu schädigen, worauf ihnen der Rat nicht nur freien Durchlass gewährte, sondern sie auch noch reichlich bewirtete in der Stadt. Diese 500 Jahre alten Vorkommnisse lassen sich spielend mit Zaffaraya und den anschliessenden Jugenddemonstrationen vergleichen. Als «thörichtes Leben» qualifizierten die meisten Berner das Experiment an der Aare unten sowieso ab, und gerade diese Leute wollen jetzt sicher nicht ausrechnen, was «reichlich bewirten» für den heutigen Gemeinderat eigentlich hiesse. Die Reithalle zu eröffnen war schon teuer genug - also Strich drunter. Ich glaube nämlich nicht mehr, dass ich mit den richtigen Argumenten überzeugen kann. Es hat nie an guten Argumenten für Toleranz Zaffaraya gegenüber gefehlt. Es fehlen Einsichten. Aber die Meinungen sind jetzt derartig polarisiert, dass die einen nur immer wieder behaupten, es habe sich um eine echte Jugendkultur gehandelt, um eine ganz neue Lebensauffassung, Und die andern können nur höhnen: Neue Lebensauffassung? Dieses Vegetieren im Dreck? Eigentlich ist es präzis, wie in der Geschichte von Adolar: Dem einen ist ein Floh Existenzgrundlage, dem andern Ungeziefer. Kennen Sie die Anekdote? Was haben Sie gesagt, als Zaffaraya eingeebnet wurde? |