Leben und schreiben

1936 wurde ich in Bern als Einzelkind geboren. Und doch war ich keines: Mein Gitterbett gehörte dem Bruder, mein Spielzeug war sein Spielzeug, sein Portrait thronte über dem Klavier, und beim Essen lächelte er im kleinen Fotorahmen über meine Tischmanieren, ein Toter sieht alles.

Kindheit,  ein Theaterstück

Lesebeispiel

Nach Kriegsausbruch zeichnete sich die Wende ab: der Bruder verschwand vom Tisch, Emigranten sassen mit uns beim Essen und sorgten sich um Lebende. Ich spürte, wie sich der Horizont von Vater und Mutter drüber auftat. Abends waren sie Dauergäste im Theater, nach der Vorstellung brachten sie neue Emigranten mit nach Hause, Sprachfetzen flogen durch die Wand an mein Gitterbett. Was bedeutete ‚Verschickung’, was hiess ‚Lager’?

Neujahrsbrief an den Vater

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1944 wurde ich eingeschult und sprach besser Hochdeutsch als die anderen Kinder. Das half, allerhand Ungenügen zu überspielen. Für den Rest war Lehrer Schädeli besorgt.

Lehrer Schädeli

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1956 trat ich in die Dolmetscherschule Zürich ein. Am meisten geprägt haben mich die intensiven Freundschaften dieser Jahre. Vielleicht sind sie das Einzige, was sich aus der Zürcher-Zeit bis heute nicht verloren hat.

Immergrün

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Nach dem Diplomabschluss als Presse- und Geschäftsübersetzerin legte ich ein Auslandsemester an der Sorbonne Paris ein.
Aber erst viel später wurde Paris zu ‚meiner’ Stadt, nein, zu ‚unserer’: Mein Mann und ich wohnten nie lange dort, aber immer wieder. Das gab auch den Anstoss zu meinem ersten Schreibversuch: Ich schenkte Urs zu seinem 40. Geburtstag Zehn Pariser-Skizzen.

Vue imprenable

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Ein britischer Student an der Sorbonne half, in London einen Job zu finden, der mir genügend Zeit liess, mich aufs Cambridge Proficiency vorzubereiten. Ich ergatterte eine Arbeitsbewilligung als student trainee und kam für acht Monate im Bookshop der ‚Times’ unter.

Bloody Foreigners

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An der Uni Perugia in Italien, bereitete ich mich auf mein Zusatzexamen für italienische Literatur vor und jobbte nebenbei als Übersetzerin in der Schokoladenfabrik Perugina.

Buitoni

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Die Geschäftsleitung vermittelte mir eine Stelle bei der Mutterfirma in Rom: Ich arbeitete als Hausdolmetscherin für Buitoni International, bis mir von der italienischen Unesco-Kommission der Posten einer Kongressorganisatorin
angetragen wurde: Anfang 1960 fand in Sizilien die dritte europäische Unesco Konferenz für den Frieden statt.
Zwei Monate später verunfallte mein Vater. Ich musste Hals über Kopf in die Schweiz zurück und versuchte, die väterliche Druckerei in Gang zu halten. Die 25 Mitarbeiter unterstützten mich, obgleich ich zu jung, zu branchenfremd und noch dazu eine Frau war: Die Angst um den Arbeitsplatz siegte über die Vorurteile.
In Bern traf ich 1961 Urs Beutler wieder. Wir waren Nachbarskinder gewesen, die sich zuerst wegen des markanten Altersunterschieds nicht recht zur Kenntnis genommen hatten, und später, weil Urs zehn Jahre lang in Lausanne gearbeitet hatte und schliesslich in New York. Jetzt waren wir beide zurückgekehrt, und ein paar Monate später heirateten wir. Beide waren und blieben wir zu Hause beieinander, bis zu seinem Tod 2007.

Heimat

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1963 Geburt des Sohnes Martin und Beginn der freien Mitarbeit in Italienisch und Deutsch bei Radio International.
1965 Geburt des Sohnes Philipp
1967 Geburt der Tochter Annette.

Guter Mond du gehst so stille

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1974 wechselte ich als freie Mitarbeiterin zu Radio DRS.
1976 publizierte ich den ersten Erzählband, Flissingen fehlt auf der Karte.

Die Sache mit Flissingen steht nicht fest

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Im selben Herbst wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Im Laufe der nächsten Monate lernten meine Familie und ich das Wort ‚Kranksein’ buchstabieren, jedes für sich allein.

Blick durchs Fernglas

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Ich musste aus den Redaktionen bei Radio DRS ausscheiden. Aber schon während meiner Rekonvaleszenz, trat die Abteilungsleiterin an mich heran mit dem Vorschlag, eine Sendung zum 80. Geburtstags des deutschen Schriftstellers Walter Mehring zu gestalten.

Fremde Freunde

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Der greise Autor war verbittert über Politik und Literaturbetrieb, beide liessen ihn links liegen, und doch trug er die ganze Welt noch in sich, für die es bald keine Zeugen mehr gab. Wir machten in Zürich drei Tage lang Interviews in einem Hotelzimmer, immer nur stundenweise – gebrechlich waren wir beide.

Ein Wolf beisst sich die Zähne aus

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Ich war noch nicht ganz fertig mit dem Schneiden der Tonbänder, als eine Metastase entdeckt wurde. Der zweiten Operation folgten lange Wochen der Bestrahlung.
Vielleicht fand da die Begegnung statt, die für mein Weiterleben und Weiterschreiben am entscheidendsten war: Als ich mich dem Kranksein überlassen wollte, hat mich der italienische Herrenschneider Giuseppe Provinzano zur Ordnung gerufen. Nach seinem Tod auferstand der Lehrmeister als ‚Signor Pedroni’ im Roman Fuss fassen und ein zweites Mal im Theaterstück Das Marmelspiel.

Ich lebe schon lange heute, Signora

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1979 wurde mein erstes Theaterstück uraufgeführt Das Blaue Gesetz. Es stellte die Frage, ob Sterben zur staatlich verwalteten Gnade werden könnte.

Das Blaue Gesetz

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1980 erschien der Roman Fuss fassen. Er ist wohl das einzige Buch, das zu schreiben für mich existenziell war: Ich wollte wieder Fuss fassen als Autorin, indem ich frei mit meiner Krankheitserfahrung umging und ihr eine Form gab.

Bestsenliste Bücherpick

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1981 entstand in enger Zusammenarbeit mit Roni Segal und ihrer acht-köpfigen Ballett-Truppe das Libretto Der Traum. Ich hatte es mir lange gewünscht, einen Theatertext nicht in der Schreibtisch-Isolation zu entwickeln.
Der Traum entstand, während die Truppe probte, ich erzählte die Geschichte ihren Bewegungsabläufen entlang. Die Aufführung fand im Theater National in Bern statt.
Im selben Jahr starb Walter Mehring. Ich machte Interviews mit Autoren - u. a. mit Friedrich Dürrenmatt - und mit Chanson-Interpretinnen aus den Berliner Jahren Mehrings, um sein Leben neu auszuleuchten. Der Titel der Gedenksendung nahm Bezug auf sein Lebensfazit: Es gibt kein Zurück

1984 erschien mein zweiter Roman, Die Wortfalle. Die Thematik der Ehe, die zwar funktioniert, aber aufhört zu leben, die Thematik der Familie, wo sich ständig alle im Auge haben, aber füreinander erblinden, prägt meine Arbeit bis heute.

Die Wortfalle

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Im selben Jahr wurde ich von Radio DRS angefragt, ob ich mitarbeiten würde beim sogenannten Wort zum neuen Tag. Ich hatte die Rubrik selber nie gehört, aber es reizte mich, in knapp drei Minuten ‚etwas zu sagen’, was mich selber familiär und politisch beschäftigte.
Diese kleinen, am frühen Morgen ausgestrahlten Texte, lösten beim Publikum mehr aus, als jede andere Arbeit von mir. Das hat mich zuweilen gefreut und häufig irritiert: Ich verstand die Texte zum neuen Tag als ein Nebenbei, obgleich sie über zehn Jahre weg auch in Buchform erschienen sind.
1984 bekam ich von Kanton und Stadt ein Stipendium zugesprochen: Es ermöglichte mir, eine Saison lang Hausautorin am Stadttheater Bern zu sein. Zum Auftakt setzte ich mich als Regiehospitantin in die Proben zu Macbeth.

Macbeth oder ein Regisseur zu Gast in Bern

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Zwischen den drei Inszenierungen, die ich als Regieassistentin begleitete, entstanden erste Entwürfe zu einem neuen Stück. Es wurde von den beiden Dramaturgen betreut und1985 vom Intendanten zur Uraufführung gebracht am Stadttheater Bern: Das Marmelspiel.

Das Marmelspiel, Szene 22

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Kurz später wurde die Crew aus politischen Gründen genötigt, abzudanken. Das ist zwar courant normale an Schweizer Bühnen, aber für mich hiess es, dass die kaum erwachte Arbeitsbeziehung wieder einschlummerte.
Der Verlag der Autoren forderte mich auf, Mini-Dramen zu schreiben für eine Anthologie. Sie wählten eines aus: Die unverstandene Frau – das Drama bestand aus einem einzigen Satz.

Die unverstandene Frau

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Viele deutsche Theater inszenierten diverse Minidramen. Meines war immer dabei – nie habe ich einen kostbareren Satz geschrieben: Die Mini-Dividenden flossen jahrelang.
1987 erkrankte mein Mann schwer, kurz nachher verunfallte unser ältester Sohn. Ich war ausser Stande zu arbeiten. Es gelang erst wieder, als der Schock überwunden und mein Mann und ich eine Weile in Berlin wohnen konnten, im Kutscherhäuschen der Gruppe Olten. Da entstanden die ersten Entwürfe für Das Bildnis der Doña Quichotte. 1989 erschien der Erzählband und hielt sich - als einziges meiner Bücher - wochenlang auf der Bestsellerliste. Die Kritiken reichten vom Jubel bis zum Verriss. Das war eine gute Einstimmung auf das Presse-Echo, das mein Stück Lady Macbeth wäscht sich die Hände nicht mehr auslöste: Es wurde 1994 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.

Lady Macbeth wäscht sich die Hände nicht mehr

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Der Verlag der Autoren in Frankfurt und ich entschieden gemeinsam, uns von der Inszenierung zu distanzieren. Offenbar wurde es als ungehörig empfunden, vielleicht besonders, weil ich die erste Frau war, deren Stück das Schauspielhaus auf der grossen Bühne zeigte.
Fast zeitgleich erschien 1994 mein Roman Die Stunde, da wir fliegen lernen. Er ging im allgemeinen Medienrummel ums Theaterstück beinah unter und hat für mich doch einen wichtigen Schritt bedeutet: Ich erzählte aus der Perspektive eines Jugendlichen, der nicht zum jungen Mann werden wollte.

Die Stunde, da wir fliegen lernen: Der Vorleber

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1995 wurde klar, dass - als Spätfolge der Bestrahlungen - mein Kieferknochen zerfiel. Die Beschwerden breiteten sich aus, bis man mir 2001 einen neuen Kiefer einsetzte. Die Erholungszeit war lang, sie brachte neue Eingriffe und unvorhergesehene Zwischenfälle mit sich. Ich lebte und schrieb auf Sparflamme. Aber es war gut, weiter zu leben und weiter zu schreiben.
Wie es auch heute wieder gut ist, obgleich ich seit 2007 allein lebe. Fast kommt es einer Wiedergeburt als Autorin gleich, dass ich nach 15 Jahren Schweigen den Erzählband "Schwarzer Schnee" veröffentlichen konnte.

Schwarzer Schnee: Kleine Auferstehung

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